Die Schweiz auf Abriss – Folge 5

Einst die viel befahrene Durchgangsstrasse, seit der Autobahneröffnung ist sie bereit für die Gentrifizierung: Alle Bilder in diesem Beitrag wurden in der Weststrasse in Zürich aufgenommen.

Grosse Wohnungen für grosse Löhne

Bau- und Immobilienkonzerne behaupten, durch Abriss und Neubau entstehe mehr Wohnraum für alle. Doch Forschungen belegen das Gegenteil. «Die Schweiz auf Abriss», Folge 5.

Von Sven Niederhäuser («Correctiv») und Saskja Rosset (Bilder), 11.03.2024

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Jedes Jahr fehlen in der Schweiz 5000 bis 10’000 Wohnungen. Weil die Flächen für Neubauten immer knapper werden, empfiehlt der Baumeister­verband, bestehende Bauten abzureissen und durch neue zu ersetzen. «Bei Ersatz­neubauten wird heute durch­schnittlich jede abgebrochene Wohnung durch zwei neue ersetzt, während die Wohnfläche sogar verdreifacht wird», schreibt er in einer Medien­mitteilung. So könnten dank Abriss und Neubau in den bestehenden Wohn­quartieren deutlich mehr Personen wohnen.

Dieser Argumentation von Investoren, Bau- und Immobilien­firmen widerspricht David Kaufmann. Er ist Leiter des Netzwerks Stadt und Landschaft an der ETH Zürich und forscht zu Bauen, Verdrängung und Gentrifizierung. «Bei Abriss und Neubau entsteht oft teurer Wohnraum mit nicht viel mehr Wohnfläche für zusätzliche Personen», sagt der Experte im Gespräch mit der Republik.

Und das hat Folgen: Während die Branche am Bau neuer Wohnungen verdiene, litten diejenigen, die bereits abgehängt seien. «Bei einem Abriss und Neubau müssen häufig ärmere, ältere und ausländische Personen ausziehen», sagt Kaufmann.

Somit trägt der Abriss­wahn nicht nur zum enormen Abfall­aufkommen und zu einem beträchtlichen Teil der Treibhausgas­emissionen bei, sondern führt auch zu einer Verdrängung.

13’700 Personen in Zürich betroffen

Nirgendwo in der Schweiz zeigt sich das so stark wie im Kanton Zürich. Eine Studie von Kaufmann und seinem Team belegt, dass hier neue Wohnungen hauptsächlich durch Ersatz­neubauten entstehen.

Die Auswirkung: Von 2014 bis 2019 mussten 7400 Personen umziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten, nachdem ihre Wohnungen Ersatz­neubauten hatten weichen müssen. Etwas weniger, 6300 Personen, wurden in derselben Zeit durch Total­sanierungen verdrängt. Laut Kaufmann verdienen die verdrängten Zürcher Haushalte fast 4800 Franken pro Monat weniger als die Einwohner der Stadt im Durchschnitt.

Wohnraum für alle schaffen sieht anders aus. Dabei hätten ausländische Personen und Allein­erziehende eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit, verdrängt zu werden, sagt Kaufmann: «Personen mit einer afrikanischen Staats­bürgerschaft oder vorläufig aufgenommene Geflüchtete werden dreimal so oft verdrängt, Allein­erziehende doppelt so oft.»

Laut Kaufmann ziehen die verdrängten Personen oft von der Stadt in die Agglomeration, weil dort die Wohnungen eher bezahlbar sind. Das wirkt sich negativ auf ihr Leben aus. «Verdrängung führt zum Verlust von sozialen Kontakten, auch bei Kindern. Sie müssen die Schule oder die Kita wechseln.» Dazu kommt, dass es ausserhalb der Stadt weniger Angebote für Kinder­betreuung gibt. «Das führt wiederum dazu, dass die Chancen­gleichheit nicht sichergestellt ist. Denn in der Stadt und in den reichen Umland­gemeinden sind die Matura­quoten deutlich höher», sagt Kaufmann. Nicht selten würde die Verdrängung auch zu psychischen Problemen bei Betroffenen führen.

