Briefing aus Bern

FDP gegen Urlaub für Väter, Bauernlobby gegen eine grünere Landwirtschaft – und bald Lohndeckel für Staatsbetriebe?

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (112).

Von Philipp Albrecht, Elia Blülle, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Carlos Hanimann, Brigitte Hürlimann und Cinzia Venafro, 27.08.2020

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Was hat die Schweiz in der letzten Woche beschäftigt? Weil sich die Zahl der Neuinfektionen langsam, aber sicher hocharbeitet, steht das Corona­virus wieder hoch oben auf der Liste. Damit Sie sich nicht durch die Flut von News­tickern und Meldungen kämpfen müssen, haben wir die wichtigsten Corona-Nachrichten für Sie zusammengefasst:

  • In der Schweiz und in Liechtenstein wurden gestern Mittwoch 383 neue Corona-Ansteckungen gemeldet – das ist der höchste Wert seit April. Am Dienstag waren es 202 bestätigte Fälle, am Montag 157, am Sonntag 276.

  • 136’000 Firmen oder jedes fünfte KMU in der Schweiz hat im Zusammen­hang mit Covid-19 einen vom Bund abgesicherten Kredit bezogen. Ausbezahlt wurden bisher 16,8 Milliarden Franken, was 42 Prozent der zur Verfügung gestellten Mittel entspricht. In 845 Fällen wurde abgeklärt, ob ein Missbrauch vorliegt.

  • In den letzten zwölf Monaten ist die Zahl der Erwerbs­tätigen in der Schweiz um 1,6 Prozent gesunken. Die Zahl sei seit 1993 nie mehr so stark zurückgegangen, teilte das Bundesamt für Statistik letzten Donnerstag mit. Die Arbeitslosen­quote stieg von 4,2 auf 4,6 Prozent, die wöchentliche Arbeitszeit sank um 9,5 Prozent.

Ausserdem: ein Update zur Medienpolitik.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Bundesanwalt: Parlament macht Weg frei für Strafverfahren

Worum es geht: Die zuständigen Kommissionen des Parlaments haben am Montag die Immunität des Bundesanwalts Michael Lauber aufgehoben. Nun steht den Ermittlungen gegen Lauber nichts mehr im Weg. Er wird verdächtigt, im Rahmen unprotokollierter Treffen mit Fifa-Chef Gianni Infantino, dem Walliser Ober­staatsanwalt Rinaldo Arnold und weiteren Personen sein Amt missbraucht, das Amts­geheimnis verletzt und jemanden begünstigt zu haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Warum Sie das wissen müssen: In seiner letzten Woche im Amt sorgt Michael Lauber noch einmal für historische Schlag­zeilen: Nie zuvor ist die Immunität eines Bundes­anwalts aufgehoben worden, nie zuvor ist gegen einen Bundes­anwalt ein Straf­verfahren geführt worden. Damit nimmt das vermutlich letzte Kapitel in der Affäre Lauber seinen Anfang: Ein ausser­ordentlicher Staats­anwalt wird nun ermitteln und die Fragen zu klären versuchen, welchen Zwecken die nicht protokollierten Treffen mit der Fifa-Spitze und dem Walliser Straf­verfolger dienten und ob es dabei zu straf­rechtlichem Fehl­verhalten der beteiligten Personen kam.

Wie es weitergeht: Die Bundes­versammlung soll in der Herbst­session über die Einsetzung eines ausser­ordentlichen Staats­anwalts entscheiden. In der Winter­session soll das Parlament eine neue Bundes­anwältin wählen. Bis dahin werden Laubers Geschäfte von seinen Stellvertretern übernommen.

Schlappe für Bundesrat: Landwirtschafts­reform vertagt

Worum es geht: Die Wirtschafts­kommission des Stände­rats will das Reform­paket «Agrarpolitik ab 2022» auf Eis legen. Sie verlangt vom Bundes­rat bis spätestens 2022 einen Bericht zur zukünftigen Ausrichtung der Agrarpolitik. Stimmt der Stände­rat dem Antrag seiner Kommission zu, wirft dies den Bund bei der Landwirtschafts­politik zurück auf Feld eins – nach jahre­langen Vorarbeiten der Bundesverwaltung.

