Der Ekel

Wer an einer Körperdysmorphen Störung leidet, sieht sich als entstellt. Oft wird die Krankheit jahrelang nicht erkannt. Eine Geschichte über das Streben nach dem «idealen Körper» und was unsere Gegenwart damit zu tun hat.

Von Theresa Hein (Text) und Rita Palanikumar (Bilder), 30.04.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 27:09

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Wer die Augen schliesst, sieht zwar nichts mehr, sich selber aber auch nicht: Lisa, zu Hause.

Es gibt Menschen, die sich am liebsten vor allen anderen verstecken möchten, vor allem vor ihrem schlimmsten Feind. Weil sie sich aber selbst der schlimmste Feind sind, wird das mit dem Verstecken ziemlich schwierig.

Wenn Menschen sich so abstossend finden, dass sie daran verzweifeln und deshalb psychisch krank werden, nennt man das Körper­dysmorphe Störung, abgekürzt KDS. Zusammen­gefasst kann man sagen, die Betroffenen bilden sich ein, etwas an ihrem Körper oder Gesicht sei entstellt.

Die Frauen, mit denen ich für diese Recherche sprach, haben wir auf ihren Wunsch anonymisiert. Die erste der beiden Frauen nennen wir im Folgenden Lisa Becker, im wahren Leben heisst sie anders, die Republik hat sie mehrmals persönlich zu Gesprächen getroffen.

Bei Lisa war das Erste, was sie an sich sehr hässlich fand, ihre Nase. Dann die Augen­ringe, dann die ganze Gesichts­form, dann die Hände.

Mit 14 geht sie zu einer Kinder­psychiaterin wegen der Schnitte, die sie sich zufügt, mit 17 hat sie ihren ersten Freund. Beim Sprechen legt sie die Hand übers Gesicht, weil sie denkt, alle würden auf ihre Nase starren. Ihre Gedanken drehen sich in jeder freien Sekunde um ihr Aussehen, sie vergleicht sich immer stärker mit anderen. In ihrem ersten Job als Kauffrau verschwindet sie, wie sie sagt, 10-, 15-, 20-mal am Tag auf die Toilette und kontrolliert ihr Gesicht, ob die Schminke noch sitzt, wie das Licht darauf fällt.

Lisa sagt, wenn ich in den Spiegel geschaut hab, war es, als hätte ich einen Riesen­fehler gemacht. Und auf der Brust habe ich einen Druck gespürt, eigentlich immer.

Ich hab das gar nicht anders gekannt.

Heute ist sie 28 Jahre alt. Das Gefühl mit dem Fehler vor dem Spiegel begleitet sie schon ein halbes Leben. Aus dem Druck auf der Brust wurden Magen­krämpfe, sie nahm zehn Kilo zu, wieder ab, wieder zu. Sie entwickelte zwanghafte Ticks und eine schwere Depression.

Sie erzählt, das Problem an sich sei gar nicht, was genau man so abstossend an sich finde. Sondern dass die Gedanken so unfassbar viel Lebenszeit aufsaugen würden. Und dass man mit niemandem darüber reden könne.

Lisa sagt, viele denken dann auch einfach, man hat einen Schaden.

Psychische Krankheiten, die nicht (zwangsläufig) aufgrund traumatischer Erlebnisse entstehen, sondern aufgrund von gesellschaftlichen und Umwelt­einflüssen, aufgrund der schlechten Behandlung (bis hin zur Misshandlung) durch die Familie oder Bezugs­personen, sind immer da. Sie verschwinden nicht in Krisen­zeiten oder wenn die Welt­bühne sich verändert, in den Corona-Jahren wurden sie häufig schlimmer.

Was Lisa krank gemacht hat, war die Vorstellung, einem bestimmten Körper­ideal nicht zu genügen.

Die langen blonden Haare und die blauen Augen fand Lisa nie schön. Zumindest nicht an sich selbst.

