Die Abrissfalle
In der Schweiz werden jedes Jahr Tausende Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Dabei werden Unmengen an CO2 freigesetzt. Auftakt zur Serie «Die Schweiz auf Abriss».
Von Philipp Albrecht (Text) und Saskja Rosset (Bilder), 12.01.2024
Der Bergacker wird abgerissen, so viel steht fest. Die 70 Jahre alte Siedlung in Zürich-Affoltern hat ihre besten Zeiten hinter sich.
Die Eigentümer der insgesamt 30 Mehrfamilienhäuser wollen alles neu und vermeintlich besser machen: moderne Heizung, bessere Dämmung, zeitgemässe Raumaufteilung, Fahrstühle, um Barrierefreiheit zu schaffen, und nicht zuletzt: mehr Wohnungen.
Die 900 Mieterinnen erhalten bald die Kündigung. Eine Analyse zeigt, dass ihr durchschnittliches Einkommen deutlich tiefer ist als im Quartier und in der Stadt. Selbst wenn sie bei den neuen Wohnungen dereinst bevorzugt behandelt werden: Längst nicht alle können sich eine solche Neubauwohnung leisten.
Neben dem sozialen Problem gibt es am Bergacker auch ein ökologisches. Es geht um die Frage, wie stark ein Abbruch und Neubau des Bergackers das Klima belastet.
In der Schweiz werden jedes Jahr Tausende Häuser abgerissen. Das hat gravierende ökologische, ökonomische und wohnpolitische Folgen. Eine gemeinsame Rechercheserie der Republik und von «Correctiv». Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 1
Die Abrissfalle
Folge 3
Wenn Heimatschützer plötzlich für den Abriss sind
Folge 4
Grauzone
Folge 5
Grosse Wohnungen für grosse Löhne
Folge 6
Das grosse Geschäft mit Zwischennutzungen
Folge 7
Plädoyer für ein herrliches Durcheinander
Der Versicherungskonzern Swiss Life – er ist der grösste Immobilienbesitzer im Land – und die gemeinnützige Wohnbaugesellschaft Habitat 8000 sind im Besitz der 30 Häuser. Beide verbindet die Überzeugung, dass eine Sanierung anstelle von Neubauten «aus ökologischer und ökonomischer Sicht nicht nachhaltig» sei.
Dass die Besitzer wirtschaftlich profitieren, wenn sie in Zürich Neubauten erstellen, ist angesichts der Wohnungsnot nachvollziehbar. Aber das Klima wird damit nicht geschont. Im Gegenteil.
Graue Emissionen
Abreissen und neu bauen im Sinne der Nachhaltigkeit: Dieses Argument hat sich auf dem Schweizer Immobilienmarkt längst durchgesetzt. Nicht zuletzt deshalb arbeiten die Abbruchgreifer auf Hochtouren. Für Hausbesitzerinnen und Immobilienfirmen lohnt sich das, weil die Zinslage in den letzten 15 Jahren Investitionen begünstigte und die Renditechancen hoch waren.
Wie viele Häuser bisher weichen mussten, weiss niemand genau. Der Bund erhebt dazu keine Zahlen, der Schweizerische Baumeisterverband schätzt die Zahl auf 4000 bis 5000 Gebäude pro Jahr. Allein in der Stadt Zürich, das ist wenigstens amtlich belegt, wurden seit 2002 jedes Jahr im Schnitt 300 Gebäude abgerissen.
Als das Bundesamt für Umwelt 2015 das jährliche Abbruchvolumen für die ganze Schweiz schätzen liess, kam man auf 10 Millionen Kubikmeter Material. Das sind etwa 80’000 durchschnittliche Schweizer Einfamilienhäuser.
Ein spezifisches Abrissargument wird besonders oft genannt: Baut man neue Gebäude mit besserer Isolation und Wärmepumpen, spart man fossile Brennstoffe ein und reduziert die emittierten Treibhausgase.
Doch dieses ökologische Versprechen hat einen Haken. Es blendet die Tatsache aus, dass bei einem Abriss und Neubau massiv mehr Treibhausgase ausgestossen werden, als wenn ein bestehendes Gebäude saniert oder daran weitergebaut wird.
Es geht um graue Emissionen. Sie stecken in den Betonwänden, Stahlträgern, Backsteinen und allen anderen Materialien, aus denen ein Gebäude besteht.
