Dicke Post

Gleich fünf Uno-Sonder­berichterstatter wenden sich mit einem Brief an die Schweiz. Sie sorgen sich darüber, wie die Strafverfolgerinnen mit Klima­aktivisten umgehen – und befürchten Menschenrechts­verletzungen.

Von Brigitte Hürlimann, 05.04.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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David R. Boyd.

Irene Khan.

Clément Nyaletsossi Voule.

Mary Lawlor.

Margaret Satterthwaite.

So heissen fünf von mehr als fünfzig Uno-Sonder­berichterstatterinnen, die für unterschiedlichste Themen­bereiche oder Welt­regionen zuständig sind, aber eines gemeinsam haben.

Sie sind die Wächter der Grundrechte.

Ihre Aufgabe ist es, die Menschenrechts­lage zu überwachen und zu bewerten, notfalls einzugreifen, Empfehlungen abzugeben oder gar Erkundigungs­missionen durchzuführen.

Sie sind unabhängige Expertinnen und werden vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ernannt. Ihre Empfehlungen sind nicht rechtsverbindlich, und es fehlt ihnen an Durchsetzungs­befugnissen. Trotzdem, so die Einschätzung von Humanrights.ch, hätten ihre Berichte und Feststellungen «ein erhebliches Gewicht». Die Uno-Sonder­berichterstatter übten «beträchtlichen Druck» auf die Regierungen aus. Dies wohl nicht zuletzt dadurch, dass sie ihre Beobachtungen öffentlich machen.

Und nun haben sich also nicht weniger als fünf dieser weltweit tätigen Expertinnen zusammen­geschlossen, um einen Brief an die Schweiz zu verfassen. «Gemeinsame Kommunikation» heisst das im Diplomaten­jargon.

Die Depesche trägt das Datum des 29. Januar 2024, sie wurde kurz nach Ostern auf der Homepage der Uno veröffentlicht. Es ist dicke Post.

Die fünf eingangs genannten Fachleute äussern sich befremdet darüber, wie in der Schweiz strafrechtlich mit Klima­aktivistinnen umgegangen wird.

Sie wollten nicht vorgreifen, ob alles stimme, was ihnen zugetragen worden sei, schreiben die Absender höflich. Sie möchten aber ihrer «Besorgnis darüber Ausdruck geben», dass die strafrechtliche Verfolgung der Klima­aktivistinnen eine «ungebührliche und ungerechtfertigte Einschränkung» des Rechts auf freie Meinungs­äusserung und auf die Versammlungs­freiheit darstellen könnte.

Die fünf Expertinnen sind (grob zusammengefasst) für folgende Bereiche zuständig:

  • Menschenrechts­verpflichtungen in Bezug auf die Schaffung einer sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt,

  • Förderung und Schutz des Rechts auf Meinungs­freiheit und freie Meinungs­äusserung,

  • das Recht auf friedliche Versammlungen und Vereinigungen,

  • die Situation von Anwälten, die auf Menschenrechte spezialisiert sind, und

  • die Unabhängigkeit von Richterinnen und Anwälten.

Die Themenliste zeigt, in welche Richtung die Besorgnis zielt. Konkret beziehen sich die Uno-Sonder­berichterstatter auf zwei Aktionen von Extinction Rebellion (XR) in der Stadt Zürich: die Besetzung der Quaibrücke vom Juni 2020 und die Blockade der Urania­strasse im Oktober 2021. Beide Veranstaltungen verliefen friedlich, wurden von der Polizei aufgelöst und führten zu zahlreichen Festnahmen, Inhaftierungen und – in aller Regel – zu Verurteilungen.

Die rechtliche Aufarbeitung dieser zwei XR-Aktionen in Zürich ist noch nicht abgeschlossen. Nur vereinzelt kam es zu Freisprüchen. Unter anderem (aber nicht nur) von Bezirks­richter Roger Harris, der vorläufig keine Klimafälle mehr behandeln darf, weil ihn die Staats­anwaltschaft für befangen erklärt hat – was die Gerichte bestätigten. Das letzte Wort in Sachen Harris ist allerdings nicht gesprochen, ein rechtskräftiges Urteil steht noch aus.

Auch auf den Fall von Bezirksrichter Roger Harris nehmen die fünf Sonder­berichterstatter Bezug. Sie halten etwa fest, Harris habe zwei Klima­aktivistinnen in erster Instanz freigesprochen, weil er eine Verurteilung als unvereinbar mit den Menschen­rechten eingestuft habe.

Die Experten schildern ausserdem, wie manche Aktivistinnen bis zu zwei Tage in Polizeihaft genommen wurden, Finger­abdrücke und DNA-Proben abgeben oder sich für eine Leibes­visitation nackt ausziehen mussten. Erwähnt werden die gerichtlichen Verurteilungen, unter anderem wegen Nötigung, was einen Eintrag ins Strafregister zur Folge hat und schlimmstenfalls zu einem Berufs­verbot der Verurteilten führen kann.

Alles in allem befürchten die fünf Menschenrechts­experten, dass die Klima­aktivistinnen durch diesen strafrechtlichen Umgang daran gehindert werden, ihre Grundrechte wahrzunehmen. Die Sonder­berichterstatter erwähnen in ihrem Brief an die Schweiz mehrfach, es gehe um friedliche Aktionen.

