Richter kritisiert Polizeihaft für Klimaaktivistinnen
Das Zürcher Obergericht bestätigt zwei Freisprüche für Klimaaktivistinnen. In seiner Urteilsbegründung macht der vorsitzende Richter eine unerwartete Aussage.
Von Brigitte Hürlimann, 18.07.2023
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Gut zwei Dutzend Besucherinnen halten den Atem an. Was sie vom Oberrichter während seiner mündlichen Urteilsbegründung hören, das hätte niemand erwartet. Nicht in dieser Deutlichkeit. Es ist kurz vor 18 Uhr und mucksmäuschenstill im Saal. Alle Augen sind auf Richter Christoph Spiess gerichtet.
Aus der ganzen Schweiz sind sie am letzten Freitagnachmittag nach Zürich ans Obergericht gefahren, um mitzuverfolgen, was mit den zwei Klimaaktivistinnen geschieht, die sich auf der Anklagebank wiederfinden, obwohl sie letztes Jahr vom Bezirksgericht freigesprochen worden waren: eine heute 67-jährige Frau Ende August 2022 und eine 25 Jahre alte Aktivistin ein paar Tage später.
Und nein, beide nicht von Richter Roger Harris, sondern von seiner Amtskollegin Susanne Vogel.
Harris darf ja bekanntlich seit «seinen» Freisprüchen keine Klimafälle mehr behandeln. Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Ausstandsbegehren gegen ihn eingereicht. Diese gelangten bis vor Bundesgericht und danach wieder zurück ans Zürcher Obergericht: weil den betroffenen Beschuldigten das rechtliche Gehör nicht gewährt worden war.
Es handelt sich um zwei andere Aktivistinnen, die Termine bei Richter Harris hatten und bis heute auf die Erledigung ihrer Fälle warten. Die Prozesse wurden sistiert – wegen der ungeklärten Ausstandsfrage. Mit neuen Entscheiden des Obergerichts (diesmal unter Einhaltung der Verfahrensrechte) dürfte demnächst zu rechnen sein. Die beiden Aktivistinnen konnten inzwischen ihre Stellungnahmen einreichen.
Was nicht bedeutet, dass die Sache bald rechtskräftig entschieden ist. Auch die neuen Ausstandsbeschlüsse könnten wieder vor Bundesgericht gezogen werden.
Doch unabhängig davon, ob Richter Harris, Richterin Vogel oder sonst jemand Klimaaktivistinnen freispricht, und egal, aus welchen Gründen dies geschieht: Die Zürcher Staatsanwaltschaft zieht konsequent jeden Freispruch vor die nächste Instanz.
So auch im Fall der zwei Westschweizerinnen, die sich am letzten Freitag vor dem dreiköpfigen Gremium unter Vorsitz von Abteilungspräsident Christoph Spiess verantworten müssen. Ihnen wird vorgeworfen, sich im Oktober 2021 in Zürich an der Ecke Bahnhofstrasse/Uraniastrasse zusammen mit zwei weiteren Frauen auf einen Fussgängerstreifen gesetzt zu haben.
Keine fünf Minuten lang. Dann wurden sie von der Polizei weggeführt.
Das sei Nötigung, findet Staatsanwalt Daniel Aepli. Und vor Obergericht bringt er erstmals vor: oder zumindest versuchte Nötigung.
Der neue Eventualantrag hängt mit den beiden erstinstanzlichen Freisprüchen zusammen. Bezirksrichterin Vogel entschied klipp und klar, dass bei einem knapp fünfminütigen Hinsetzen auf dem Fussgängerstreifen von einer Nötigung nicht die Rede sein könne. Die Staatsanwaltschaft habe ausserdem keine Verkehrsbehinderungen dokumentiert. Es erscheine fraglich, so heisst es im Urteil des Bezirksgerichts Zürich, «ob die Automobilisten von der Sitzaktion überhaupt etwas mitbekamen. Aktenkundig ist solches jedenfalls nicht.» Eine allfällige Wartezeit liege im Bereich dessen, «was im Zentrum der Stadt Zürich als normal und alltäglich zu dulden ist».
Es waren insgesamt vier Frauen, die sich damals auf den Fussgängerstreifen setzten – die Ampel für die Autofahrerinnen stand in diesem Moment auf Rot, und die Polizei war von Anfang an vor Ort. Sie wusste von der geplanten Mini-Aktion.
In jener Woche im Oktober 2021 hatte die Organisation Extinction Rebellion in Zürich Präsenz markiert: mit Kundgebungen, die alle zuvor angekündigt worden waren. Der Tag, an dem sich vier Frauen auf die Strasse setzten, war als Pausentag deklariert worden, an dem keine grossen Demos stattfinden würden. Extinction Rebellion musste neue Plakate und Transparente herstellen. Die Polizei hatte nicht nur Hunderte von Aktivisten festgenommen und eingesperrt, sondern auch sämtliches Demomaterial beschlagnahmt.
Oberrichter Spiess wird am Freitagabend an seiner mündlichen Urteilsbegründung sagen: Die beiden Frauen auf der Anklagebank seien von Anfang an einer «polizeilichen Übermacht» gegenübergestanden. «Sie hatten von vornherein keine Möglichkeit, längere Zeit den Verkehr zu blockieren. Es lag eine Übungsanlage vor, die scheitern musste.»