Es ist bekannt, dass die Bilder­flut der Gegenwart und der Aufruf zur Selbst­darstellung der sozialen Netzwerke für die Gesundheit problematisch werden können. Der Konzern Meta (vormals Facebook) weiss, dass er zur Verschlechterung des Körper­bildes seiner Nutzerinnen beiträgt (und tut erwartbar wenig dagegen). Nur wäre es zu einfach, Facebook als die alleinige böse Macht heran­zuziehen, als einzigen Schuldigen. Der Schönheits- und Jugendkult, in dem wir uns jeden Tag bewegen, den wir bewusst und unbewusst bedienen und reproduzieren, braucht keine Algorithmen.

Er ist da, wenn wir Make-up kaufen.

Er ist da, wenn wir ins Fitness­studio gehen.

Und er ist da, wenn wir unsere Kinder mehr für ihr Aussehen loben als für Charakter­eigenschaften; wenn wir also unsere Töchter ständig daran erinnern, wie süss sie aussehen, anstatt daran, wie lustig sie sein können.

Immer mehr Menschen, schreibt Steffen Handstein, der Vorsitzende der Vereinigung der Deutschen Ästhetischen Chirurgen, wünschten sich ein verjüngtes und attraktives Äusseres, wodurch wiederum die Nachfrage nach ästhetischen Eingriffen in vielen Bevölkerungs­gruppen ansteige. In Fachkreisen spricht man auch vom «Selfie-Boom».

Schönheit und Konformität werden belohnt, jedes Kind lernt das.

Dass das nicht ungefährlich ist, weiss man auch, zumindest ahnt man es.

Nur, wie diese Gefahr konkret aussehen kann, darüber weiss man abseits von Stichworten wie Mager­sucht, Depression oder eben auch Körperschema­störungen dann doch recht wenig.

Am ansprechbarsten für Fotos, Videos, unachtsam geäusserte Worte, die das Bedürfnis nach dem Ideal­körper hervorrufen und multiplizieren, sind Menschen, die in ihrem Selbst­bild noch wenig oder nicht sehr gefestigt sind. Junge Menschen, Heran­wachsende oder Menschen mit einem geringen Selbstwert­gefühl.

Menschen also, von denen man hofft, dass sie schon irgendwie und irgendwann lernen werden, dass Schön­heit nicht alles ist.

Aber was, wenn nicht?

Patienten mit einer Körper­dysmorphen Störung schämen sich sehr, deswegen hat die Republik lange nach Menschen gesucht, die über ihre Erfahrung sprechen – obwohl die Krankheit verbreiteter ist, als man meinen könnte. Was man nach den Gesprächen mit zwei Frauen, mit Spezialisten und einem Angehörigen begreift: Mit einer kurzen Verstimmt­heit morgens vor dem Spiegel – etwa, wenn man ein graues Haar an sich entdeckt oder sich über einen Pickel ärgert – hat die Körper­dysmorphe Störung sehr wenig zu tun.

Komplimente aus Mitleid

Lisa Becker ist sehr wahrscheinlich im Teenager­alter das erste Mal krank geworden. Jetzt sitzt sie mir im Zürcher Niederdorf an einem Cafétisch gegenüber. Auf ihrem Smart­phone zeigt sie mir eine Liste, die sie angelegt hat. Es ist einer der ersten richtig kalten Winter­tage 2021, wir sitzen draussen. Lisa trägt eine dicke Leder­jacke und einen gemusterten Schal. Die hellen Haare fallen offen über ihre Schultern, in der Nase steckt ein kleines Piercing.

Man könnte jetzt hinzu­fügen, dass sie hübsch ist, um noch mehr Beschreibung zu liefern, aber da sind wir schon beim Problem: Auf die objektive Wahrnehmung der Aussen­welt kommt es bei einer Körper­dysmorphen Störung gar nicht mehr an. Wenn man zu einem Menschen mit einer Körper­dysmorphen Störung sagt, dass man ihn schön findet, glaubt dieser Mensch das meistens nicht, sondern denkt, das Kompliment werde aus Mitleid geäussert.