Laut dem Experten ist die Praxis unvereinbar mit den Plänen der Politik. «Die Verdrängung widerspricht den Zielen der Stadt­entwicklung, weil sie die angestrebte Durch­mischung der Städte verfehlt und ärmere Personen eher auf Verbindungen von Tram, Bus und Zug angewiesen sind.» Infrastruktur, die in ländlichen Gebieten nicht so flächen­deckend vorhanden ist wie in den Städten.

«Die Schweiz auf Abriss» – machen Sie mit!

Im Abriss-Atlas rufen wir Sie dazu auf, Gebäude zu nennen, die abgerissen wurden oder noch werden – wir recherchieren auf dieser Basis zu den Hinter­gründen. Unter dem Titel «Die Schweiz auf Abriss» veröffentlicht die Republik gemeinsam mit «Correctiv» Beiträge und Recherchen zu den ökologischen, ökonomischen und wohn­politischen Folgen der aktuellen Abrisspraxis.

Der «Correctiv»-Crowd-Newsroom ist ein gemein­nütziges Projekt, das Bürgerinnen bei journalistischen Recherchen miteinbezieht. Der Abriss-Atlas wird von der Toni Piëch Foundation und der Stiftung Mercator Schweiz unterstützt.

Eine Auswertung der inzwischen über 1300 Einträge im Abriss-Atlas zeigt: Am häufigsten werden Gebäude abgerissen, um an gleicher Stelle Profit mit zusätzlichem Wohnraum zu erzielen.

So wird uns dort berichtet: Mutmassliche Spekulanten kauften ein Einfamilien­haus für 1,3 Millionen Franken im aargauischen Bergdietikon. Nun reissen sie es ab und bauen ein Doppel-Einfamilien­haus zu je 1,6 Millionen. In Dübendorf bei Zürich wurden 4 Gebäude abgerissen, die laut einem Eintrag im Abriss-Atlas voll funktions­fähig waren und preiswerte Wohnungen boten: «Da wohnten Familien, die dem Quartier eine willkommene Vielfalt brachten.» Nun entstehen dort Eigentums­wohnungen. Der Katalog lässt keinen Zweifel daran, dass zahlungs­kräftige Kundschaft angesprochen wird. Eigentümerin ist eine Pensions­kasse. Und die braucht vor allem Profite, um künftige Pensions­zahlungen abzusichern.

Profitmaximierung ist für David Kaufmann von der ETH der Hauptgrund für die Fehl­entwicklung. Abgerissen und neu gebaut würden hauptsächlich Häuser aus den 1950er- und 1960er-Jahren mit eher bezahlbaren Wohnungen. «Dort können die Investoren die grösste Differenz zwischen den bestehenden und zukünftigen Miet­einnahmen erzielen.» Sprich: die grösste Rendite herausholen.

Auch wenn die Studie nur den Kanton Zürich betrifft, sieht der Experte dieselben Probleme in anderen beliebten Wohn­gebieten: «Schweizweit profitieren Bau- und Immobilien­firmen, Investoren, Architektur­büros und Planerinnen der Verwaltung von Abriss, Neubau und Verdrängung.»

Profit im Vordergrund

Den Verdrängungseffekt bestätigt Architektin Anne Nyffeler. Sie engagiert sich bei Architects for Future für eine nachhaltige Bauwende. Über ein Projekt, das sie in der Zentral­schweiz bearbeitete, erzählt sie: «Bei einem Abriss und Neubau musste eine ältere Frau ausziehen, die in diesem Haus geboren wurde. Sie wäre gerne zurück­gekommen, konnte es sich aber nicht mehr leisten.»

Im selben Gebäude in alten, eher kleinen Wohnungen lebten viele Personen mit Migrations­hintergrund. Auch sie hätten aufgrund der erhöhten Mieten und der Bauzeit ausziehen müssen, sagt Nyffeler. «Heute noch frage ich mich, wo sie eine neue Wohnung fanden.»

Doch schnell merkt Nyffeler, dass das so nicht für sie stimmt. Heute nutzt sie ihre gesammelten Erfahrungen, um Wieder­verwendung im Bau und klima­resiliente Raum­entwicklung zu fördern. Der gemein­nützige Verein Architects for Future solidarisiert sich mit der «Fridays for Future»-Bewegung und hat Ortsgruppen in der Schweiz, in Deutschland, Dänemark bis hin nach Pakistan.