Staatsanwalt Daniel Aepli sieht die Sache anders. Er fordert am Obergericht die Aufhebung der vorinstanzlichen Freisprüche. Die beiden Frauen seien zu bedingten Geldstrafen zu verurteilen.
Denn:
Es gehe um die rechtliche Einordnung einer Strassenblockade, nicht um eine Weltanschauung. Das Fernziel der Aktivistinnen sei nicht wesentlich, auf eine moralisch-ethische Bewertung komme es nicht an: «heute die Klimaaktivistinnen, morgen die Abtreibungsgegner, übermorgen die Stadionbefürworter».
Auch Klimaaktivisten hätten sich an die Gesetze zu halten: «Sie stehen nicht über dem Recht.»
Eine wichtige Verkehrsader sei total blockiert worden, die Handlungsfreiheit zahlreicher Autofahrerinnen beschränkt. Das sei das eigentliche Ziel der Aktion gewesen – nicht bloss ein Nebeneffekt. «Wäre es um die Meinungsäusserungs- oder Versammlungsfreiheit gegangen, hätten sie auf dem Trottoir oder auf einem nahe liegenden Platz demonstrieren können. Aber nein: Wie trotzige Kinder haben sie sich auf die Strasse gesetzt.»
Die Aktivistinnen seien nicht zu bestrafen, weil sie ohne Bewilligung und friedlich eine Meinung geäussert hätten – sondern wegen der Strassenblockade.
Die Frauen auf der Anklagebank sagen nicht viel dazu. Die ältere der beiden richtet sich mit einem kurzen Statement an Oberrichter Spiess und die beiden Mitrichterinnen.
Sie sei heute 67 Jahre alt. Ihr Leben lang habe sie ihre Kinder dazu angehalten, die Gesetze zu respektieren.
Sie habe sich gestützt auf die Bundesverfassung auf die Strasse gesetzt. Dort stehe, dass Bund und Kantone für den Schutz der Bevölkerung zu sorgen hätten. Sie habe sich damals, im Oktober 2021, gefragt, ob die Gesellschaft gelähmt sei, «wie der Hase, der von den Scheinwerfern eines auf ihn zufahrenden Autos geblendet wird».
Sie sei drei Minuten auf der Strasse geblieben.
Dafür werde sie seit eineinhalb Jahren wie eine Kriminelle behandelt. Sie sei zwei Tage lang eingesperrt worden, habe eine Leibesvisitation erdulden müssen, man habe ihr eine DNA-Probe entnommen.
«Wen habe ich bedroht oder verletzt?»
Die beiden Verteidiger Ingrid Indermaur und Markus Wyttenbach fordern die Bestätigung der Freisprüche für ihre Klientinnen und weisen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin. Diese besagt, dass die Behörden bei friedlichen, unbewilligten Demonstrationen ein gewisses Mass an Toleranz zu zeigen hätten, damit der Schutzbereich der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit nicht ausgehöhlt werde. Es dürfe nicht zu einem Abschreckungseffekt kommen. Die Menschen sollen nicht daran gehindert werden, weiterhin zu demonstrieren.
Das Obergericht zieht sich zur geheimen Urteilsberatung zurück. Am frühen Abend werden die Entscheide verkündet – und beide Freisprüche bestätigt.
«Wir haben uns in den letzten Monaten mit etlichen solchen Fällen beschäftigt», eröffnet der Gerichtsvorsitzende Christoph Spiess die mündliche Urteilsbegründung. «Andere sind noch in der Pipeline. Wir haben bisher immer Schuldsprüche ausgesprochen. Dass es nun zu zwei Freisprüchen kommt, bedeutet nicht etwa eine Kehrtwende. Diese beiden Fälle sind grundlegend anders gelagert.»
Es gehe um eine Strassenblockade von weniger als fünf Minuten, durchgeführt von vier Frauen, die von Anfang an keine Chance gehabt hätten, den Verkehr während längerer Zeit lahmzulegen. «Demonstrieren ist grundsätzlich etwas Erlaubtes, wir müssen den Grundrechten Rechnung tragen. Auch wenn hier keine Bewilligung eingeholt wurde, ist eine gewisse Toleranz geboten.»
Nicht jede noch so geringfügige Störung sei eine Nötigung.
Die Frauen hätten auf ein politisches Problem aufmerksam gemacht, nicht randaliert, nicht einfach des Störens wegen gestört.
Und dann kommt das Unerwartete.
Oberrichter Spiess erwähnt zunächst die Entschädigung, die beiden Freigesprochenen wegen der Polizeihaft zusteht. Die ältere Frau bekommt 400 Franken, die jüngere 600, weil sie etwas mehr als zwei Tage in Haft bleiben musste.
Das sind 200 Franken pro ungerechtfertigtem Hafttag.
Christoph Spiess sagt: «Ich halte es für unverhältnismässig, dass die Leute in einer solchen Situation zwei Tage lang eingesperrt und erkennungsdienstlich behandelt werden.» Das gäbe es in anderen Fällen nicht. «Ich habe den Eindruck, dass hier ein Abschreckungseffekt erzielt werden soll. Alle bleiben zwei Tage lang drin, das gibt es sonst nicht. Das muss einmal gesagt werden. Das stört mich.»
Die Verhandlung ist geschlossen. Die Besucherinnen sind ein paar Sekunden lang sprachlos. Dann fallen sie sich in die Arme.
Bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft die beiden Freisprüche vor Bundesgericht ziehen wird.