Warum Sie das wissen müssen: Der Entscheid der Kommission geht auf intensives Lobbying des Bauern­verbands zurück. Der Verband bekämpft die Agrar­reform, weil ihm der Vorschlag des Bundesrats zu grün ist. Werde die Reform sistiert, biete dies «die Chance, die einseitige Agrar­politik zu einer glaub­würdigen Ernährungs­politik umzubauen», findet der Verband. Einen grünen Touch erhielt die Reform allerdings primär wegen zweier Volks­initiativen, über die im kommenden Jahr abgestimmt wird: die Trinkwasserinitiative und die Pestizidinitiative. Weil diese dem Bundes­rat zu radikal sind, enthält die Agrarreform als Alternative auch Massnahmen zur Reduktion von Nährstoffen und Pestiziden. Die Mehrheit in der Kommission soll übrigens nur dank eines Kuhhandels zustande gekommen sein: Der Bauern­verband habe dem Wirtschafts­dachverband Economie­suisse versprochen, im Gegenzug die Konzern­verantwortungs­initiative zu bekämpfen, über die Ende November abgestimmt wird.

Wie es weitergeht: Der Ständerat wird sich im Dezember mit dem Antrag seiner Kommission befassen. Wegen der nun absehbaren Verzögerung ist es wahrscheinlich, dass die Stimm­bevölkerung 2021 über die Trinkwasser- und die Pestizid­initiative entscheiden wird, ohne zu wissen, ob das Parlament die Schraube in den beiden Bereichen von sich aus anzieht.

Richterwahl ohne Partei­büchlein: Bundesrat ist dagegen

Worum es geht: Im August 2019 hat ein Initiativ­komitee rund um Immobilien­investor Adrian Gasser die Justiz­initiative eingereicht: Sie verlangt, dass Bundes­richter nicht länger nach dem Partei­proporz bestimmt werden und sich nicht der Wieder­wahl stellen müssen. Nun ist klar: Der Bundes­rat lehnt die Initiative ab.

Warum Sie das wissen müssen: Das Schweizer Richter­wahl­verfahren ist ein weltweites Unikum und kein Ruhmesblatt. Es wird unter anderem von der Anti­korruptions­gruppe des Europa­rats kritisiert – und zwar in erster Linie wegen der Mandats­steuer, die alle Richterinnen der Schweiz ihren Parteien jährlich abzuliefern haben. Problematisch sei auch das Wiederwahlverfahren der Richter: Dieses führe dazu, dass wegen einzelner Urteile die Nicht­wiederwahl drohe. Der Bundes­rat erwähnt zwar ebenfalls ein «gewisses Spannungsverhältnis zwischen einer unabhängigen Amtsführung und dem zurzeit praktizierten System». Trotzdem lehnt er die Initiative ohne Gegen­entwurf und Gegen­vorschlag ab. Er stört sich vor allem am Losverfahren: Gemäss Initiativ­text soll eine unabhängige Fach­kommission die geeigneten Richter­kandidaten bestimmen, aus denen dann die offenen Posten per Losentscheid besetzt würden – um jegliche Einfluss­nahme zu verunmöglichen. Der Bundesrat hält dieses Verfahren für ungeeignet und systemfremd.

Wie es weitergeht: Die Botschaft des Bundes­rats kommt nun in die zuständige Kommission und wird anschliessend im Parlament beraten. Es ist mit einer breiten Ablehnung zu rechnen, da keine der politischen Parteien auf die Mandats­steuer der Richterinnen verzichten will – oder auf die Einfluss­nahme, was die Besetzung der Richter­bank betrifft.

Vaterschaftsurlaub: FDP will nun plötzlich doch nicht

Worum es geht: Mit 134 Nein- zu 133-Ja-Stimmen haben die FDP-Delegierten die Nein-Parole für die Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub beschlossen. Begründet wird der Entscheid damit, dass der angestrebte Vaterschafts­urlaub alte Rollen­modelle zementiere und den Firmen hohe Kosten verursache.

Warum Sie das wissen müssen: Die FDP hat im Parlament noch deutlich für die Vorlage gestimmt, die Vätern nach der Geburt ihres Kindes zwei Wochen bezahlten Urlaub einräumen will. Nun kämpft die Partei an der Seite der SVP plötzlich gegen die Vorlage und brüskiert damit vor allem die FDP-Frauen. Sie sprachen sich deutlich für den Vaterschaftsurlaub aus und schrieben, die Schweiz sei «immer noch ein familien­politisches Entwicklungs­land». Mit dem Vater­schafts­urlaub werde «ein kleiner Schritt hin zur Gleich­stellung» getan. Der äusserst knappe Parolen­entscheid zeigt, dass die drittgrösste Partei der Schweiz in der Ausrichtung ihrer Familien­politik tief gespalten ist.

