Ein Jahr Pandemie im interaktiven Rückblick
Was bleibt von all den Zahlen, die im Corona-Jahr an uns vorbeigerauscht sind? Im besten Fall: ein klares Bild, wie es der Schweiz ergangen ist. Frischen Sie mit uns Ihre Erinnerung auf.
Von Marie-José Kolly und Simon Schmid, 01.03.2021
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Im Andenken wurden auf dem Bundesplatz kürzlich Kerzen angezündet: eine für jeden Menschen, der in den letzten zwölf Monaten in der Schweiz im Zusammenhang mit Covid-19 sein Leben verloren hat.
Es war ein richtiges Lichtermeer, das vor dem Bundeshaus leuchtete. Was würden Sie schätzen: Wie viele Kerzen umfasste es?
Zahlen und Erinnerungen
Man könnte sagen: Das spielt doch keine Rolle – jede Tote ist eine zu viel.
Allerdings haben Angaben wie diese in der Pandemie eine prominente Rolle gespielt. Zahlen waren allgegenwärtig: Sie waren entscheidend dafür, wie schnell sich das Virus weiterverbreiten würde, wie gefährlich Forscherinnen die Lage einstuften, welche Restriktionen Politiker beschlossen, wie viele Testkits benötigt wurden, wohin man reisen durfte, wie viel Platz es in den Spitälern noch gab.
Es war nicht einfach, die Entwicklung dieser Zahlen über Monate hinweg zu verfolgen. Viele dürften irgendwann den Überblick verloren haben. Und vielleicht mochte der eine oder die andere auch gar nicht so genau wissen, wie viele Menschen in der Schweiz wegen des Coronavirus gestorben sind.
Lassen Sie uns gerade deshalb gemeinsam nochmals genau hinschauen.
Um uns noch einmal genau daran zu erinnern, was in den vergangenen zwölf Monaten eigentlich passiert ist. Und um uns zu vergegenwärtigen – qualitativ und quantitativ – wie wir den Pandemieverlauf nach einem Jahr einordnen sollen. Oder wollen.
Todesfälle
Wir tun dies anhand von einigen Schätzfragen.
Dabei geht es nicht darum, Sie mit einem humorvollen Quiz zu unterhalten, so wie anlässlich des World Economic Forum vor einem Jahr. Nein, diese Fragen sind ernst gemeint. Todernst, könnte man angesichts des tragischen Themas fast sagen.
Und damit zurück zu den Kerzen auf dem Bundesplatz.
Natürlich: Covid-19 war vergangenes Jahr nicht die einzige Todesursache.
Ja, es war nicht einmal die Hauptursache. Rund 60’000 Menschen, sechsmal mehr als zuletzt am Coronavirus, sterben pro Jahr jeweils in der Schweiz.
Wie muss man die Corona-Todesfälle in diesem Kontext einordnen?
Eine oft verwendete Messgrösse war die sogenannte Übersterblichkeit. Sie betrug zum Höhepunkt der beiden Corona-Wellen bei den über 65-Jährigen fast 50 Prozent. Das bedeutet, dass in dieser Zeit anderthalb Mal so viele Senioren starben, wie ohne Pandemie zu erwarten gewesen wäre.
Eine andere Art von Vergleich ist möglich, wenn man die 9240 Corona-Toten der Zahl der Menschen gegenüberstellt, die jährlich aus anderen Gründen sterben.
Wie die Statistik zeigt, spielen Infektionskrankheiten als Todesursache eine untergeordnete Rolle. Viel häufiger sterben Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Krebs oder Demenz. Viel seltener an der Grippe.
Um die Corona-Bilanz einzuordnen, ist auch der Blick ins Ausland erhellend.
Stellen Sie sich dazu eine Stadt vor, etwas kleiner als Winterthur. In dieser fiktiven Stadt wohnen 100’000 Menschen. 114 von ihnen sind im vergangenen Jahr am Coronavirus gestorben. Diese Zahl beschreibt die Situation in der ganzen Schweiz: Es ist die Sterberate, ausgedrückt in Anteilen an der Bevölkerung.
