Zürcher Herzkrise – eine Trilogie – Interview

«Meine Kollegen in London fragten mich: Was ist das für eine vergiftete Atmosphäre in Zürich?»: Thomas Lüscher.

«Mir fällt nur ein Wort ein: Katastrophal»

Thomas Lüscher, der ehemalige Leiter Kardiologie am USZ, lässt kein gutes Haar am Krisen­management der Spital­leitung im Fall Maisano. Scharf rügt er auch die Bericht­erstattung von Tamedia – und er bedauert das typisch schweizerische Unbehagen gegenüber heraus­ragenden Persönlichkeiten.

Ein Interview von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Brigitte Hürlimann (Text) und Goran Basic (Bild), 08.03.2021

Herr Lüscher, seit bald einem Jahr kommt die Herzmedizin am Universitäts­spital Zürich nicht zur Ruhe. Sie waren dort bis vor wenigen Jahren Chef der Kardiologie, heute sind Sie als Kardiologie­professor in London tätig. Wie ist der Skandal ausserhalb der Schweiz wahrgenommen worden?
In der internationalen Herzmedizin-Community wurde der Fall breit debattiert. Auch in der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie war er ein Thema. Maisano ist bestens bekannt: Er hielt 2019 das Haupt­referat am wichtigsten internationalen Kardiologen-Kongress in Paris – und das als Herzchirurg. Entsprechend war die Aufmerksamkeit gross.

Wie wirkt es sich aufs Unispital aus, wenn die Affäre international diskutiert wird?
Sicher nicht gut. Meine Kollegen in London fragten mich: Was ist das für eine vergiftete Atmosphäre in Zürich? Was ist dort los? Die gleichen Fragen wurden mir auch von deutschen Kollegen gestellt.

Und wie war Ihre Antwort?
Something is wrong! Das ist der allgemeine Eindruck. Ich selber habe an vielen Spitälern in leitender Funktion gearbeitet, im In- und Ausland. Die Schweizer Kultur ist anders als in England oder in Amerika. Dort ist man stolz, wenn man in einer grossen und weithin sichtbaren Institution arbeiten darf, wie das Unispital Zürich eine ist. Doch die Schweizer haben oft Mühe mit heraus­ragenden Persönlichkeiten. Wenn sie auch nur einen kleinen Fehler machen, stürzt man sich sofort auf sie. In England hingegen wird Exzellenz extrem geschätzt.

In einer Untersuchung zur Herzmedizin-Affäre stellte eine Subkommission des Zürcher Kantons­rats letzte Woche unter anderem eine schlechte Fehler­kultur am USZ fest. Teilen Sie diese Einschätzung?
Gewiss, sonst wäre es nicht zu diesem Medien­skandal gekommen. Alle machen Fehler, aber man darf nicht mit dem Finger auf Fehlende zeigen, schon gar nicht öffentlich – sonst schafft man eine toxische Arbeits­atmosphäre. Dass man aus Fehlern lernen kann und damit letztlich besser wird, ist die Grund­lage einer konstruktiven Fehlerkultur.

Die Affäre ist durch das Whistle­blowing des leitenden Arztes André Plass publik geworden, der seinem Chef Francesco Maisano die Gefährdung des Patienten­wohls und wissenschaft­liches Fehl­verhalten vorwirft.
Mutmassliche Fehler müssen anonym oder auch offen gemeldet werden können, das ist völlig klar. Und das ist am USZ auch möglich. Dass ein Whistle­blower ein Dossier zusammen­stellt und es, wie ich höre, auch gleich noch dem Regierungs­rat und dem Bundesrat schickt, ist nicht angemessen. Im angelsächsischen Raum ginge das nicht. Wer sich dort anstellen lässt, muss einem code of conduct zustimmen, dass er Konflikte intern zu lösen versucht und loyal zur Institution bleibt. Aber die Institution muss auch umgehend und wirksam auf solche Vorwürfe reagieren und glaubwürdige Massnahmen ergreifen.