Und sie betonen die Bedeutung des zivilen Ungehorsams.

Die Zivilgesellschaft habe «immer eine führende Rolle bei den Wiederaufbau­bemühungen nach Natur­katastrophen und im Zusammenhang mit humanitären, gesundheitlichen und klimatischen Krisen gespielt», heisst es im Brief. «Die Staaten sind daher verpflichtet, den friedlichen zivilen Ungehorsam zu schützen, damit diese Akteure Teil der weiteren Bewältigung der zeitgenössischen Krisen sind.»

Amnesty International Schweiz und Extinction Rebellion äussern sich in Medien­mitteilungen erfreut über den Brief der fünf Sonder­berichterstatter.

Und die Schweiz als Adressatin der neun­seitigen Depesche aus dem Palais des Nations in Genf?

Seine Antwort trägt das Datum des 28. März 2024, und auch sie wird im Internet veröffentlicht. Unterzeichnet ist das Schreiben von Uno-Botschafter Jürg Lauber.

Lauber versichert den fünf besorgten Expertinnen zunächst, dass die Schweiz die Arbeit der Sonder­berichterstatter anerkenne – ihren «Beitrag zur Stärkung und Achtung der Menschen­rechte in der ganzen Welt». Die Versammlungs- und Meinungsäusserungs­freiheit genössen in der Schweiz «besondere Bedeutung», es handle sich um die «Eckpfeiler jeder pluralistischen und demokratischen Gesellschaft».

Schöne Worte.

Doch dann folgt eine Stellungnahme der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die bloss auf den Schilderungen der Stadtpolizei Zürich beruht.

Diese sagt, wenig überraschend, es sei alles rechtens und verhältnismässig abgelaufen. Die Polizei habe «konsequent, aber immer mit Augenmass» gehandelt. Es gehöre zu ihrer Aufgabe, Ordnung und Sicherheit herzustellen oder dafür zu sorgen, dass der öffentliche Raum «bestimmungs­gemäss» benutzt werden könne. Es gehe ja auch um die Grundrechte anderer Personen. Nicht nur um jene der Klima­aktivisten.

Die rechtsstaatlichen Grundsätze seien angewandt worden.

Niemand sei schikaniert worden.

Eine Angst vor Repressalien sei unbegründet.

Was an der Antwort der Schweiz an die fünf Uno-Sonder­berichterstatter zusätzlich irritiert: Sie endet mit einer parlamentarischen Anfrage aus den Reihen der Rechtsbürgerlichen.

Die SVP-Fraktion des Zürcher Stadtparlaments hatte eine Reihe von Fragen an die Stadtregierung gerichtet, die allesamt darauf abzielen, den polizeilichen Einsatz bei der Blockierung der Urania­strasse vom Oktober 2021 als zu wenig hart, zu wenig konsequent und zu kostspielig darzustellen. Die letzte Frage der SVP lautet, wie derartige «Störungen» künftig verhindert werden könnten.

All das plus die Antwort der Stadt­regierung wird den Menschenrechts­expertinnen telquel mitgeschickt. Und nur das.

Kein Wort über die kritischen Stimmen zur strafrechtlichen Aufarbeitung der beiden XR-Aktionen in Zürich.

Dabei hatte im Juli 2023 sogar ein (rechtsbürgerlicher) Zürcher Oberrichter den Umgang mit Klima­demonstranten harsch gerügt. Er halte es für unverhältnismässig, so Christoph Spiess damals an der mündlichen Urteilseröffnung, «dass die Leute in einer solchen Situation zwei Tage lang eingesperrt und erkennungs­dienstlich behandelt werden. Ich habe den Eindruck, dass hier ein Abschreckungs­effekt erzielt werden soll.»

Die Bedenken des Oberrichters stimmen mit jenen der fünf Uno-Sonder­berichterstatter überein. Die Antwort der Schweiz hingegen hinterlässt den Eindruck, als ob man die Sache nicht ernst nimmt.

Immerhin: Eine Wirkung hat die Depesche aus dem Genfer Palais des Nations schon gezeigt.

Am selben Tag, an dem das Schreiben der Expertinnen bekannt wurde, hätte am Zürcher Obergericht die Urteils­verkündung in einem Klimaprotest-Fall stattfinden sollen. Es geht um einen 46 Jahre alten Lehrer, der sich im Oktober 2021 auf die Urania­strasse gestellt hatte, um auf die Klima­katastrophe aufmerksam zu machen. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn wegen Nötigung zu einer bedingten Geldstrafe.

Der Mann akzeptiert den Schuldspruch nicht und zog seinen Fall vor Obergericht. Letzten Dienstag hätte er erfahren sollen, wie die Berufungs­instanz die Angelegenheit beurteilt. Dann kam das Schreiben der fünf Sonder­berichterstatter. Andreas Noll, Verteidiger des Klimaaktivisten, beantragte beim Gericht unverzüglich, die Urteils­eröffnung sei auszusetzen und der Entscheid neu zu beraten – unter Berücksichtigung des Schreibens aus der Uno.

Und siehe da: Das Ober­gericht stimmt dem Anwalt zu. Es vertagt die Urteils­eröffnung, verspricht, sich über den Brief aus Genf zu beugen, das Verdikt nochmals zu beraten – und an einem noch nicht bekannten Datum zu eröffnen.

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