Wie es weitergeht: Am 27. September kommt der Vater­schafts­urlaub zur Abstimmung. Ausser der FDP und der SVP befürworten alle wichtigen Parteien die Vorlage. Gemäss Umfragen des Meinungs­forschungs­instituts GFS Bern wird sie von 63 Prozent unterstützt und von 35 Prozent abgelehnt.

Nationalrat stimmt über Lohn­deckel für Staats­konzerne ab

Worum es geht: Die Chefinnen von SBB, Post, Ruag, Skyguide, Suva, SRG und Swisscom sollen künftig maximal einen Bundesrats­lohn erhalten. Die Staats­politische Kommission des National­rats (SPK) hat die Vorlage vergangene Woche dem Parlament überwiesen. Das Maximum hat sie bei 1 Million Franken festgelegt.

Warum Sie das wissen müssen: Die Top­verdiener in den Staats­konzernen sitzen an der Spitze von SBB und Post. Sie beziehen jährlich rund 1,2 Millionen Franken – inklusive Pensions­kassen­beiträgen. Obwohl ihre Löhne in den letzten zehn Jahren nicht spürbar angestiegen sind, bleiben sie ein Politikum, Kritiker sprechen gar von «Lohn­exzessen». Die Pro-Service-public-Initiative von 2016 verlangte unter anderem, dass Kader nicht mehr als ein Mitglied des Bundes­rats verdienen sollten. Gerechnet wurde damals mit dem Bundesrats-Jahres­lohn von knapp 500’000 Franken. Die Initiative scheiterte zwar an der Urne, doch der Lohn­deckel blieb populär. Die damalige SP-National­rätin Susanne Leutenegger Oberholzer hatte drei Tage vor der Abstimmung eine parlamentarische Initiative für einen Lohndeckel eingereicht. Nach diversen Anpassungen und einer Vernehmlassung kommt das Anliegen nun in den National­rat. Bürgerliche Politikerinnen haben inzwischen ein Maximum von 1 Million durchgesetzt. Im neuen Betrag ist auch die durch­schnittliche Renten­leistung enthalten, die eine Bundes­rätin nach ihrer Amtszeit beziehen kann. Gleichzeitig soll auch der bislang deutlich höhere Toplohn der Swisscom Teil des neuen Gesetzes werden. Dies, obwohl hier eine Mehrheit der Vernehmlasser eine Ausnahme verlangte, da der Telecom­konzern dem Aktien­recht unterliegt. CEO Urs Schaeppi verdiente letztes Jahr 1,76 Millionen Franken.

Wie es weitergeht: Der National­rat stimmt in der Herbst­session über die Vorlage ab. Danach befindet die vorberatende Kommission des Stände­rats darüber, bevor schliesslich die kleine Kammer abstimmt. Sind sich beide Kammern einig, ist der Lohn­deckel noch dieses Jahr unter Dach und Fach.

Schluss: Tessiner Chiesa ist neuer SVP-Chef

Er ist von der SVP-Findungs­kommission vor wenigen Wochen aus dem Hut gezaubert worden, jetzt ist er gewählt: Der Tessiner Ständerat Marco Chiesa ist neuer Präsident der SVP. Die Partei­delegierten haben ihn am Wochen­ende «gross­mehrheitlich» an ihre Spitze gesetzt. Wie viele Stimmen Chiesa genau erhalten hat, konnte nicht mehr eruiert werden: Bereits beim Auszählen gab es tosenden Applaus. Anders als sich zuvor abzeichnete, kam es nicht zu einer Kampf­wahl zwischen Chiesa und dem Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer. Dessen Kandidatur wurde gerade noch rechtzeitig zurückgezogen – von Benjamin Fischer, Präsident der Zürcher SVP. «Klar: Jetzt bin ich natürlich der Trottel. Aber das ist mir gleich. Ich habs ja nicht für mich gemacht, sondern für die Partei», sagt Heer im Interview mit der Republik. Die Partei hat nach der DV erst mal andere Sorgen: Denn obwohl die Partei­leitung das Masken­tragen empfohlen hatte, folgten die wenigsten der 400 dicht beieinander­sitzenden Politiker dem Rat. Für den abtretenden Präsidenten Albert Rösti wäre es «das Schlimmste, was uns geschehen könnte», wenn nun alle in Quarantäne müssten. Klar ist: Den Abstimmungs­kampf für die Begrenzungs­initiative würde es sehr erschweren.

Illustration: Till Lauer

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