In der Immobilienbranche ist die Tatsache, dass bei der Herstellung von Baustoffen CO2 ausgestossen wird, noch kaum ein Thema. Dabei ist der Ausstoss enorm: Auf den Gebäude- und Bausektor, der nicht nur alle Produktionsschritte, sondern auch den Betrieb von Gebäuden umfasst, fallen global 37 Prozent des gesamten CO2-Ausstosses. Rund ein Drittel davon, also etwa 12 Prozent der gesamten Emissionen, entfallen auf den Bau.
Der in der Schweiz am häufigsten verwendete Baustoff ist Beton. Er besteht aus Sand, Kies, Wasser und Zement. Um Zement herzustellen, sind Temperaturen von bis zu 2000 Grad nötig, die sich bislang ohne fossile Brennstoffe nicht erzielen lassen. Diese setzen bei der Verbrennung nicht nur selbst viel CO2 frei, sondern verursachen im Brennofen auch einen chemischen Prozess, bei dem der noch grössere Teil der Treibhausgasemissionen der Zementherstellung entsteht. Die Schweizer Baubranche setzt überdurchschnittlich viel Zement ein: Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch ist hier mit über einer halben Tonne um 60 Prozent höher als in Deutschland.
Wird ein Gebäude abgerissen, landet ein grosser Teil des Bauschutts auf Deponien. Einzelne Materialien werden auch in Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt. Rechnet man alle Abfälle aus Hoch- und Tiefbau zusammen, machen sie mehr als 80 Prozent des gesamten Schweizer Abfallaufkommens aus. Zwar können zwei Drittel des Abbruchbetons und über 80 Prozent des Stahls rezykliert werden, allerdings nur unter beträchtlichem Energieaufwand.
Denkpause statt Abrisswahn
Im Pariser Klimaabkommen hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 50 Prozent zu senken. Die Deadline dafür ist das Jahr 2030.
Die Bauunternehmen, vertreten durch den Baumeisterverband, sagen: «Nur wenn wir es schaffen, alte Gebäude durch neue, klimaneutrale und höher gebaute Ersatzneubauten zu ersetzen, erreichen wir die ambitionierten Klimaziele.»
Dazu reiche die Zeit nicht, hält eine wachsende Zahl von Architekturschaffenden dagegen. «Wir brauchen eine Bewilligungspflicht für den Abriss, wenn nicht sogar ein vorläufiges Abrissmoratorium», sagt Leon Faust, Architekt in Basel und Mitgründer des Netzwerks Countdown 2030, zur Republik. «Nötig ist eine Denkpause, um zukunftsfähige Lösungen zu finden. Wenn wir Gebäude sanieren und weiterentwickeln, statt sie abzureissen, reduzieren wir unsere Emissionen am schnellsten. Das ist heute der effizienteste und einfachste Hebel für eine nachhaltige Baupolitik.»
Countdown 2030 besteht aus über 60 Architekturschaffenden, die gegen die Umweltschäden der Baubranche protestieren. Ähnliche Vorstösse gibt es auch in anderen Ländern. Eine der grösseren Initiativen – House Europe – richtet sich an das EU-Parlament, um eine neue Gesetzgebung anzustossen.
Alle Aktivisten teilen die Ansicht, dass mehr Gebäude saniert statt abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden müssen. «Der Bau eines neuen Gebäudes frisst heute gleich viel Energie wie dessen Betrieb während 50 bis 60 Jahren», sagt Faust. Das sei deshalb so, weil sich in den letzten 20 Jahren beim Betrieb ökologisch viel getan habe. «So sind heute saubere Heizungssysteme und eine gute Isolation Standard.»
Um die Abrissdimensionen in der Schweiz sichtbar zu machen, hat er gemeinsam mit Kolleginnen von Countdown 2030 den Abrissatlas kreiert. Jeder kann auf der Onlinekarte ein Abbruchobjekt melden und einen Kommentar dazu verfassen. Der Abrissatlas verzeichnet bereits über 1000 Objekte. Damit wollen die Architektinnen nicht nur Bewusstsein schaffen, sondern auch politischen Druck erzeugen.
