Was diese Woche wichtig war

Taliban formen eine Regierung, Schweizer E-Mail-Dienst muss Kunden verpfeifen und ein Start-up-Wunder­kind vor Gericht

Woche 36/2021 – das Nachrichten­briefing aus der Republik-Redaktion und die Corona-Lage aus der Republik-Redaktion.

Von Philipp Albrecht, Reto Aschwanden, Ronja Beck, Oliver Fuchs, Lucia Herrmann, Marie-José Kolly, Marguerite Meyer und Patrick Venetz, 10.09.2021

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Afghanistan: Taliban bilden Kabinett aus lauter Hardlinern

Darum geht es: Am Dienstag haben die Taliban eine Übergangs­regierung für Afghanistan ausgerufen – als «Islamisches Emirat». An der Spitze soll Mullah Mohammad Hassan Akhund stehen. Er hatte bereits in der ersten Taliban-Regierung gewichtige Posten inne. Überhaupt besteht das Taliban-Kabinett mehrheitlich aus Hardlinern der alten Garde, darunter auch Vertreter des berüchtigten Haqqani-Terror­netzwerks. So ist auf den interimistischen Innen­minister Sirajuddin Haqqani vom FBI ein Kopfgeld von rund 5 Millionen Dollar ausgesetzt. Weitere Regierungs­mitglieder stehen auf schwarzen Listen der Uno und der USA. Wenig überraschend besteht die Regierung nur aus Männern. Dagegen hatte es in Kabul lautstarke Proteste gegeben, vor allem von Frauen. Taliban-Vertreter gingen teilweise mit Gewalt gegen die Protestierenden sowie die einheimischen Journalistinnen vor. Hinzu kommt: Die neue Regierung ist ethnisch weniger divers als bisher von Taliban-Vertretern angekündigt.

Afghaninnen protestieren am Mittwoch in Kabul gegen die neue Taliban-Regierung, die aus lauter Männern und Angehörigen der Paschtunen besteht. Marcus Yam/Los Angeles Times/Getty Images

Warum das wichtig ist: Afghanistan ist ethnisch vielfältig, neben der dominierenden Volksgruppe der Paschtunen gibt es Tadschikinnen, Usbeken, Hazara (zur Situation dieser Minderheit lesen Sie hier) und viele mehr. Die neue Taliban-Regierung besteht mehrheitlich aus Paschtunen. Fehlende Repräsentation wird es ihr nicht leicht machen, innerhalb des Landes Akzeptanz zu gewinnen – was etwa am erbitterten Widerstand im mehrheitlich von Tadschiken bewohnten Panjshir-Tal deutlich wird. Mit Regierungs­vertretern, die auf internationalen schwarzen Listen stehen, wird es auch schwierig, weiterhin auf internationale humanitäre und finanzielle Unterstützung zu zählen – diese benötigten die neuen Macht­haber aber, um den endgültigen wirtschaftlichen Absturz des Landes zu verhindern.

Was als Nächstes geschieht: Bereits kurz nach der Übernahme von Kabul hat der Internationale Währungs­fonds IWF die Gelder für Afghanistan eingefroren, auch andere internationale Finanz­quellen sind für die Taliban nicht erreichbar. Das Land ist mehrheitlich von Geld aus dem Ausland abhängig. Das bedeutet: Die Bevölkerung droht in eine Wirtschafts­krise abzurutschen. Zusätzliche Schwierig­keiten verursachen eine seit Monaten andauernde Dürre sowie die Covid-Pandemie. Der Schweizer Bundesrat will die Gelder für humanitäre Hilfe verdoppeln. Noch muss das Parlament darüber beraten.

Putsch: Militär will angeblich Guineas Demokratie retten

Darum geht es: Letzten Sonntag hat eine Elite­einheit des Militärs in Guinea gegen den amtierenden Präsidenten Alpha Condé geputscht. Zunächst war die Situation unübersichtlich, und es kursierten wider­sprüchliche Berichte. Im Staats­fernsehen verkündete der Anführer des Putsches, Mamady Doumbouya, das Militär habe Condé verhaftet, die Verfassung ausser Kraft gesetzt und die Landes­grenzen geschlossen. International wurde die gewaltsame Macht­übernahme einstimmig verurteilt, Uno-General­sekretär António Guterres forderte die sofortige Freilassung des Präsidenten. Die Spezial­einheit, die den Präsidenten nun gestürzt hat, wurde 2018 von ihm selbst ins Leben gerufen und seither gefördert.