Zweifeln Sie an den Motiven von Whistle­blower André Plass?
Ich kenne seine Motive nicht, finde es aber seltsam, wenn jemand über Jahre hinweg Vorwürfe sammelt und diese erst viel später an die ganze Welt verschickt. Es wäre konstruktiver gewesen, wenn er seine Kritik kurz nach den beanstandeten Vorfällen intern vorgebracht und konkrete Vorgänge angesprochen hätte. Wie man hört, hat er angebliche Operations­fehler gemeldet, die Jahre zurück­lagen. Und warum hat er sich nicht umgehend an das «European Heart Journal» gewandt, als er 2016 in einem Artikel einen Fehler fand? In meiner Funktion als Heraus­geber der Zeitschrift hätte ich die Autoren angeschrieben, gegebenen­falls ein Korrigendum veranlasst, allenfalls einen Verweis ausgesprochen – und die Sache hätte sich erledigt.

Zur Person

Thomas Lüscher war bis 2017 Direktor der Klinik für Kardiologie am Universitäts­spital Zürich. Er arbeitete eng mit Francesco Maisano zusammen, als dieser 2014 als Direktor die Klinik für Herz­chirurgie übernahm. Seit Oktober 2017 ist Lüscher in London an den Royal Brompton and Harefield Hospitals und am Imperial College tätig. Zu seinem Nachfolger am USZ wurde Anfang 2018 sein bisheriger Stellvertreter Frank Ruschitzka ernannt.

Lüscher ist zudem Heraus­geber des wöchentlich erscheinenden «European Heart Journal». 2015 veröffentlichte er einen Sammelband mit Essays, in denen er sich unter anderem mit ärztlicher Ethik, Fragen guter Publikations­praxis, Interessen­konflikten und der Zukunft der Herz­medizin befasste.

Sein Alter will Lüscher explizit nicht nennen: «Die Schweizer kategorisieren Menschen damit in einem Ausmass, wie dies in Gross­britannien und den USA unbekannt, ja verpönt ist.»

Wie erklären Sie sich das Vorgehen des leitenden Arztes?
Wie gesagt, ich kenne seinen Hinter­grund nicht. Aber wenn ehrgeizige Menschen in einem derart hierarchischen System arbeiten, wie es ein universitäres Spital heutzutage ist, kommt es zwangsläufig bei einigen zu Enttäuschungen. Gerät die Karriere eines Arztes ins Stocken oder gehen seine Träume nicht in Erfüllung, ist er geneigt, seine Konkurrenten mit Missgunst zu betrachten. Einzelne können richtig­gehend destruktiv und bösartig werden. Umgekehrt kann Whistle­blowing zu einem nützlichen Instrument werden, wenn es der Person primär um eine Problem­lösung geht – aber dies muss direkt nach dem Auftreten des Problems erfolgen.

Hätte die USZ-Leitung die Reissleine früher ziehen müssen?
Ja, sie hat möglicherweise dem Personal­problem zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Eine gute Führung zeichnet sich dadurch aus, dass sie frühzeitig Massnahmen ergreift, wenn sie erkennt, dass ein leitender Angestellter nicht den Ansprüchen entspricht. Das betrifft nicht nur medizinische Leistungen, sondern auch die Team­fähigkeit und den Umgang mit Arbeits­kollegen und dem Nachwuchs. In welchem Ausmass dies geschah oder sich als unlösbar erwies, entzieht sich meiner Kenntnis.

André Plass stellt sich auf den Standpunkt, er habe immer beste Zeugnisse erhalten.
Genau. Wenn Sie jemandem während Jahren immer wieder gute Zeugnisse ausstellen und ihn dann plötzlich fallen lassen, dann haben Sie ein Glaubwürdigkeits­problem. Das ist eines meiner wichtigsten Learnings aus der Affäre am USZ: Eine gute Führung muss unangenehme Personal­entscheide früh fällen und der Person klar sagen, ob ein Verbesserungs­potenzial besteht und ob ihr das Unter­nehmen für die Karriere offensteht, die sie sich erhofft, oder ob sie sich besser nach einer anderen Option umsieht, um sich woanders besser zu entwickeln.

Angenommen, Sie wären Mitglied der USZ-Leitung gewesen, als es zum Whistle­blowing gegen Klinik­direktor Maisano kam. Wie hätten Sie reagiert?
Es war sicher eine grosse Heraus­forderung, das will ich nicht unterschätzen. Ich hätte mich wohl um eine raschere Aufarbeitung bemüht. Betraut hätte ich eine Kommission aus Fachleuten, keine Anwalts­kanzlei – wer Probleme zwischen Herz­chirurgie und Kardiologie analysieren und Lösungs­vorschläge präsentieren will, muss wissen, worum es in diesen Disziplinen derzeit geht. Vor allem aber hätte man gegenüber den Medien die Strategie besser kommunizieren und sich zunächst vor die Angeschuldigten stellen sollen. Wie schon die Römer festhielten, gilt vorerst in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Und Zweifel gab es ja zuhauf. Der Spitalrats­präsident Martin Waser hat dies aus meiner Sicht nicht gut gemacht.