«Die Schweiz auf Abriss» – Recherche und Podium
Unter diesem Titel veröffentlicht die Republik gemeinsam mit «Correctiv» in den nächsten Wochen Beiträge und Recherchen zu den ökologischen, ökonomischen und wohnpolitischen Folgen der aktuellen Abrisspraxis. Im Abrissatlas rufen wir Sie, liebe Verleger, dazu auf, Gebäude zu nennen, die abgerissen werden sollen oder abgerissen wurden – wir recherchieren auf dieser Basis zu den Hintergründen. Der «Correctiv»-Crowd-Newsroom ist ein gemeinnütziges Projekt, das Bürgerinnen bei journalistischen Recherchen miteinbezieht. Der Abrissatlas wird von der Toni Piëch Foundation und der Stiftung Mercator Schweiz unterstützt.
Am Mittwoch, 17. Januar 2024, um 19.30 Uhr veranstaltet die Republik gemeinsam mit «Correctiv» dazu eine Podiumsdiskussion im Kunstraum Walcheturm in Zürich. Zu Gast sind unter anderem Vittorio Magnago Lampugnani (Architekturtheoretiker), Sarah Barth (Architektin Countdown 2030) und Balz Halter (Verwaltungsratspräsident des Immobilienkonzerns Halter). Moderiert wird das Podium von Antje Stahl, Feuilleton-Redaktorin und Architekturkritikerin der Republik.
Renovation des Bergackers ist besser fürs Klima
Auch der Bergacker in Zürich-Affoltern ist im Abrissatlas eingezeichnet. Das Neubauprojekt hat für einige Kritik gesorgt. Der Mieterverband hinterfragte die Pläne und gab Analysen zu den ökologischen und sozialen Folgen in Auftrag. Zwei Architekturstudenten der ETH, Rémi Jourdan und Philip Kaiser, verfassten auf Eigeninitiative eine 140-seitige Vertiefungsarbeit zu den Kosten und zur Ökobilanz. Darin zeigten sie unter anderem die ökologischen Folgen auf.
Konkret: Sanierte man die Gebäude, anstatt sie abzureissen, und erweiterte man sie um ein beziehungsweise zwei Stockwerke sowie einzelne Anbauten, würden sie über einen Zeitraum von 68 Jahren 17’000 Tonnen CO2-Äquivalente ausstossen. Bei einem Neubau, wie er ursprünglich geplant gewesen war, wäre der Ausstoss mit insgesamt 38’000 Tonnen mehr als doppelt so hoch. Allein die Erstellungsemissionen, also der Prozess des Abreissens und Neubauens, betragen 31’000 Tonnen.
Eine Sanierung und Erweiterung am Bergacker wäre ökologischer
Vergleich der Treibhausgasemissionen während 68 Jahren, in t CO²e.
Quelle: «Beispiel Bergacker».
Ein Abrissverzicht wäre also in dieser Berechnung deutlich klimafreundlicher. Allerdings fänden in den Ersatzneubauten durch den zusätzlichen Wohnraum 43 Prozent mehr Personen in der Siedlung Platz.
Angesichts der massiv besseren Ökobilanz empfehlen die Autoren in ihrem Fazit den Verantwortlichen einen Neustart: «Wir sehen ein grosses Potenzial für die Grundeigentümerinnen, sich nochmals grundsätzliche Überlegungen zum Erhalt des Bestandes zu machen.»
Zwar gehen Swiss Life und Habitat 8000 inzwischen unterschiedliche Wege bei der Erneuerung ihres jeweiligen Teils der Siedlung, doch beide halten an Neubauten fest. Und beide stellen die Aussagekraft der ETH-Studie infrage.
Philip Blum, Geschäftsführer von Habitat 8000, sagt, der sehr schlechte Zustand der vorhandenen Bausubstanz sei unter anderem zu wenig berücksichtigt worden. Deswegen käme man bei einem Umbau nicht darum herum, sämtliche Bauteile bis auf die Grundmauern zu erneuern. «Dadurch nähern sich die Bilanzen der beiden Varianten in allen Bereichen der Nachhaltigkeit an, auch im Bereich Ökologie», sagt Blum. Swiss Life argumentiert ähnlich.
Habitat 8000 hat sich inzwischen für eine ökologischere Neubauvariante mit viel Holz und weniger Beton entschieden. Sie kam unter anderem durch eine Neuberechnung zustande, die zeigt, dass mit einem ökologischen Bau die Klimabelastung deutlich tiefer ist als von den ETH-Studenten berechnet. Zwar schneidet die Umbauvariante immer noch besser ab, allerdings ist der Unterschied laut Blum vernachlässigbar klein.