Der gestürzte Präsident von Guinea, Alpha Condé, zusammen mit Putschisten auf einer Aufnahme des Militärs vom 5. September. EPA/Guinea Military/Keystone

Warum das wichtig ist: Die Militärs erklärten, die Demokratie und das Land retten zu wollen. Der abgesetzte Präsident Alpha Condé regierte Guinea seit den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 2010. Als demokratischer Hoffnungs­träger gestartet, zog er in den vergangenen Jahren zunehmend Kritik auf sich, weil er gegen Oppositionelle vorging und unter anderem die Verfassung ändern liess, damit er 2020 für eine dritte Amts­zeit kandidieren konnte. Proteste dagegen liess er gewaltsam niederschlagen. Aus diesen Gründen gibt es in Guinea auch Stimmen, die die militärische Intervention begrüssen – wie etwa der Oppositions­führer, Cellou Dalein Diallo. In west­afrikanischen Ländern gab es dieses Jahr schon mehrere Staats­streiche. Beobachterinnen sehen einen Grund darin, dass das Militär in diesen Ländern durch den Kampf gegen Jihadisten in der Region zunehmend auch zu innen­politischen Macht­faktoren wurde.

Was als Nächstes geschieht: In den kommenden Wochen will die Militär­führung die Rahmen­bedingungen für den Übergang zu einer zivilen Ordnung festlegen und eine «Regierung der nationalen Einheit» ernennen. Wann das Militär die Macht wieder abgeben und wer an dieser neuen Regierung beteiligt sein wird, ist jedoch unklar. Guinea ist eines der ärmsten Länder der Welt, aber reich an Rohstoffen: Das Land zählt zu den wichtigsten Exporteuren von Bauxit (einem Erz, das zur Herstellung von Aluminium verwendet wird). Anfang der Woche sind die Preise für Aluminium in die Höhe geschnellt, auf die Exporte (namentlich nach China) werden die politischen Entwicklungen aber vermutlich keine Auswirkungen haben.

Überwachung: Daten aus der Schweiz führen zu Verhaftung in Frankreich

Darum geht es: Der Schweizer E-Mail-Dienst Proton­mail musste auf Anordnung der Schweizer Behörden Anfang 2021 Verbindungs­protokolle (IP-Adressen) heraus­geben. Damit identifizierten und verhafteten Behörden in Frankreich offenbar einen Klima­aktivisten. Nun steht die Firma insbesondere in der Kritik, weil das Unternehmen bis anhin damit warb, standard­mässig keine Verbindungen zu protokollieren.

Warum das wichtig ist: Kommunikations­anbieter sind aufgrund des Bundes­gesetzes betreffend Überwachung des Post- und Fernmelde­verkehrs (Büpf) gezwungen, sogenannte Rand­daten wie IP-Adressen oder E-Mail-Absender aufzuzeichnen. Diese müssen sie Behörden auf Anfrage hin zur Verfügung stellen. Die Weiter­gabe der Daten des Aktivisten stösst nun aber auf Unverständnis – namentlich weil eine ausländische Straf­verfolgungs­behörde Informationen eines Schweizer Unternehmens erhielt. Im vorliegenden Fall sah Proton­mail aber keine Möglichkeit, Widerspruch einzulegen: Die französische Polizei hatte im Zusammen­hang mit Ermittlungen um Haus­besetzungen via Europol ein Gesuch an die Schweiz gestellt. Daraufhin forderte eine Schweizer Behörde bei Proton­mail Verbindungs­daten von mindestens einer Nutzerin an. Dagegen habe es keine Handhabe gegeben: «Das Schweizer Gesetz verpflichtet uns dazu, Anfragen von Schweizer Behörden zu beantworten», schrieb Protonmail-CEO Andy Yen auf Twitter.

Was als Nächstes geschieht: Solche Auskunfts­anfragen nahmen in der Schweiz seit der Revision des Büpf 2018 stark zu. Bei Proton­mail verdoppelten sich Anfragen von Behörden zwischen 2019 und 2020, und mit der Annahme des Anti-Terror-Gesetzes (PMT) im Juni muss mit einer weiteren Zunahme gerechnet werden.

Betrug: Start-up-Wunder­kind Elizabeth Holmes steht vor Gericht

Darum geht es: In der bislang grössten Betrugs­affäre im Silicon Valley begann diese Woche in San José die Gerichts­verhandlung. Angeklagt ist Elizabeth Holmes, eine einst gefeierte Biotech-Unternehmerin, deren Erfindung nie funktioniert hat.