Die Mitglieder fordern unter anderem, Abrisse kritisch zu hinterfragen und soziale Verantwortung wahrzunehmen. Es müsse dringend ein Umdenken stattfinden, sagt Nyffeler. «Ich habe live erlebt, wie viel Material und Zeit die Baubranche verschwendet. Viel zu oft geht es um kurzfristigen Profit.»

Wohnen als Grund­bedürfnis

In der Schweiz leben rund 60 Prozent der Bevölkerung zur Miete. Dass viele Mieterinnen durch Abriss und Neubau verdrängt werden, kritisiert Jennifer Duyne Barenstein, Leiterin des Wohnforums der ETH. Das Forschungs­zentrum analysiert die Auswirkungen der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf Wohn­bedürfnisse und gelebte Wohnrealitäten.

Sie sagt: «Wohnen ist ein Grund­bedürfnis. Es kann nicht sein, dass die meisten profit­orientierten Unternehmen so miserabel mit den Mieterinnen und Mietern umgehen.» Besonders hart sei die Verdrängung für ältere Personen. «Sie müssen teilweise frühzeitig ins Altersheim, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden.» Das mache sie unglücklich und verursache volkswirtschaftliche Kosten.

Die Expertin kennt mehrere «katastrophale» Projekte in Zürich, bei denen es um «reine Spekulation» gehe: etwa die Siedlung Heuried-Küngenmatt in Wiedikon. Dort sollen nächstes Jahr rund 100 Wohnungen Ersatz­neubauten weichen. «Die Wohnungen wurden vor wenigen Jahren saniert und Solar­panels eingebaut. Ein Abriss und Neubau ist völliger Unsinn», sagt Duyne Barenstein. Mieter, Vereine und Politikerinnen wie die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran wehren sich dagegen.

Laut eigenen Angaben führt die Credit Suisse das Projekt im Auftrag eines Immobilien­fonds aus, in den mehrheitlich Schweizer Pensions­kassen investieren. Die Liegenschaft sei über 80 Jahre alt und müsste in naher Zukunft umfassend saniert werden, sagt die CS auf Anfrage: «Mit dem Neubau können auf der gleichen Fläche 41 zusätzliche Wohnungen geschaffen werden, was zur Linderung der Wohnungs­knappheit in der Stadt Zürich beiträgt.»

Auch Genossenschaften reissen oft ab

Doch nicht nur profitorientierte Unternehmen reissen ab, um neu zu bauen. Weit vorne dabei sind die Genossenschaften. In Zürich wurden allein im letzten Jahr rund 1800 Wohnungen abgebrochen und neu gebaut. Laut dem Statistikamt waren Genossenschaften und private Gesellschaften beinahe gleicher­massen dafür verantwortlich. Jennifer Duyne Barenstein überrascht das nicht: «In den letzten Jahrzehnten haben Genossenschaften in Zürich am häufigsten abgerissen und neu gebaut.»

Der Verband der Wohnbau­genossenschaften Zürich gibt auf Anfrage zu: «Zwischen unserem strategischen Ziel, uns für mehr preisgünstige Wohnungen einzusetzen, und unserer sozialen und ökologischen Verantwortung gibt es leider gewisse Zielkonflikte.» Abriss und Neubau würden jedoch «nie aus Überlegungen der Rendite­optimierung» durchgeführt.

Immerhin: Genossenschaften besorgten betroffenen Mieterinnen und Mietern eine neue Wohnung, sagt Duyne Barenstein. Bei privaten Investoren sei das anders. «Die meisten profit­orientierten Unternehmen bewegen keinen Finger, um die Leute bei der Suche nach neuen Wohnungen zu unterstützen.»

Auf diese Kritik hätten wir gerne konkrete Antworten von Investorinnen und Akteuren der Bau- und Immobilien­branche erhalten. Doch viele schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Konkrete Antworten erhalten wir lediglich vom Haus­eigentümer­verband (HEV) und vom Schweizerischen Verband der Immobilien­wirtschaft (Svit).