Swiss Life schreibt, man habe für ihre separate Ausschreibung «gewisse Erkenntnisse aus der ETH-Studie» einfliessen lassen. Wichtig sei für das Unternehmen aber auch, dass der starken Nachfrage nach mehr Wohnraum in der Stadt Zürich Rechnung getragen werde. Dies sei mit der Neubauvariante besser gelöst.
Den Abbruch an den Steuern abziehen
Einer der grösseren Immobilienkonzerne der Schweiz, die sich zunehmend mit ökologischerem Bauen befassen, ist die Halter AG. Das Generalunternehmen mit Sitz in Schlieren hat sich auf die «Entwicklung von Arealen und Projekten im urbanen Kontext» spezialisiert und prüft nach eigenen Angaben bei jedem Projekt, ob sich eine Sanierung lohnt. «Wir suchen unter Würdigung aller Faktoren die beste Lösung», sagt Verwaltungsratspräsident Balz Halter zur Republik. «Da spielt neben der Wirtschaftlichkeit und der Ökologie zum Beispiel auch die Identität von Gebäuden eine wichtige Rolle.»
Das Problem: Graue Emissionen exakt zu berechnen, sei schwieriger, als es klinge. «Wir müssen den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden anschauen, und dazu brauchen wir Daten, die nicht immer in der nötigen Qualität vorhanden sind. Die Digitalisierung wird uns da helfen können.»
Auch für die Architekten von Countdown 2030 ist die Frage nach der Datenqualität wichtig. «Aber sie darf dem Handlungsbedarf nicht im Weg stehen», sagt Leon Faust. «Angesichts des Zeitdrucks fordern wir grosse Schritte, etwa die Einführung von Bewilligungspflichten und Grenzwerte für graue Emissionen mit steilen Absenkpfaden.»
Faust spricht von einem neuen Gebäudeschutz, der die endlichen Ressourcen berücksichtigt: «Die Berner Innenstadt darf niemand abreissen, dafür haben wir das Denkmalschutzgesetz. Eine Wohnsiedlung aus den 1970er-Jahren ist heute gesetzlich nicht erhaltenswert, aus Ressourcensicht aber sehr wohl. Es ist dringend nötig, dass ein Ressourcenschutz im Rahmen des Umweltschutzgesetzes eingeführt wird.»
Auch Halter spricht sich für Zurückhaltung beim Abbruch von Bestandesbauten aus, aber nicht um jeden Preis: «Gerade in der Agglomeration, wo man städtebaulich nicht immer ideal agiert hat, muss man im Sinne einer inneren Siedlungsentwicklung da und dort abreissen können», sagt der Bauunternehmer. Der zunehmende Bedarf an Wohnfläche sei mit Aufstockungen und Anbauten allein nicht zu stemmen. Städte und Gemeinden müssten aber klar definieren, in welchen Zonen Neubauten möglich sein sollen und wo nicht.
Die Politik steht vor vielen neuen Fragen. Und sie muss Fehler aus der jüngeren Vergangenheit korrigieren. Zum Beispiel die erst 2020 eingeführten Steuererleichterungen für Abrisse – eine Massnahme, die ausgerechnet aus der Energiestrategie 2050 heraus entstanden war.
Die Absicht dahinter war, Anreize zu schaffen, damit Neubauten statt auf der grünen Wiese auf Boden errichtet werden, auf dem bereits gebaut worden ist. In Kombination mit Energieeffizienzvorschriften bei Neubauten ergab eine solche Regelung vordergründig Sinn, da sie dazu führt, dass viel Betriebsenergie eingespart werden kann. Allerdings fehlte es damals am politischen Willen, auch die grauen Emissionen in die Gesetzgebung einfliessen zu lassen.
Es geht nur in sehr kleinen Schritten voran. Letztes Jahr beschloss das Parlament nach fast vierjähriger Debatte, einen schweizweiten Grenzwert für graue Emissionen «bei Neubauten und bei wesentlichen Erneuerungen bestehender Gebäude» einzuführen.
Allerdings gilt dieser nicht schweizweit, sondern muss jeweils noch in jedem Kanton einzeln umgesetzt werden. Der ganze Prozess beginnt damit quasi von neuem. Bis die Schweizer Baubranche sämtliche Emissionen in die Ökobilanz eines Gebäudes miteinbeziehen muss, wird wertvolle Zeit vergehen.
In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass der Bundesrat den Grenzwert für graue Emissionen den Kantonen überlassen wollte. Das war nicht korrekt. Die Einführung auf Kantonsebene war bereits im Initiativtext vorgesehen.