Das Unter­bewusstsein hat sich bei diesen Menschen schon einen so tiefen Tunnel in die vermeintliche eigene Hässlichkeit gegraben, dass alles, was dagegen gesagt wird, auf taube Ohren stösst.

Wenn man sich vor etwas ekelt, glaubt man automatisch, alle anderen Menschen müssten den Gegen­stand des Ekels als ebenso abstossend empfinden. Viele Menschen kennen das von Spinnen oder Nackt­schnecken oder von bestimmten Gerüchen. Was Lisa lange plagte, war der Ekel vor sich selbst, besonders vor ihrem Gesicht. Dass das ernsthaft jemand ganz anders sehen könnte, konnte sie sich lange nicht vorstellen.

Am Cafétisch huschen die Augen der jungen Frau übers Smartphone-Display. Sie liest vor, was sie sich, als sie noch sehr unter ihrem Aussehen litt, gerne alles operieren hätte lassen. Über der Liste mit den Schönheits-OPs steht «logische Prioritäten». Hinter den Eingriffen stehen, akribisch recherchiert, die Kosten.

Lisa liest laut: Augenringe 700 Franken, Kinn 600 Franken, Fett absaugen 1000 Franken, Micro­blading 600 Franken, Fett­umverteilung 7000 Franken. Als ich mich räuspere, weil ich weder weiss, was Micro­blading, noch was eine Fett­umverteilung ist, fällt sie mir schon ins Wort:

Weil ich wollte den Bauch und die Hüften weghaben. Man kann das Fett dann woanders reintun, zum Beispiel in die Brüste, sagt Lisa.

Ich nicke.

Brustwarzen­pigmentierung, liest sie vor.

Sie lacht, wedelt mit der Hand wie ein Scheiben­wischer vor ihrem Gesicht und macht dann weiter.

Schlüsselbeine.

Venen.

Muttermale.

Gesichtslifting.

Augenfalten.

Kinn.

Augenlider.

X-Beine.

Während Lisa vorliest, frage ich mich, ob es überhaupt einen menschlichen Körper­teil gibt, mit dem man nicht unzufrieden sein kann, den man nicht künstlich verschönern oder optimieren könnte. Vermutlich nicht.

Lisa erzählt einmal, dass ihr, wenn sie sich ein Herz fasse und Freundinnen von ihren Gedanken erzähle, oft nicht geglaubt werde.

Die Psychotherapeutin Dr. Marie Drüge, die an der Universität Zürich arbeitet und zur Körper­dysmorphen Störung forscht, sagt, diese Haltung sei sehr verbreitet.

Jeder Mensch kennt das Gefühl, sich nicht schön zu fühlen, sagt Drüge.

Aber wenn sie acht Stunden am Tag vor dem Spiegel stehen, ihr Sozial­leben und ihre Arbeit vernachlässigen, weil ihr Körperbild sie so in Anspruch nimmt, ist das eine ganz andere Dimension.

Oder wenn sie körperliche Symptome wie Magen­krämpfe bekommen, oder Depressionen.

Weil es dennoch schwer vorstellbar ist, bitte ich Lisa bei unseren Treffen mehrmals, mir zu beschreiben, wie sich das genau anfühlt.

Einmal sagt sie, ich habe einfach das Gefühl, ich bin untragbar.

Einmal sagt sie, es ist, als würde man sich den ganzen Tag sehr schämen.

Einmal sagt sie, es ist so ein ganz starker Ekel vor einem selber, dass einem übel wird.

Und einmal erklärt sie: Man schaut in den Spiegel und hat Angst, dass man nicht genügt. Dem Partner und auch der Gesellschaft.