So bestätigt der Svit, dass die Verdrängung hauptsächlich in älteren Häusern stattfindet. Das habe ökonomische Gründe, da der Wert der Häuser sinke, je näher sie am Ende ihres Lebens­zyklus seien. Die höheren Mieten nach einem Neubau entstünden, weil grössere Wohnungen gebaut würden, und die Baukosten pro Quadrat­meter seien aufgrund der Teuerung sowie der erhöhten Bau­vorschriften und des Ausbau­standards gestiegen.

Dass die Schweizer Bevölkerung in immer grösseren Wohnungen lebt, zeigt das Bundesamt für Statistik. Seit den 1960er-Jahren ist die durchschnittliche Wohnfläche pro Person um 5 Quadratmeter auf 46,5 Quadratmeter gestiegen. Als Faustregel gilt auch hier: Wer mehr verdient, hat mehr Wohnfläche zur Verfügung.

Den Baumeisterverband freuts. Er schreibt in einem Beitrag auf seiner Website: «Die Verdichtung und der Ersatz­neubau ermöglichen es aber, auf einer gegebenen Fläche mehr Platz pro Wohnung und Bewohner herauszuholen. (...) Steigt die Nachfrage für grössere Wohnungen, profitiert davon auch die Baufirma.»

Auf Anfrage präzisiert ein Sprecher: «Vor allem in Orten mit tiefer Leerstands­quote wie Zürich kann es zielführender sein, in einem ersten Schritt primär Nicht­wohngebäude durch Wohn­gebäude zu ersetzen.» Ausserdem könnten in bestehenden Wohn­quartieren durch Ersatz­neubauten wie auch flächen­deckende Aufstockungen deutlich mehr Personen wohnen, ohne dass wertvolle Erholungs­räume verloren gehen.

Auch für den HEV ist der Abriss oft die «effizienteste Methode», um die von den Behörden geforderte und geförderte Verdichtung umzusetzen: «Man kann nicht ohne Konsequenzen das Bauland verknappen, energetische Sanierungen fordern, immer mehr Bauvorschriften erlassen und gleichzeitig eine hohe Zuwanderung zulassen, das geht nicht auf», schreibt ein Medien­sprecher auf Anfrage.

Zudem sei Profit «bedauerlicher­weise zu Unrecht schlecht konnotiert». Denn oft seien es Pensions­kassen, die in Mehrfamilien­häuser investieren. «Diese sind auf Profit angewiesen, damit unsere Pensions­guthaben wachsen.»

Strengere Regeln für Neubauten

Dieser Mechanismus ist für David Kaufmann von der ETH alles andere als logisch. Laut ihm wäre die Lösung eigentlich simpel. «Es braucht mehr Aufstockung und Anbauten statt Abriss und Neubau. So können die Bewohnenden in den Häusern bleiben, und es gibt wenig graue Emissionen und Bauabfall.» Drei bis vier Stockwerke könnten an manchen Häusern aufgestockt werden.

Er räumt ein, dass eine Aufstockung mit höherem Aufwand verbunden sei, als alles abzureissen und neu zu bauen. Dies führe zu Planungs­unsicherheit, und dadurch sei weniger Rendite möglich. Doch statt ihr Business umzustellen, würden sich die Koalitionen der Profiteure gegen eine nachhaltigere Lösung wehren: «Es wird vor allem über eine Bauwende gesprochen, doch gebaut wird danach kaum.» So gebe es von seinen Studierenden mehrere Vorschläge und Visualisierungen von grossflächigen Aufstockungen – Projekte, die umgesetzt würden, kenne er jedoch keine.

Investorinnen, die Bau- und Immobilien­branche sowie die Politik sind gleicher­massen gefordert, genügend Wohnraum zu schaffen, ohne dabei die Mieter aus ihrem Zuhause zu verdrängen. Die angefragten Expertinnen sind sich einig: Es soll weniger abgerissen und neu gebaut werden. Dafür müssten Ersatz­neubauten teurer werden, beispielsweise durch die Einführung von Grenzwerten für graue Emissionen.

Gleichzeitig müssten die Hürden für Sanierungen, Umbauten und Renovationen abgebaut werden. Auch nachhaltige und soziale Aspekte sollten bei Baubewilligungen eine zentrale Rolle spielen. Kaufmann sieht dabei auch die Haus­besitzer in der Pflicht: «Eigentümerinnen sollen Verantwortung übernehmen, damit es zu keiner Verdrängung kommt.»

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