Ihr drohen 20 Jahre Haft und eine Millionen­busse: Elizabeth Holmes und ihr Mann auf dem Weg ins Gericht in San José, Kalifornien. David Odisho/Bloomberg/Getty Images

Warum das wichtig ist: Für Kritiker des Silicon-Valley-Kapitalismus ist der Fall Holmes die logische Konsequenz einer fehlgeleiteten Techbranche. Mit ihrer Firma Theranos (aus therapy und diagnosis) hat Elizabeth Holmes 700 Millionen Dollar von Investoren eingesammelt – 125 Millionen allein von Medien­mogul Rupert Murdoch –, um ein Gerät zu entwickeln, das in einem einzigen Tropfen Blut 200 Krankheiten erkennen sollte. Doch «Edison», wie sie den kleinen Blut­schnelltester in Anlehnung an den grossen Erfinder taufte, brachte nicht annähernd die versprochene Leistung. Sie hielt ihre Angestellten dazu an, die Tests mit herkömmlichen Labor­geräten von Siemens durchzuführen, und bei Live­präsentationen schummelte sie mit vorgefertigten Resultaten. Holmes, die ihre Firma 2003 nach einem abgebrochenen Chemie­studium gegründet hatte, zelebrierte ihre Bewunderung für Apple-Gründer Steve Jobs, indem sie dunkle Rollkragen­pullover trug und ihr Produkt «iPod des Gesundheitswesens» nannte. Innert zehn Jahren wuchs Theranos mit Sitz in Palo Alto auf über 800 Angestellte an, und im Verwaltungs­rat nahmen Prominente wie Ex-Aussen­minister Henry Kissinger und der spätere Verteidigungs­minister James Mattis Einsitz. Auf dem Höhe­punkt 2015 wurde die Firma mit 9 Milliarden Dollar bewertet und Holmes mit 31 Jahren zur jüngsten Milliardärin der Welt erkoren. Doch das Karten­haus brach noch im selben Jahr zusammen, als das «Wall Street Journal» den Betrug aufdeckte.

Was als Nächstes geschieht: Der Prozess wird wohl bis Mitte Dezember dauern. Holmes’ Anwälte versuchen, die Aufmerksamkeit auf Ramesh «Sunny» Balwani zu lenken. Der Geschäfts­mann pakistanischer Herkunft, der mit Holmes liiert und bei Theranos für das Tages­geschäft verantwortlich war, habe sie «psychologisch missbraucht». Holmes drohen 20 Jahre Haft und eine Millionen­busse. Balwanis Prozess soll im Januar beginnen.

Der Corona-Lagebericht

Joggen Sie? Sind Sie Langläuferin? Sonst ein Ausdauersport?

Falls ja, werden Sie ein grosses Problem, vor dem die Schweiz gerade steht, sehr direkt nachvollziehen können. Falls nein – indirekt reicht auch. Aber der Reihe nach.

Vergangene Woche hatte der Bundes­rat trotz grosser Zustimmung aus den Kantonen noch zugewartet, doch nun hat er entschieden: Ab nächstem Montag wird das Covid-Zertifikat an vielen Orten Pflicht, so etwa im Restaurant, Hallen­bad, im Gym und an Veranstaltungen mit mehr als 30 Besucherinnen (mehr dazu im Briefing aus Bern).

Die Hoffnung des Bundes­rats, dass sich mit dem Ende der Ferien­zeit auch die Lage deutlich beruhigt, hat sich zerschlagen.

Die Infektionszahlen steigen weiter

Positiv getestete Personen: gleitender Mittelwert über 7 Tage

15. Oktober 2015. März 216. September 2102000400060008000 Personen

Die Daten nach dem 6. September sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berücksichtigt. Stand: 9. September 2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.

Wobei … wie Sie gleich sehen werden, sind in den letzten Tagen weniger Spital­eintritte gemeldet worden. Das ist eigentlich eine ausgesprochen gute Nachricht, nur nützt das wahrscheinlich nicht so viel wie erhofft.

Denn stellen Sie sich vor, Sie sind grade Ihren ersten Marathon gelaufen. Taumeln stolz, aber erschöpft über die Ziel­linie. Und erfahren dann, dass Sie es hier in Tat und Wahrheit mit einem Ultra­marathon zu tun haben. Den ersten Abschnitt haben Sie hinter sich, aber jetzt gehts hoch in die Hügel. Etwa so dürfte es in den letzten Monaten und Wochen vielen ergangen sein, die in der Pflege arbeiten.

Die Hospitalisierungen nehmen leicht ab

Spitaleintritte: gleitender Mittelwert über 7 Tage

15. Oktober 2015. März 212. September 21050100150200 Personen

Die Daten nach dem 2. September sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berücksichtigt. Stand: 9. September 2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.