Wie beurteilen Sie sein Krisenmanagement?
Dazu fällt mir nur ein Wort ein: katastrophal.

Warum?
Am fehlenden Bemühen allein lag es gewiss nicht. Allerdings fehlte es aus meiner Sicht in der jetzigen Zusammen­setzung des Spitalrats am nötigen Fachwissen; nicht nur beim Präsidenten, sondern auch in weiten Teilen des Gremiums. Das wird nun gewiss durch Regierungs­rätin Natalie Rickli korrigiert, indem sie neue Mitglieder beruft.

Das ist eine harsche Kritik am Spitalrat.
Er ist für die Strategie zuständig. Wie soll ein ehemaliger Politiker, der sich vorwiegend mit anderen Problemen beschäftigen musste, die Strategie eines universitären Spitals festlegen? Das ist zu viel verlangt. Strategie­entwicklung bedeutet auch, zu verstehen, in welche Richtung sich die Spitzen­medizin entwickelt. Derzeit fehlt es weitgehend an kompetenten Leuten. Es gibt noch nicht mal ein externes Berater­gremium oder advisory board, das eine Aussen­sicht einbringt und so eine Betriebs­blindheit verhindert, der wir letztlich alle unterliegen.

Für die korrekte Aufarbeitung eines Whistle­blowings braucht es aber nicht unbedingt medizinisches Fachwissen.
Das stimmt nur zum Teil, denn die Konflikte sind typisch für akademische Institutionen. Aus meiner Sicht hätte der Spitalrat die Öffentlichkeit darüber orientieren müssen, dass er die Sach­verhalte noch nicht umfassend und fair beurteilen kann. Und ganz wichtig: dass es wegen der noch ausstehenden Ergebnisse einer abschliessenden Unter­suchung noch keine Konsequenzen zu ziehen gibt. Bis zum Abschluss der Unter­suchungen hätte sich der Spitalrat hinter die kritisierte Person stellen müssen.

Nicht nur gegenüber Klinik­direktor Maisano verhielt sich die USZ-Leitung fragwürdig, auch gegenüber Whistle­blower André Plass.
Das Schlimmste war, dass man ihn zuerst rauswarf und dann wieder einstellte. Das machte alle völlig unglaubwürdig.

Hätte man Maisano und Plass trotz all der zu unter­suchenden Vorwürfe weiter­arbeiten lassen sollen?
Nicht unbedingt. Die USZ-Leitung hätte beide erst einmal freistellen können, um die Vorwürfe in Ruhe zu untersuchen. Man muss zwingend warten, bis die Ergebnisse vorliegen. Vor allem darf man nicht Partei ergreifen, nur weil die Medien Druck machen. Sie dürfen niemanden entlassen, bevor das Ausmass der Schuld bestimmt wurde.

Die Medien haben im vergangenen Jahr immer und immer wieder über die Turbulenzen am USZ berichtet. In unserer Recherche-Trilogie schreiben wir, der «Fall Maisano» sei auch ein Medien­skandal. Stimmen Sie uns zu?
Auf jeden Fall.

Wie erklären Sie sich das?
Viele Medien sind in einem ständigen Kampf um Aufmerksamkeit gefangen. Seit das Internet Bedeutung erlangte, wurde diese Konkurrenz teilweise zu einer existenziellen Bedrohung. Für die Medien gibt es nichts Besseres als eine Enthüllung, die sich zum Skandal aufbauschen und danach immer weiterköcheln lässt. Erregungs­produktion statt Information. Es gibt hier einen verschwiegenen Interessenkonflikt.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Journalistinnen gemacht?
Aus meiner Sicht gibt es zwei Sorten Journalisten: Die einen bitten mich um eine wissenschaftliche Einschätzung eines Themas, sie sind wirklich am Erkenntnis­gewinn interessiert, wollen korrekt und balanciert berichten, schicken alles zur Durchsicht – das sind die guten Journalisten. Die anderen kontaktieren einen, obwohl die Stoss­richtung ihres Beitrags in ihren Köpfen längst fixfertig ist. Ihr Ziel ist die Story, sie suchen die Bestätigung und nicht den Widerspruch.