Lisas Partner Tim (auch seinen Namen haben wir geändert), mit dem sie seit ein paar Jahren zusammen ist, fällt bald nach dem Kennen­lernen auf, dass etwas nicht stimmt. In der gemeinsamen Wohnung, in die sie ziehen, steht Lisa viel und lange vor dem Spiegel. Manchmal findet er sie auf dem Rand der Bade­wanne balancierend, wenn er nach Hause kommt, weil sie nur aus diesem Winkel ihren ganzen Körper im Spiegel betrachten kann. Oder er wacht nachts vom Lichtschein ihres Handys auf, auf dem sie wie süchtig Bilder von hübschen Gesichtern auf Instagram und Pinterest durch­scrollt. Oder weil sie OPs recherchiert und Kosten kalkuliert, die sie in ihre Liste aufnimmt.

Wochenenden vor dem Spiegel

Tim sitzt an einem kalten Februar­tag am Rande des Pfäffikersees und erzählt. Als Lisa ihn fragte, ob er mit mir für den Artikel über seine Erfahrungen als Angehöriger sprechen würde, hat er nicht lange gezögert.

Ich hab nicht gewusst, was das ist, sagt er.

Was das Schlimmste war?

Aufwachen in der Nacht und merken, dass sie weint. Oder überhaupt, dass sie diese OP-Bilder anschaut.

Tim probiert verschiedene Dinge aus: Er macht ihr Komplimente, sagt ihr, wie schön sie sei, an anderen Tagen ignoriert er ihre Klagen.

Ich bin auch hässig geworden, sagt er, weil ichs nicht verstanden hab.

Aber das hat auch nichts gebracht. Und wenn ich es ignoriert hab, hab ich mich gemein gefühlt und sie ist auch wütend geworden.

Ich finde sie doch wunder­schön.

Ein Keramikvogel in Lisas Wohnung, der sie als Alter Ego durch die Krankheit begleitet hat: «Er hat mich irgendwie an mich erinnert.»

Als Lisa 24 ist, ist ihre Krankheit auf einem Höhepunkt. Das Ausgehen mit Kolleginnen und das Tanzen, das sie eigentlich so liebt, machen ihr keine Freude mehr. Ständig denkt sie nur darüber nach, wer besser aussieht als sie. Sie weint viel. Mal hat sie Angst vor dem Aufstehen, weil sie dann ins Bad und sich im Spiegel ansehen muss. Wenn sie doch in den Spiegel schaut, wird ihr schlecht. Der Druck auf der Brust und das, was Lisa Ekel nennt, nehmen zu. Und dann gibt es wieder Wochen­enden, da geht sie gar nicht raus, sondern steht den ganzen Nach­mittag vor dem Spiegel und betrachtet ihr Gesicht. Sie legt die Finger darauf, zieht an ihrem Kinn, bedeckt ihre Nase, zerrt an ihren Wangen.

Wäre ihr Leben nicht viel besser, wenn sie ein kleineres Kinn hätte? Wären nicht alle ihre Sorgen vorbei, wenn ihre Nase feiner aussähe? Ist sie nicht viel, viel hässlicher als andere Menschen? Und dann: Wieso nur ist das so? Warum ist gerade sie so hässlich?

Bei jedem Blick in die Scheiben eines Autos oder eines Geschäfts kommen die Gedanken. Zu Hause, vor dem Spiegel. Sogar im Rück­spiegel, während sie Auto fährt, schaut sie sich lange prüfend an. Eine Angewohnheit, die ihren Freund Tim wahn­sinnig macht, weil sie so gefährlich ist.

Ich hab mich nicht lösen können, sagt Lisa heute.

Da dachte ich dann, mir kann einfach niemand helfen, diese dauernden Gedanken gehen nie mehr weg.

Lisa sagt von sich, sie habe im echten Leben gut funktioniert, eine Ausdrucks­weise, die man bei psychisch Erkrankten häufiger hört. Sie spricht vom realen Leben, in dem sie allen äusserlichen Verpflichtungen nachgekommen ist, in der Lehre, später in der Ausbildung, bei sozialen Terminen. Und von dem, was in ihrem Kopf ablief, wie in einem zweiten Leben, von der verzerrten Wahrnehmung und einer so raumgreifenden Hilflosigkeit, dass sie heute, nach einer erfolgreichen Therapie, sagt:

Ich hab mich gefühlt, als hätte ich gar nicht richtig gelebt.