In den letzten Tagen ist nämlich deutlich geworden, dass von den offiziell rund 860 Intensiv­betten in der Schweiz zwischen 50 und 100 praktisch nur auf dem Papier existieren: Es gibt sie zwar, aber es gibt zu wenige Pflegende, um die Menschen darin optimal zu betreuen. «In den letzten Wochen wurden an einigen Orten die Kapazitäten der Intensiv­pflege tendenziell zu hoch ausgewiesen», heisst es in einem internen Schreiben der Konferenz der kantonalen Gesundheits­direktoren, über das der «Blick» berichtet hatte.

Das Problem sind also nicht die Betten, sondern das fehlende Fach­personal. Letzteres reicht nur für die konstante Betreuung von 750 bis 800 IPS-Betten, so die Einschätzung der Schweizerischen Gesellschaft für Intensiv­medizin. Grund: Irgendwann zwischen Marathon-Ende und Mitte des unfreiwilligen Ultra­marathons haben manche Intensiv­pflegerinnen aufgegeben und ihren Beruf verlassen. Dadurch wurde der schon vor der Pandemie bestehende Fachkräfte­mangel noch verstärkt.

Unterdessen ist es zu spät, um mit neuen Impfungen die aktuelle Welle zu bremsen. Denn zwischen dem ersten Piks und vollständigem Impfschutz liegen rund sechs Wochen. Aber alle, die sich jetzt impfen lassen, tragen etwas dazu bei, dass das Spital­personal am Schluss dieses Ultra­marathons nicht auch noch den Everest in Angriff nehmen muss.

Zum Schluss: Der Bischof und die Erotik-Schriftstellerin

Xavier Novell war der Hoffnungs­träger der katholischen Kirche Spaniens. Mit 41 wurde er zum jüngsten Bischof des Landes und profilierte sich als strammer Glaubens­mann, der Konversions­therapien für Homosexuelle unterstützte und auch gern mal als Exorzist amtete. Im August trat er zurück, offiziell aus privaten Gründen. Nun wurde bekannt, dass sich der Bischof verliebt hat. Sein Herz erobert hat eine geschiedene Psychologin, die – horribile dictu – erotische Bücher mit okkulter Schlag­seite («Die Hölle von Gabriels Lust») schreibt. Kein Wunder, mutmasst nun mancher Glaubens­bruder, der Bischof sei besessen. Womöglich ist ja bei einem Exorzismus das Böse in ihn gefahren. Und vielleicht lehnte er es deshalb ab, sich seinerseits einem Exorzismus zu unterziehen, wie es ihm Gerüchten zufolge der Papst höchst­selbst nahelegte. Welcher Sünder will sich schon von einem Priester den Teufel austreiben lassen, wenn er stattdessen eine Hexe haben kann?

Was sonst noch wichtig war

  • Frankreich I: Am Mittwoch hat der Prozess zum Terror­­angriff in Paris vom November 2015 begonnen. Vor Gericht stehen der einzige überlebende Attentäter sowie 19 mutmassliche Helfer. Bei den Anschlägen auf den Musik­club Bataclan, das Stade de France sowie mehrere Bars und Bistros starben 130 Menschen.

Die Top-Storys

Nach dem Terror Was lief falsch? Was hätte verhindert werden können? Im Zusammen­hang mit der Attentats­serie vom 13. November 2015 in Paris (der Prozess dazu startete diese Woche, siehe weiter oben) hat sich eine parlamentarische Untersuchungs­kommission dieser Fragen angenommen. Eine Arte-Dokumentation erzählt ihre Arbeit nach. Und liefert erschütternde Antworten.

Die Angst vor der Natur Wer entscheidet, wie wir sind? Unsere Gene oder unser Umfeld? Die Nature-versus-nurture-Debatte wird seit Jahrzehnten heiss geführt. Die renommierte Verhaltens­genetikerin Kathryn Paige Harden liefert nun einige spannende Antworten. Doch in liberalen Kreisen stösst sie damit oft auf Beton, wie ein Porträt im «New Yorker» zeigt.

Aus der Traum Julius Ssekitoleko, Gewichtheber aus Uganda, will an den olympischen Spielen in Tokio brillieren. Stattdessen schläft er auf den Strassen von Nagoya und wird trotzdem weltberühmt. Wie konnte es so weit kommen? Die NZZ hat den Gewicht­heber in seiner Heimat getroffen.

Illustration: Till Lauer

Was diese Woche wichtig war

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