Diese Journalisten sind voreingenommen?
So ist es. Ich habe es immer wieder erlebt, dass Stellung­nahmen schlicht ignoriert wurden, wenn sie nicht mit der Geschichte der Journalisten überein­stimmten. Das ist ein typisches Muster in medialen Skandalisierungen: Solche Journalisten blenden neue Hinweise aus, wenn sie nicht in ihr Narrativ passen – sie bleiben bis zum bitteren Ende bei ihrer ursprünglich festgelegten Message, so auch jetzt.

Das Tamedia-Recherche­desk hat Maisano unter anderem vorgeworfen, er habe in Beiträgen in Ihrem «European Heart Journal» eine Komplikation verschwiegen: Beim Einsetzen eines Cardio­bands an der Herz­klappe war ein Draht gerissen. Ausserdem habe er verschwiegen, dass er am finanziellen Erfolg des Cardioband-Herstellers finanziell profitiere.
Als Herausgeber des «European Heart Journal» muss ich auch bei einem kurzen Fallbericht wie einem «Cardiovascular Flashlight» davon ausgehen, dass das, was berichtet wird, dem Verlauf des beschriebenen Falls entspricht. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt ein Vergehen gegen die wissenschaft­liche Integrität vor. Nach den Untersuchungs­ergebnissen wurden die zwei Patienten in zwei «Flashlights» unvollständig beschrieben. Die mediale Bericht­erstattung zu diesen kurzen Bild­artikeln war aber doch etwas überzogen.

Inwiefern?
Die Berichterstattung stand in keiner Relation zu Maisanos Nachlässigkeit. Aber das schien die Journalisten nicht zu stören: Sie wollten einen Lawinen­effekt provozieren, hofften, dass der Skandal dank dem Whistle­blower weiter an Fahrt aufnimmt.

Wiesen Sie die Tamedia-Journalisten darauf hin, dass Maisano Ihnen eine Liste seiner Interessen­konflikte geschickt hatte und Sie diese einzig aus Platz­gründen nicht abdruckten?
Ja. Zum Hintergrund: Oxford University Press verlangt zwingend Conflict-of-interest-Deklarationen bei der Einreichung aller Manuskripte, aber bei den kurzen Bildartikeln – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Original­arbeiten und Übersichts­artikeln – werden diese aus Platz­gründen nicht im Artikel selbst abgedruckt.

Haben Sie darauf hingewiesen, bevor das Tamedia-Recherche­desk über diesen Vorwurf berichtete?
So ist es. Ob alle Interessen­konflikte angegeben wurden, können wir selbst­verständlich nicht kontrollieren, das liegt in der Verantwortung der Autoren. Eine meiner Mitarbeiterinnen hat auf Anfrage der Redaktion am Vortag des ersten Artikels im Mai 2020 darüber informiert, dass Maisano für das «Flashlight» wie seine Co-Autoren eine Liste mit Interessen­konflikten eingereicht hatte. Die Tamedia-Redaktion hat das aber meines Wissens nicht entsprechend berichtet. Sie berichtete nur, was ihre These bestätigte. Das ist schlechter Journalismus.

Bleibt der zweite Vorwurf, den der «Tages-Anzeiger» wegen des «Flashlight»-Artikels gegen Francesco Maisano erhob: der verschwiegene Drahtriss.
Dass der Draht riss, ist grundsätzlich kein Vergehen, so etwas kann bei derart innovativen Operations­methoden jederzeit passieren – und die Patientin erlitt dadurch, so viel wir wissen, ja auch keinen Schaden. Es war jedoch unstrittiger­weise ein Fehler, den Drahtriss im «Flashlight» nicht zu erwähnen. Deshalb habe ich als Heraus­geber bei diesem Artikel online im Sommer 2020 eine note of concern angebracht.

Der Vorwurf des «Tages-Anzeigers» bestand nicht allein in der Tatsache, dass Maisano einen Draht­riss verschwieg. Es ging vielmehr darum, dass er das mit Absicht getan haben könnte – um ein Produkt besser darzustellen, als es eigentlich ist.
Nun, ein «Flashlight» ist ein kurzer, bebilderter Fallbericht eines einzelnen Patienten auf einer halben Seite. Es wäre völlig unüblich, dass ein neues Produkt allein aufgrund eines solchen Fallberichts beurteilt oder gar zugelassen würde. Zwar haben Maisano und sein Team bei der Publikation einen Fehler begangen, aber dass sich damit ein finanzieller Vorteil ergeben hätte, ist schwer vorstellbar.