Eine kognitive Verhaltens­therapie kann bei einer Körper­dysmorphen Störung helfen, allerdings gibt es wenige spezialisierte Behandlungen; das Bewusst­sein für die Krankheit ist noch vergleichs­weise neu. Marie Drüge, die Psycho­therapeutin von der Uni Zürich, sagt, je nach Studie würden 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung die Klassifikations­kriterien der Störung voll erfüllen.

Das hört sich nach nicht viel an. Ist aber ungefähr ein Kind pro Schulklasse. Und: 20 Prozent der Menschen erfüllen, so der Forschungs­stand, einzelne Kriterien.

Die vier massgeblichen Kriterien sind:

  1. Eine übermässige Beschäftigung mit einem imaginierten Mangel oder einer Entstellung im äusseren Erscheinungs­bild.

  2. Ein starker Leidens­druck und Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld.

  3. Sich wiederholendes zwanghaftes Verhalten wie ständiges Betrachten im Spiegel.

  4. Der Ausschluss anderer «ursächlicher Störungen», zum Beispiel einer Magersucht.

Marie Drüge bringt es in einer Studie auf den Punkt: Körper­dysmorphe Störungen sind in der Bevölkerung relativ häufig. Dass die Betroffenen oft erst zehn oder fünfzehn Jahre, nachdem die Störung das erste Mal auftritt, eine Therapie aufsuchen, sei typisch. Lediglich jeder zehnte Betroffene kommt in der kognitiven Verhaltens­therapie an. Laut Expertinnen landen viele Kranke zuerst beim Schönheits­chirurgen, der sie zwar operieren, aber die Krankheit nicht heilen kann (was unter Umständen zu noch mehr Schönheits­operationen führt). Oder die Betroffenen wagen es beim behandelnden Psycho­therapeuten jahrelang nicht, auszusprechen, was das Problem ist.

Zu sagen, für mich fühlt es sich gleich schlimm an, wie meine Nase aussieht, wie wenn mein Kind stirbt, muss man sich erst mal trauen, erklärt Marie Drüge.

Lisa Becker hat sich nie operieren lassen. Einer­seits weil sie schon gespürt haben muss, dass ihr Problem dann nicht gelöst wäre, andererseits weil sie nie das Geld dazu hatte. Ihrer eigenen Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass sie schliesslich doch noch in der richtigen Behandlung landet. Alle drei Therapien, die sie im Laufe der Jahre zuvor besucht, setzen nicht beim Problem an. Sie besucht eine Trauma­therapie wegen ihrer Selbst­verletzungen, später eine ADHS-Abklärung, noch später eine Therapie wegen allgemeiner Überlastung.

Eine Therapeutin sagt einmal zu Lisa, als die ihre Gedanken äussert, sie möchte wohl so aussehen wie eine andere Ethnie. Lisa denkt damals, genauso ist es, ich wäre gerne jemand mit dunkler Haut und dunklen Haaren, und es macht mich krank – das ist das Problem.

Trotzdem bleibt die Körper­dysmorphe Störung unentdeckt. Ein Arbeits­kollege, dem Lisa sich Jahre später öffnet und erzählt, wie krankhaft und wie viele Stunden am Tag sie sich mit anderen vergleiche, weiss, dass es dafür einen Namen gibt. Und sogar eine spezielle Therapie.

Lisa Becker geht es heute schon viel besser, sogar sehr gut.

Ein anderes Problem: Einsamkeit

Anders ist es bei einer zweiten Frau, die sich bereit erklärt, mit der Republik zu sprechen, aber ihren Namen ebenfalls nicht in diesem Beitrag lesen will, weil sie nicht möchte, dass ihre Umgebung erfährt, dass sie psychisch krank ist. Sie soll hier Svenja Meyer heissen.