Nicht nur für die Schweiz, auch für die restlichen OECD-Mitgliedsstaaten – eine Gruppe von 37 Industrieländern – lässt sich diese Sterberate berechnen.
Zahlen, die «Our World in Data» zusammengetragen hat, zeigen: Die Heterogenität war hierbei enorm. Das OECD-Mitgliedsland mit der höchsten Sterberate war Belgien: Hier starben von 100’000 Einwohnerinnen 189 an Covid-19. Am tiefsten war die Rate in Neuseeland, mit 0,5 Todesfällen pro 100’000 Einwohner. Das Land hat die Pandemie besonders gut bewältigt, und dafür gibt es mehrere Gründe (vereinfacht gesagt: Neuseeland hat eine vorteilhafte Geografie und verfolgte das klare Ziel, das Virus zu eliminieren).
Auch die Dynamik der Pandemie unterscheidet sich je nach Land deutlich.
Erste und zweite Welle
Die meisten westlichen Länder haben bisher zwei Corona-Wellen erlebt: eine im vergangenen Frühjahr und eine, die im Herbst begonnen hat. Meist forderte die zweite Welle mehr Opfer als die erste.
Manchen gelang es jedoch, die Todesfälle auch während der zweiten Welle auf einem ähnlich niedrigen Niveau wie während der ersten Welle zu halten. Der folgende Chart zeigt eines dieser Länder.
Milde zweite Wellen waren jedoch die Ausnahme. Das liegt daran, dass die zweite Welle (zumindest auf der Nordhalbkugel) in die kältere Jahreszeit fiel: Menschen verbrachten im Herbst und im Winter mehr Zeit indoors, so konnte sich das Virus leichter verbreiten. Viele Länder waren von dieser Entwicklung überrascht.
Dies, obwohl das Wissen über das Coronavirus zu Beginn der zweiten Welle eigentlich grösser war als im Frühling. Politische Entscheidungsträger, deren Beraterinnen und die Bevölkerung hätten also eigentlich wissen müssen, wie man sich schützen kann. Masken waren zu diesem Zeitpunkt bereits breit verfügbar. Trotzdem gelang es im vergangenen Herbst oft nicht, das Virus einzugrenzen.
Auf der folgenden Grafik ist der Pandemieverlauf in einem dieser Länder abgebildet, in denen die zweite Welle weit heftiger als die erste ausfiel.
Wie gesagt: Die meisten Länder hat es im Herbst nochmals stark erwischt.
Im Vergleich der OECD-Staaten zeigt sich aber auch: Dass die Pandemie überhaupt zu vielen Toten führt, war nicht zwingend. Es gibt Länder, die sowohl die erste als auch die zweite Welle gut überstanden haben.
Die folgende Grafik zeigt den Verlauf in einem dieser Länder.
Der internationale Vergleich unterstreicht, welche Rezepte sich in der Pandemie bewährt haben. Länder mit konsistent niedrigen Todeszahlen haben das Virus typischerweise von Anfang an mit intensivem Testing und Contact Tracing verfolgt. Sie sind auch nicht davor zurückgeschreckt, bereits kleine Ausbrüche im Keim zu ersticken. Erfahrungen mit früheren Epidemien, die geografische Lage oder politische Mentalitäten, die weniger aufs Individuum und stärker aufs Kollektiv ausgerichtet sind, kamen ihnen dabei zugute.
Unterschiedliche Pandemieerfahrungen haben aber nicht nur Menschen aus verschiedenen Ländern gemacht. Auch die Altersgruppen innerhalb eines Landes waren vom Coronavirus und seinen Folgen unterschiedlich betroffen.
Alte und Junge
Covid-19 wurde oft als Krankheit beschrieben, die vor allem die Alten betrifft. An die Jugend appellierte man, um die Verbreitung des Virus einzudämmen: Je weniger Infizierte es generell gibt, desto geringer die Gefahr für Seniorinnen.
Wie hat das Zusammenspiel der Generationen geklappt? Der Bund schlüsselt auf seinem Datenportal zu Covid-19 diverse Angaben nach Altersklassen auf.