Darüber hinaus wurde Maisano wegen seiner Nähe zur Medtech-Industrie kritisiert. Ist es ein Problem, wenn Ärzte mit der Industrie zusammen­arbeiten und damit Geld verdienen?
Diese Zusammenarbeit ist nicht ein Problem, sondern sogar essenziell – ich möchte das wirklich betonen. Unzählige Produkte und Medikamente, die in enger Kooperation von Industrie und Ärzten entwickelt wurden, haben die Sterblichkeit bei vielen Erkrankungen zum Wohle zahlreicher Patienten in den letzten Jahrzehnten markant verringert. Ohne ein solch enges Zusammen­wirken lässt sich kein medizinischer Fortschritt in der Behandlung von Patienten erzielen. Fachlich ist diese Zusammen­arbeit eine Erfolgsgeschichte.

Die Frage ist doch: Wie muss sich ein Arzt bei der Entwicklung, Verwendung und Vermarktung eines Produkts verhalten, das er selber erfunden hat?
In der Startphase der Entwicklung eines neuen Geräts muss ein Forscher oder Arzt selbst Versuche anstellen können. Sobald erste Hinweise vorliegen, dass ein Gerät zum Erfolg werden könnte und es die sogenannte CE-Kennzeichnung erhält, braucht es randomisierte Vergleichs­studien: In dieser Phase muss sich der Erfinder zwingend zurück­nehmen, auch wenn das für ihn emotional oft hart ist – schliesslich ist die Erfindung so etwas wie sein «Baby».

Und danach?
Wenn mehrere unabhängige Studien die Wirksamkeit eines Geräts bestätigt haben und es Markt­reife erlangt, soll es selbst­verständlich auch der Erfinder einsetzen dürfen. Alles andere wäre absurd. Oder denken Sie – um ein prominentes Beispiel aus der Historie des Unispitals zu nennen –, ausgerechnet Andreas Grüntzig hätte als Einziger auf die von ihm entwickelten Ballon­katheter verzichten sollen?

Vorausgesetzt, ein Gerät wird wie Grüntzigs Ballon­katheter zum Welt­erfolg: Soll der Erfinder dann finanziell von seinem Patent profitieren?
Selbstverständlich. Ein Wissenschaftler sollte genauso für seine Leistung honoriert werden wie jeder andere Erfinder und Unter­nehmer auch. Wir leben in einer Gesellschaft, die Leistung honoriert, sonst wäre es nie zum heutigen Wohl­stand gekommen. Die meisten Universitäten lassen dies nicht nur zu, sondern fördern es bewusst.

Andreas Grüntzig wurde Multimillionär.
Sie sagen es. Nachdem er in die USA ausgewandert war, erhielt Grüntzig die Anerkennung, die ihm in Zürich verwehrt blieb – am USZ hatte man ihm seinen Erfolg missgönnt. Seit den 1980er-Jahren hat sich in dieser Hinsicht wenig verändert: Neid und Missgunst sind nach wie vor vorhanden. Ich aber frage mich: Warum soll ein Wissenschaftler vom Kaliber Grüntzigs, der mit seiner Erfindung Millionen Menschen geholfen oder sogar vor dem Tod bewahrt hat, weniger verdienen als ein Roger Federer? Zumal, wenn die Institution, an der er angestellt ist, auch davon profitiert?

Stellen Sie Francesco Maisano in eine Linie mit Andreas Grüntzig?
Maisano mag vielleicht noch keinen vergleichbaren Welterfolg gelandet haben, aber ja: Er und Grüntzig sind Brüder im Geiste. Denn auch Maisano strebt, wie viele andere Leistungs­träger an Universitäten, nach Innovationen, die die Behandlung von Herz­problemen und anderen Erkrankungen verbessern.

Maisano ist ein Herzchirurg, der Eingriffe beherrscht, die auch Kardiologinnen vornehmen. Hat er der Kardiologie Patienten weggenommen?
Die Kardiologie und die Herzchirurgie wuchsen seit Grüntzigs Erfindung des Ballon­katheters immer mehr zusammen. Was man mit dem Ballon und dem Stent oder mit dem Skalpell behandelt, hat sich zunehmend verwischt – und das kann gewiss zu Konflikten führen.