Svenja Meyer erzählt, wenn sie bei der Therapie Fragebögen ausfüllt, in denen sie angeben müsse, ob sie sich einsam fühle, mache sie immer ein Kreuzchen auf der «Zutreffend»-Seite. Ihr Mann und sie haben sich so eingespielt, dass Svenja ihre Krankheit «auslebt», wenn er nicht zu Hause ist, und wenn er heimkommt, ist es kein Thema. Wenn sie traurig ist oder weint, sagt er schon mal, ah, heute bist du wieder zickig, wegen der Krankheit. Ansonsten sprechen sie nicht darüber. Es sei besser so.

Also, sagt Svenja Meyer, man ist sehr einsam.

Ähnlich wie bei Lisa Becker hat auch bei Svenja Meyer die Erkrankung vermutlich begonnen, als sie noch ein Teenager war. Sie wurde mager­süchtig, was wahrscheinlich schon eine Konsequenz der KDS war und nicht ihre Ursache. Als unschöne Folge der Magersucht gingen ihr die Haare aus. In den Jahren zwischen 20 und 30 ging es Meyer besser, sie lernte ihren Mann kennen, bekam zwei Kinder, der Haar­ausfall ging zurück. Das gestörte Körper­bild spielte keine Rolle mehr.

2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, fällt sie dann, wie sie erzählt, in ein Loch. Ihr Haar­ausfall wird schlimmer. Sie kann kaum Essen bei sich behalten, weil sie so Angst hat, eine Glatze zu bekommen. Jeden Tag muss sie sich übergeben, fast zwei Jahre lang. Ende 2021 zeigt die Verhaltens­therapie, die sie seit dem Vorjahr besucht, erste Wirkung. Sie erreicht wieder ein gesundes Gewicht.

Gesund ist Svenja Meyer deswegen noch nicht. Heute noch steht sie morgens drei Stunden im Bad. Zählt die Haare, die in den Ausguss fliessen. Bürstet und besprayt ihre Haare, bis sie sie einiger­massen erträglich findet. Sie macht das, egal ob sie das Haus verlässt oder den ganzen Tag zu Hause bleibt. Der bestimmte «Makel», das, was bei Lisa Becker lange die Nase war, sind bei Svenja Meyer die Haare. (Erkrankte Männer glauben übrigens oft, sie hätten nicht genügend Muskeln.)

Wie Lisa Becker ist auch Svenja Meyer oft fassungslos darüber, welche Macht ihre Gedanken über sie haben. Dinge, die sie früher gerne getan hat, scheinen ihr heute unmöglich. Joggen geht nicht, weil sie Angst hat, ihre Haare zusammen­zubinden; Reisen geht nicht, weil sie nicht weiss, wo und in welchem Licht zum Beispiel in einer Ferien­wohnung die Spiegel hängen.

Ich könnte mir nie vorstellen, mit den Kindern im Hallen­bad ins Wasser zu gehen, weil dann die Haare nass werden, sagt sie.

Ich sitze dann am Rand und hoffe, dass niemand unter­geht und ich rein­muss, solche Gedanken mache ich mir.

Sie fragt: Es müsste doch eigentlich wichtiger sein, wenn einer ertrinkt?

Als ihr sieben­jähriger Sohn vor kurzem zu ihr kam und sagte, er wolle auch mal ein Sixpack haben, sei sie erschrocken. Sie habe ihm gesagt, das müsse gar nicht sein, jedem gefalle etwas anderes. Ob es zu einer früheren Zeit, ohne die sozialen Netzwerke und die Dauer­berieselung mit Bildern, besser gewesen wäre, kann Svenja Meyer nicht sagen.

