Das Urteil gegen Assange ist ein Angriff auf den Journalismus
Wikileaks-Gründer Julian Assange wird an die USA ausgeliefert. Dieses Urteil trifft die Pressefreiheit direkt ins Herz. Und entlarvt das leere Geschwätz des Westens von Menschenrechten.
Ein Kommentar von Daniel Ryser, 10.12.2021
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Der 10. Dezember ist der offizielle Tag der Menschenrechte. Der 10. Dezember 2021 ist auch der Tag, an dem am sogenannten «Demokratie-Gipfel» des US State Department geladene Journalisten und Uno-Sonderbotschafterinnen über die zentrale Bedeutung von Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sprechen. Der 10. Dezember 2021 ist zudem ebenfalls der Tag, an dem der philippinischen Journalistin Maria Ressa und dem russischen Journalisten Dmitri Muratow für ihre Arbeit der Friedensnobelpreis verliehen wird, «für ihre Efforts, die Meinungsfreiheit zu schützen, die eine Grundvoraussetzung ist für Demokratie und Frieden». Es ist offensichtlich: Die beiden mutigen Journalisten könnten genauso gut in Auslieferungshaft sitzen. Denn der 10. Dezember 2021 ist auch der Tag, an dem offenbar wird, wie politisiert diese Themen sind, wie lachhaft das letztlich alles ist, das Gerede von Pressefreiheit und Menschenrechten, weil sie offenbar nur dann gelten, wenn es einem gerade nützt.
Dieselben Leute im State Department, die sich für Pressefreiheit auf den Philippinen und in Russland einsetzen, fordern die Inhaftierung und drakonische Bestrafung von Julian Assange, weil er ein Verräter sei.
Das höchste Gericht Englands hat heute dem Auslieferungsgesuch der USA stattgegeben – ein fairer Prozess sei Assange garantiert, so das Gericht.
Im Berufungsverfahren gegen Julian Assange wurde eine simple Frage verhandelt: Wäre seine Auslieferung an die USA gleichzeitig sein Todesurteil? Die Republik war in London bei «Government of USA v. Assange» vor Ort.
Ein fairer Prozess also. Das ist, man kann es wirklich nicht anders sagen, ein Witz angesichts von Umständen, die vor Gericht gar nicht mehr behandelt wurden. Etwa dass die USA darüber diskutierten, Assange zu ermorden. Oder in Anbetracht des Kerns der Debatte um Assange, der vor Gericht ebenfalls gar kein Thema war, den aber der Uno-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer 2020 in der «Republik» aufs Tapet gebracht hatte – weswegen seine Kritik dann auch um die Welt ging, weil das Unrecht und die Dimension in diesem Fall dank Melzers Hartnäckigkeit nicht mehr auszublenden waren:
Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegsverbrechen und Folter werden nicht verfolgt. Youtube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit routinemässiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt.
Das Signal an diesem Tag ist klar: Wenn Russland oder China Menschenrechte ignorieren, dann spielt sich US-Präsident Joe Biden zum Helden aufgeklärter Werte auf. Wenn ein Journalist die Interessen der USA gefährdet, wenn er das US-Militär blossstellt, dann wird er in einem Hochsicherheitsgefängnis für seinen Journalismus schleichend gefoltert.
Man empört sich über Alexei Nawalny und schweigt über Julian Assange – es geht längst nicht mehr um Menschenrechte, sondern nur noch um politische Interessen. «Dieser Kampf ist nicht vorbei», twitterte Wikileaks-Chefredaktor Kristinn Hrafnsson. Der isländische Journalist ist Mitglied im renommierten Frontline Club, einem Memberclub für Reporter, wo auch Jamal Ahmad Khashoggi Mitglied war, der im Oktober 2018 vom saudischen Geheimdienst ermordet wurde.
«Es ist an der Zeit, die USA und UK als das zu benennen, was sie sind», twitterte die italienische Journalistin Stefania Maurizi nach dem Urteil. «Der Assange- und Wikileaks-Fall zeigt, dass sie nicht besser sind als andere Regimes, wenn es um Journalismus geht, sie sind einfach weniger brutal. Aber der Punkt ist: Es ist gar nicht nötig, Journalistinnen zu ermorden, wenn man sie auch einfach in den Selbstmord treiben kann.»
Wenn kein Wunder geschieht, wird der Publizist Julian Assange an die USA ausgeliefert. Auch wenn das von allen namhaften Menschenrechts- und Medienorganisationen scharf kritisiert wird. Das höchste Gericht in London vertraut den nicht bindenden «diplomatischen Garantien» der USA, wonach Julian Assange nicht in Isolationshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis verschwinden werde – Garantien desselben Landes, das von Assange blossgestellt wurde und das die von ihm publik gemachten Kriegsverbrechen nie verfolgt hat.
Exakt am Tag der Menschenrechte kann man es dann gerade auch als Journalist nicht mehr hören, das leere Geschwätz von Pressefreiheit und Menschenrechten. Der «Tag der Menschenrechte» ist nun der Tag, an dem England und die USA klargemacht haben, dass bestraft wird, wer ihre Kriegsverbrechen aufdeckt, dass Pressefreiheit und Menschenrechte nur noch gelten, wenn sie die USA nicht bedrohen. Es ist der Tag, an dem offenbar wird, dass Menschenrechte auch ein Vehikel sind, um eigene politische Interessen durchzusetzen. Es ist ein dunkler Tag für den Journalismus, der mehr will, als Pressesprecherin von Regierungen zu sein.
Vor zwanzig Jahren übrigens bewertete das höchste Gericht Englands in einem anderen Auslieferungsverfahren die Sache diametral anders als heute. Damals ging es ebenfalls um die Frage, ob der Angeschuldigte eine Auslieferung und ein Gerichtsverfahren aus medizinischen Gründen überstehen würde.
Nein, auf keinen Fall, urteilte dasselbe Gericht, und entliess den chilenischen Diktator Augusto Pinochet aus seinem Londoner Hausarrest.