Am Unispital war der Konflikt besonders hart.
Da haben Sie recht, allerdings sind weltweit ähnliche Auseinander­setzungen zu beobachten, auch in anderen Fach­gebieten, die sich so nahestehen.

Wie können sie ausgeräumt werden?
Ärztinnen beider Disziplinen müssen eng zusammen­arbeiten, so, wie Maisano und ich das damals am USZ eingeführt haben. Dafür braucht es Herzzentren mit gemeinsamen Teams, wöchentlichen Besprechungen und einem gemeinsamen Budget. Stehen Kliniken in finanzieller Konkurrenz zueinander, entstehen ökonomische Konflikte, die eskalieren können. Die Patientin will das Beste für ihr Problem, unabhängig davon, ob das die Kardiologie oder die Herzchirurgie löst.

Und wenn Klinik­direktoren die Zusammen­arbeit verweigern?
Dann muss die Spitalleitung Massnahmen ergreifen: Gespräche, Mediationen, schriftliche Vereinbarungen oder Weisungen. Sie könnten aber noch etwas anderes tun.

Und zwar?
Sie sollten die Begriffe Herzchirurgie und Kardiologie abschaffen. Stattdessen sollte man in Zukunft einzig noch von «Herzmedizin» sprechen. Von einer Herzmedizin, an der Ärzte beteiligt sind, die sich auf Diagnostik spezialisieren, Ärztinnen, die Medikamente verschreiben, Ärzte, die mit Kathetern arbeiten, und Ärztinnen, die klassische Chirurgie betreiben. Sie sollten alle das gleiche Ziel verfolgen. Es braucht diese neue Kultur zum Wohle der Patienten.

Hätten Sie zu Ihrer Zeit am USZ die Bildung eines gemeinsamen Herz­zentrums nicht stärker forcieren müssen?
Doch. Es war ein Fehler, nicht viel früher auf ein gemeinsames Budget gepocht zu haben und ein Herzzentrum zu schaffen, das diesen Namen auch ökonomisch verdient. Ich werfe mir auch vor, mich zu wenig für einen gemeinsamen Honorar­pool eingesetzt zu haben. Denn der Streit um Geld hat nach meiner Berufung nach London gewiss einiges dazu beigetragen, das Klima zu vergiften.

Als Sie nach London zogen, drifteten die Kardiologie und die Herz­chirurgie am USZ immer weiter auseinander. Warum?
Wenn die Chemie zwischen zwei Partnern nicht stimmt und die Struktur noch nicht optimal gestaltet ist, kann die Zusammen­arbeit schwierig werden. Offen­sichtlich haben Francesco Maisano und mein Nachfolger Frank Ruschitzka keinen gemeinsamen Nenner gefunden.

Die Spitalleitung hätte die beiden Streit­hähne zur Räson bringen müssen.
Ich weiss nicht, was CEO Gregor Zünd gemacht hat und was er rein juristisch hätte tun können. Ich hoffe, dass er mit den beiden Direktoren zusammen­gesessen ist und ihnen nahegelegt hat, dass sie ihre Probleme zwingend lösen müssen.

Viele unserer Quellen sagen, Maisano habe die Kooperation aktiv gesucht, aber Ruschitzka habe sich dagegen gesperrt.
Sie werden entschuldigen, aber ich möchte mich nicht zu meinem Nachfolger äussern. Ich kann das von aussen auch nicht beurteilen.

Dann lassen Sie uns in die Vogel­perspektive wechseln: In der Schweiz gibt es siebzehn Herz­zentren. Zu viel für das kleine Land?
Viel zu viel. Zum Vergleich: Dänemark, das mit seinen rund 6 Millionen Einwohnern nur unwesentlich kleiner ist als die Schweiz, hat fünf grosse Herzzentren. Und auch die Niederlande, die doppelt so viele Einwohner haben, bieten mit rund einem Dutzend Herzzentren eine erstklassige medizinische Versorgung. Die Gesundheits­systeme beider Staaten sind zentral organisiert – ein Vorteil, wie sich in den vergangenen zwölf Monaten auch bei der Pandemie­bekämpfung gezeigt hat.