Natürlich gab es auch früher, vor zehn, zwanzig Jahren, wahrscheinlich immer schon, Menschen, die mit ihrem Aussehen unzufrieden waren. Aber damals gab es kein Smartphone, das Menschen ungefragt nach der Aufnahme eines Selfies anbot, einen Filter namens «Hollywood» über ihr Gesicht zu legen, um zu prüfen, wie sie mit höheren Wangen­knochen aussehen würden. Die Omni­präsenz der Bilder von «schönen» oder «perfekten» Menschen ist doch etwas vergleichs­weise Neues. Tag und Nacht kann man sich ideale Körper reinziehen oder optimierte Versionen von sich selbst, im Bus, im Büro, auf der Couch. Nicht mal aufstehen muss man dafür.

Klar ist: Menschen können sich auf so vielfältige Weise und so ausgedehnt selbst betrachten wie nie zuvor.

Das heisst aber auch: Menschen können sich auf so vielfältige Weise und so ausgedehnt ablehnen wie nie zuvor.

Svenja Meyer ist deswegen ziemlich froh, dass sie Söhne hat. Mädchen und Frauen, glaubt sie, kämen früher und stärker unter Druck, einer gewissen Bild­vorstellung zu genügen.

Kinder lernen, ihr eigenes Bild sei korrigierbar

Das ist ein Punkt, den auch die britische Psycho­therapeutin Susie Orbach macht. Frauen, schreibt sie in ihrem Buch «Bodies», seien heute zunehmend nicht mehr die, die hauptsächlich von anderen (also Männern) beobachtet würden, sondern nähmen gleich selber die Perspektive der Beobachterin – und gnadenlosen Bewerterin – ein.

Ausserdem seien schon Kinder und Jugendliche es derart gewohnt, fotografiert und gefilmt zu werden, dass sie die Kamera beinahe ständig mitdächten. Die Möglichkeit, die Erscheinung des Kindes auf einem Foto zu korrigieren, werde parallel dazu miterlernt, so Orbach. Wenn das Kind zurück­blicke, sehe es nicht mehr den eigenen Körper, schreibt sie. Sondern den, den es nach den Vorstellungen anderer hätte haben sollen.

Dass ich für die Republik mit zwei Frauen über die Körper­dysmorphe Störung spreche, ist Zufall. Zwar gibt es einen Überhang bei den Frauen in der Prävalenz der Krankheit, aber nur einen leichten.

Der deutsche Spezialist und Psycho­therapeut Stefan Brunhoeber geht davon aus, dass die KDS-Zahlen in Zukunft weiter ansteigen werden. Auch er berichtet von der Rolle, die Instagram für seine Patienten spiele – der Einfluss der sozialen Netzwerke sei deutlich. Aber er sieht auch andere Faktoren.

Zum Beispiel, dass die Pubertät früher einsetzt als noch vor hundert Jahren.

Junge Menschen hätten auch immer weniger Zeit, die Kompetenzen zu erlernen, die sie in einer komplexer werdenden Welt brauchten, um zu bestehen, sagt Brunhoeber.

Einfache Lösungen, wie gut auszusehen und damit schnell Erfolg zu erlangen, erscheinen ihnen attraktiv.

Die Körper­dysmorphe Störung ist die Fixierung auf diese Lösung in ihrer Extremform. Einig, wie sie sich entwickelt, ist sich die Forschung noch nicht. In den allermeisten Fällen tritt sie aber in der Jugend das erste Mal auf, bei etwa 16-Jährigen. Brunhoeber meint, vor allem Kinder mit ungünstigen Entwicklungs­voraussetzungen bekämen in der Pubertät Probleme. Dazu würden nicht nur Missbrauchs­erfahrungen jeder Art (emotional, sexuell, Vernachlässigung) zählen, sondern in sehr vielen Fällen auch Faktoren wie ein über­behütendes oder konflikt­vermeidendes Elternhaus.

Dazu passen die Erzählungen der beiden Frauen, mit denen die Republik gesprochen hat. Die eine hat Missbrauchs­erfahrungen gemacht, die andere erzählt von einem Elternhaus, in dem ein grosses Bemühen geherrscht habe, sich und die Kinder nach aussen hin perfekt darzustellen.