Bei den Ansteckungen fällt auf: Mit Ausnahme der Kinder unter 10 Jahren, die aufgrund ausbleibender Symptome auch weniger oft getestet wurden, hat die gesamte Bevölkerung die Pandemie «mitgemacht». Besonders häufig wurden Personen zwischen 20 und 29 Jahren positiv getestet. Das dürfte mit der hohen Kontaktfreudigkeit in dieser Altersgruppe zu tun haben.
Daneben gab es auch bei den über 80-Jährigen viele positive Tests. Dies dürfte auf die höhere Krankheitsanfälligkeit dieser Altersgruppe zurückgehen sowie darauf, dass in Altersheimen häufiger getestet wurde.
Schwenkt man von den Ansteckungen zu den Todesfällen, so verschwinden die jungen Erwachsenen fast. Nicht einmal 1 von 100’000 Einwohnerinnen unter 40 Jahren verstarb in den vergangenen zwölf Monaten an Covid-19. Bei den 10- bis 19-Jährigen gab es sogar keinen einzigen Todesfall.
Ganz anders sieht es bei den über 80-Jährigen aus. Hier verstarben im Verlauf des letzten Jahres fast 1500 von 100’000 Einwohnerinnen am Coronavirus.
Hat man die Alten also zu wenig gut geschützt? Oder war es im Gegenteil unverhältnismässig, den Jungen so viele Restriktionen aufzuerlegen?
Manche haben genau das gesagt: Die meisten Covid-19-Todesopfer seien Hochbetagte, die sowieso nicht mehr lange gelebt hätten. Wie es sich mit dieser Behauptung verhält, hat die wissenschaftliche Taskforce des Bundes in einem sogenannten Policy Brief überprüft. Darin gibt sie eine Schätzung dazu ab, wie hoch die mittlere «Restlebenszeit» der an Covid-19 Gestorbenen noch gewesen wäre.
Es sind also nicht nur todkranke und höchstbetagte Leute dem Virus zum Opfer gefallen, sondern auch viele Menschen, die noch eine längere Lebenszeit vor sich gehabt hätten. Man kann diese Statistik auch so verstehen: Auf jede Person, die bei der Ansteckung mit dem Virus gewissermassen schon auf dem Sterbebett lag, kommt eine andere Person mit einer verbleibenden Lebenserwartung von über einem Jahrzehnt.
Hinzu kommen die Gesundheitsschäden, die Covid-19 bei einem Teil der Überlebenden verursacht hat. Gesamtschweizerisch erhobene Zahlen dazu gibt es heute noch nicht. Doch diverse Studien, die rund um die Welt durchgeführt wurden, haben gezeigt: Ein bedeutender Anteil der Patientinnen klagt auch noch Monate nach überstandener Krankheit über Symptome wie Ermüdung, Husten oder Depression. Für diese Krankheitsbilder hat sich der nicht ganz trennscharf definierte Begriff «Long Covid» eingebürgert.
Dagegen hilft für den Moment nur eines: die Verbreitung von Sars-CoV-2 vermindern oder gar verhindern.
Testen, testen, testen
Ein wichtiges Mittel dafür sind Tests. Effektiv eingesetzt tragen sie dazu bei, dass Infektionen rasch erkannt und Folgeinfektionen unterbunden werden. Auch in der Schweiz wurde im vergangenen Jahr rege getestet.
Epidemiologisch erstrebenswert wäre, dass maximal 5 Prozent der Tests positiv ausfallen. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass ein Land einerseits die Epidemie unter Kontrolle hat und andererseits genug Tests durchführt, um Ansteckungen aufzuspüren und betroffene Personen zu isolieren.
Nicht jedes positive Testergebnis bedeutet, dass eine betroffene Person die typischen Symptome entwickelt: Husten, Fieber, Atembeschwerden. Doch manche Menschen trifft Covid-19 so hart, dass Spitalpflege nötig wird.
Zahlen dazu, wie es den Covid-19-Patienten in den Spitälern ergangen ist, gibt es auf schweizweiter Ebene leider nicht. Angaben einzelner Kliniken wie des Unispitals Zürich zeigen jedoch: Einige haben den Aufenthalt nicht überlebt.
Trotz des enormen Aufwands, der in Gesundheitseinrichtungen betrieben wurde, sind in der Schweiz viele Menschen an Covid-19 gestorben. Ein Teil davon in Spitälern, ein anderer Teil in Altersheimen oder zu Hause. Gerade aus Sicht der Ärztinnen und Pfleger ist jeder dieser Todesfälle ein Fall zu viel.
Dass in einem Jahr Pandemie fast 10’000 Menschen an Covid-19 gestorben sind, liegt aber nicht an den Spitälern. Sondern daran, dass die Schweiz zu wenig flächendeckend mit Tests und der Nachverfolgung von Kontakten nach Infektionsherden gesucht und zu langsam reagiert hat, als die Zahlen im Sommer langsam und im Herbst immer schneller gestiegen sind.
Die epidemiologische Lektion: Nicht nur jeder Tote ist ein Toter zu viel – sondern auch jede Ansteckung ist eine Ansteckung zu viel. Wenn es eine Quintessenz aus einem Jahr Pandemie in der Schweiz gibt, dann diese.
Ausblick
Hintergrund davon ist ein Phänomen, das bis heute nur schwer fassbar bleibt: exponentielles Wachstum. Oder umgangssprachlich gesagt: die wiederholte Verdoppelung der Fallzahlen über bestimmte Zeiträume.
Zu einem exponentiellen Wachstum kommt es, wenn sich ein Virus ohne wirksame Gegenmassnahmen frei ausbreiten kann. Anfangs ist dies kaum spürbar. Doch mit der Zeit nehmen die Ansteckungen zu – und dann geht es plötzlich sehr rasch, bis das Infektionsgeschehen ausser Kontrolle ist.
Was exponentielles Wachstum bedeutet, lässt sich anhand der weltweiten Fallzahlen nachzeichnen. Nachdem das Coronavirus im Januar ausgebrochen war, verging zunächst ein halbes Jahr, bis 10 Millionen Covid-19-Fälle rund um den Globus verzeichnet wurden. Sechs Monate also.
Exponentielles Wachstum funktioniert auch in die umgekehrte Richtung – also beim Rückgang der Fallzahlen. Das ist wichtig, wenn es um die Frage geht, wie lange wir noch so nah mit dem Virus zusammenleben, alltägliche Einschränkungen erdulden und wie viele weitere Todesfälle wir in Kauf nehmen wollen.
Momentan werden in der Schweiz pro Tag rund 1000 Personen positiv auf das Virus getestet. Rund 35 landen im Spital, rund 15 Personen sterben.
Der R-Wert – ein Mass dafür, wie ausgeprägt das exponentielle Wachstum beziehungsweise der Rückgang ist – liegt momentan bei ungefähr 0,9. Das bedeutet, dass 10 Infizierte im Schnitt 9 weitere Personen anstecken.
Das Virus wird unter diesen Umständen nur langsam zurückgedrängt. Bis die Zahl der täglichen Ansteckungen ohne äussere Einwirkungen (wie etwa Impfungen, Jahreszeiten, Änderungen der geltenden Massnahmen oder ansteckendere Virusvarianten) unter die epidemiologisch erstrebenswerte Schwelle von 100 fiele – so wie im vergangenen Frühjahr –, würde es noch sehr lange dauern: mehr als vier Monate.
Schneller würde die Corona-Pandemie in der Schweiz zurückgedrängt, wenn man den R-Wert massgeblich senken könnte – zum Beispiel auf 0,45 halbieren. Das ergibt sich anhand von vergleichsweise einfachen Überschlagsrechnungen, die man angelehnt an gängige epidemiologische Modelle anstellen kann.
Damit erreichten wir nicht nur deutlich rascher das (vorläufige) Ende der Epidemie in der Schweiz, wir würden vermutlich auch mehrere Hundert Todesfälle vermeiden.
Wie viele Kerzen in einem, in zwei, in fünf Monaten auf dem Bundesplatz stehen werden, hängt also massgeblich davon ab, wie sich die Epidemie in den kommenden Wochen entwickelt. Eines ist klar: Es werden mehr sein als am Sonntag vor einer Woche. Hoffentlich geht der Schweiz bald ein Licht auf.