Die Schweiz ist nun mal föderalistisch organisiert.
Im Prinzip ist der Föderalismus ja eine gute Sache, weil er der Bevölkerung das Gefühl und die Möglichkeit gibt, sich zu involvieren. Im Gesundheits­system aber wäre mehr Zentralismus von Vorteil. In so organisierten Systemen bewilligt der Staat jedem Spital nur Eingriffe, die auch in einem vernünftigen Mass pro Jahr durchgeführt werden können – sogenannte Mindestzahlen. Bietet ein Spital eine Operation nicht an, weil das Patienten­volumen und die Erfahrung nicht genügen, um eine optimale Patienten­versorgung zu gewähr­leisten, wird der Patient an ein anderes Spital überweisen. Damit wird die Versorgung besser und günstiger.

Wie viele Herzzentren wären ideal für die Schweiz?
Sechs, maximal acht. In Zürich bräuchte es ein grosses universitäres Zentrum und wohl ein privates. Für das gesamte Mittelland genügte ein Zentrum in Bern, hinzu kämen höchstens zwei Zentren in der Romandie und eines im Tessin und in Basel. Alle anderen bestehenden Zentren werden zunehmend Schwierigkeiten haben, vor allem in der Herz­chirurgie genügend hohe Fallzahlen zu erreichen, denn die herzchirurgischen Eingriffs­zahlen werden aufgrund der Katheter­technik stark zurückgehen.

Solange die Kantone mitreden, ist Ihr Szenario völlig unrealistisch.
Das stimmt wohl. In der Schweiz ist man verwöhnt, man will all seine gesund­heitlichen Probleme vor der eigenen Haustür behoben haben. Die Regierungs­räte wissen das – und sie wollen wieder­gewählt werden. Auf lange Sicht aber ist dieses Über­angebot gefährlich und teuer.

Weshalb?
Ein Spital, das Mühe hat, die notwendigen Fallzahlen zu erreichen, ist versucht, mehr Operationen vorzunehmen, als medizinisch angezeigt sind. Es kann zur Über­versorgung kommen. Und es gibt noch ein zweites Problem, wenn die Fallzahlen sinken: Studien zeigen, dass es in kleineren Zentren bei Katheter- und chirurgischen Eingriffen zu mehr Komplikationen und Todes­fällen kommt, weil man nicht über die nötige Erfahrung verfügt und nicht Kolleginnen beiziehen kann, wenn eine Operation nicht wie gewünscht verläuft.

Hat die Herzmedizin am USZ nach all diesen Vorkommnissen noch die Strahl­kraft, auf die man am Spital jahrzehnte­lang stolz war?
Nein, im Moment nicht. Der Ruf hat massiv gelitten, in der Öffentlichkeit genauso wie in der inter­nationalen Szene. Man sieht das nur schon an der Abnahme der Zuweisungen. Das USZ hat wohl auch an Attraktivität bei jungen Ärztinnen verloren. Und leider beschränkt sich der Schaden nicht allein darauf.

Wie meinen Sie das?
Es gibt einen Kollateral­schaden für die gesamte Schweizer Medizin: Viele Ärzte und Forscher haben nun Angst, in irgend­einer Weise mit der Industrie in Verbindung gebracht und in die Medien gezerrt zu werden. Es wird auch zunehmend schwierig, Kliniken wirksam zu führen, wenn jede Unzufriedenheit und jedes Problem in die Medien gelangt.

Wie kommt die Zürcher Herz­medizin aus diesem Trauertal?
Nach der Trennung von Maisano setzt das USZ in der Herzchirurgie mit Paul Vogt und Thierry Carrel auf eine Zwischen­lösung, die den klinischen Service nach dem Einbruch gewiss wieder aufbauen, aber wegen des fortgeschrittenen Alters der beiden nicht lange Bestand haben wird. Umso mehr muss sich die Spital­leitung schon jetzt gut überlegen, wie das Profil der künftigen Klinik­führung aussehen muss. Das wird keine einfache Aufgabe sein.

In einer früheren Version erwähnte unser Interviewpartner Tamedia-Artikel von «Anfang März». Das war ein Versehen, es ging um den Mai 2020. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.

Zürcher Herzkrise – eine Trilogie

III. Aufräumen

Wie das Unispital Zürich einen Neuanfang für die Herz­me­di­zin ankündigt. Und warum dieser nicht rei­bungs­los verläuft

Sie lesen: Interview

«Mir fällt nur ein Wort ein: Ka­ta­stro­phal»