Lisa sammelt Dinge, die ihr gefallen, Postkarten, Muster, ein Brieföffner.
Lisa ist früher viel verreist: Der Stein, den ihr Partner ihr geschenkt hat, erinnert sie an die weite Welt.

Von Familien und Freundinnen begegnet den Betroffenen, wenn sie sich öffnen, nicht selten die Frage, von der auch Marie Drüge schon gesprochen hat:

Gibt es nichts Wichtigeres?

Oder, leicht anders formuliert: Hast du kein grösseres Problem?

Vielleicht stellt man sie sich sogar beim Lesen dieses Artikels.

Es sind die falschen Fragen, nicht nur, weil sie nicht umfassen, wie sehr die Betroffenen im Alltag mit ihren Gedanken kämpfen. Sondern auch, weil sie verhindern, dass man eine andere Frage stellt:

Wie konnten wir zulassen, dass das Bild eines vermeintlich perfekten Körpers oder eines makellosen Gesichts für viele so wichtig wurde?

Lisa schaut sich an

Wir sitzen in einem Konferenz­raum der Republik beieinander, die Fotografin Rita Palanikumar, Lisa Becker und ich. Becker hat eingewilligt, mit Fotos in der Republik zu erscheinen. Wir wollen mit Lisa darüber sprechen, wie es für sie war, sich dem zu stellen, was lange ihr grösstes Problem war – ihr eigenes Bild.

Es ist ein unübliches Vorgehen, denn normaler­weise bekommen Menschen, die für Medien fotografiert werden, die Bilder vorher nicht zu sehen, damit sie keinen Einfluss auf die konzeptuelle Arbeit der Bild­redaktion ausüben können. Lisa Becker muss nicht versprechen, sich nicht einzu­mischen, ihr ist klar, dass es nicht darum geht, das Bild auszuwählen, das ihr am besten gefällt. Sie sitzt in einer Secondhand-Lederjacke und einem gemusterten Top am Tisch, betrachtet in Ruhe die Bilder und erklärt pragmatisch ihren Blick auf die Fotos, die die Fotografin ihr zeigt – den heutigen und den früheren Blick, das was sie «Störungs­auge» nennt.

Das hier macht mich traurig, sagt sie zu einem Foto, auf dem sie vor einem Spiegel posiert.

Das erinnert mich daran, wie viel Lebens­zeit ich damit verschwendet habe, in den Spiegel zu schauen.

Die meisten Bilder findet Lisa gut, sogar schön, sie wirkt selbst überrascht. Bei anderen erklärt sie, worauf sich ihre Gedanken früher gestürzt hätten, die Gesichts­form, die Schatten unter den Augen. Am Ende des Treffens sagt sie, es sei gut, den Schritt getan zu haben.

Aber ich kann mich nicht so fest freuen, weil ich nicht weiss, ob das nicht nur ein Glücksfall war, dass das grad schön ausschaut, sagt Lisa.

Und ob die anderen es auch so sehen. Ich fange dann doch gleich an zu zweifeln.

Ob sie nicht sicher sei, dass es wahr sei, fragt die Fotografin behutsam.

Lisa nickt heftig.

Genau, ob es wahr ist, wie ich das sehe, sagt sie.

Das weiss ich ja nicht.

Zu den Büchern

Susie Orbach: «Bodies. Im Kampf mit dem Körper». Sachbuch. Arche-Verlag, Hamburg 2021. 256 Seiten, ca. 30 Franken.

Katharine A. Phillips: «The Broken Mirror. Understanding and Treating Body Dysmorphic Disorder». Sachbuch. Oxford University Press, Oxford 2005. 432 Seiten, ca. 46 Franken.

Die Protagonistin, die wir nun Lisa Becker nennen, willigte ursprünglich ein, mit echtem Namen in diesem Beitrag zu erscheinen. Einige Monate nach Publikation bat sie uns jedoch, den Namen nun doch durch ein Pseudonym zu ersetzen. Wir sind ihrer Bitte nachgekommen.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: