«Eine Zerstörung von planetarischem Ausmass»
Die Baubranche verursacht massiven Ressourcen-Verschleiss. Darin sind sich Architektinnen einig. Braucht es einen globalen Baustopp? Oder reichen neue Gesetze für eine Trendwende? Ein Gespräch.
Von Antje Stahl (Text) und Saskja Rosset (Bilder), 17.01.2024
Bisher sind uns keine Architekten begegnet, die sich an Gebäude kleben, wie das die Klimaaktivisten seit geraumer Zeit mit Gemälden in Museen machen. Die Wut aber, die angesichts steigender Temperaturen und unaufhaltsamer Umweltzerstörung immer grösser wird, die teilen auch Architektinnen und bringt immer mehr dazu, sich politisch zu engagieren. Wir trafen zwei von ihnen – Charlotte Malterre-Barthes aus Lausanne und Olaf Grawert aus Berlin –, um zu verstehen, mit welchen Mitteln sie kämpfen, damit die Klimaziele erreicht werden können.
Charlotte Malterre-Barthes, in einem Moratorium, das seit drei Jahren in der Architekturszene kursiert, fordern Sie einen radikalen globalen Baustopp. Warum?
Charlotte Malterre-Barthes: Jede von uns war während der Pandemie doch mit diesem von Bruno Latour beschworenen Stillstand des Weltwirtschaftssystems konfrontiert: Flugzeuge hoben nicht mehr ab, Schiffe verliessen keine Häfen mehr, ganze Berufszweige mussten ihre Produktion einstellen. Architekten hingegen nicht. Sie wurden gebeten, weiterzumachen wie bisher. Auch auf Baustellen ging man nach wenigen Wochen Lockdown einfach wieder an die Arbeit – und sei es mit Maske. Mich traf diese Tatsache damals wie eine Eingebung: Das Baugewerbe ist so lange nicht in der Lage, den von ihm angerichteten Schaden anzuerkennen, bis es, jawohl: «radikal» dazu gezwungen wird.
Der französische Philosoph Bruno Latour glaubte, die Pandemie könne den «Zug des Fortschritts» aussetzen und zu einer «Chance für den Umweltschutz» werden. Ausgerechnet die Bauindustrie ist nun aber – wenn man den realen Gesamtenergie-Gebrauch berücksichtigt – für fast 40 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Malterre-Barthes: Wenn es um den Klimawandel geht, sprechen immer noch viele über Flugzeuge und Autos, die Fleischindustrie oder meinetwegen über Mode. Neben den atemberaubend hohen Treibhausgasemissionen verursacht die Baubranche ja noch ganz andere massive und irreparable Schäden, nicht zuletzt an Land und Boden – Ressourcenausbeutung, Materialverschleiss durch Abriss und Neubau, die Zerstörung ganzer Landstriche. Und ohne einen Aufschub oder auch eine Art Schock wird sich daran auch nichts ändern.
Würden Sie, Olaf Grawert, Ihre Arbeit als Partner eines europaweit gefragten Architekturbüros gerne niederlegen?
Olaf Grawert: Als Charlotte uns von dem Moratorium erzählte, erlebten wir tatsächlich eine Art Aufschub. Wir arbeiteten zwar weiter an einem Bauprojekt in Italien und hatten einen Entwurf für das Design eingereicht, jedoch wie bei so vielen internationalen Auftragslagen kein Mitspracherecht darüber, wo die dafür notwendigen Bauteile produziert werden. Der Bauherr fand unsere Vorschläge für lokale Lieferketten grossartig, aber schlichtweg zu teuer. Er wollte alles in China herstellen und dann verschiffen lassen.
Das klingt wie ein Klischee. Der Lockdown wird das wohl verhindert haben?
Grawert: Die Pandemie führte bekanntermassen sowohl in Italien als auch in China zu sehr harten Einschnitten. Das Projekt verzögerte sich entsprechend und konnte letztlich nicht mehr auf jene schnelleren, einfacheren und billigeren Lösungen aus China setzen, die so viele Versuche zunichtemachen, das Architekturwesen und seinen ökologischen Fussabdruck grundlegend zu verändern. Der Aufschub führte zu keinem Baustopp, aber immerhin zu einer neuen Baupraxis: Wir konnten das Projekt in Italien am Ende doch mit unseren lokalen Partnern realisieren, da sie trotz höheren Produktionskosten einen Zeitvorteil hatten.
Charlotte Malterre-Barthes, geboren 1977, arbeitet als Architektin und Assistenzprofessorin an der EPFL (École polytechnique fédérale de Lausanne). An der ETH Zürich, wo sie promovierte und den Master of Advanced Studies in Urban Design leitete, gehörte Malterre-Barthes zu den Gründungsmitgliedern der Parity Group, die sich für eine intersektionale Hochschulpolitik einsetzt und 2023 mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet wurde. 2021 lancierte Malterre-Barthes «A Global Moratorium on New Construction», um die Baubranche in Zeiten der sozialen Ungerechtigkeit und des Klimanotstands zur Verantwortung zu ziehen. Die gleichnamige Publikation, die die aktuellen Entwicklungen hinterfragt, erscheint im kommenden Herbst bei Sternberg Press.
Olaf Grawert, geboren 1987, arbeitet als Partner im Berliner Architekturbüro bplus.xyz (b+), als Lehrender am Departement Architektur, ETH Zürich, und ab Frühjahr als ausserordentlicher Professor am Politecnico in Mailand. 2021 gehörte er zum Kuratorenteam des Deutschen Pavillons auf der 17. Architekturbiennale in Venedig, für den eine Zukunftsgesellschaft entworfen wurde, die im ökologischen Einklang mit der Umwelt lebt. Gegenwärtig bereitet sein Büro eine Europäische Bürgerinitiative vor, in deren Rahmen der Gebäudebestand nachhaltiger geschützt werden soll – b+ ist für seine Umbauten von Bauruinen und Industrieanlagen bekannt geworden.
Nun ist die Pandemie vorbei – und es wird fröhlich weitergebaut, nicht zuletzt weil die Bevölkerungszahl wächst und Wohnungsnot herrscht. Möchten Sie nicht, dass Menschen ein bezahlbares Dach über dem Kopf finden?
Malterre-Barthes: Wenn man einen Baustopp fordert, werden automatisch Ängste freigesetzt. Menschen brauchen doch ein Zuhause! Und: Was passiert mit den Arbeitsplätzen? Das ist nachvollziehbar. Ein Blick auf das globale Baugewerbe genügt jedoch, um zu erkennen, dass die meisten Neubauten Kapitalanlagen und Spekulationsobjekte sind und kaum für jene Menschen gedacht sind, die sie bräuchten.
Grawert: Dafür gibt es zurzeit ein sehr anschauliches und skandalöses Fallbeispiel: die Insolvenz des von René Benko gegründeten Immobilienunternehmens Signa, über das seit Wochen in den Medien berichtet wird.
Viele von Signa geplante und sich bereits im Bau befindende Grossprojekte, etwa ein gigantischer Elbtower in Hamburg oder ein Luxuskaufhaus mit Hotel in Wien, sind von der Pleite betroffen; bei der Kaufhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, die der Signa Holding gehört, könnten nun Tausende ihren Job verlieren – und die Zukunft des Schweizer Warenhauses Globus ist ebenfalls ungewiss.
Grawert: Und das Sinnbild eines Spekulanten, der sich eine goldene Nase an Immobilien verdient hat, ist Benkos Privatvilla. Er hat sie bei Innsbruck bauen lassen – und zwar an Ort und Stelle eines historischen und funktionierenden Schlosshotels mit Türmchen und allem, das er dafür abreissen liess. Angesichts des Verlusts eines Stücks Tiroler Heimat können Leute verstehen, was in der Welt eigentlich vor sich geht: Es wird gnadenlos abgerissen und dann werden Neubauten errichtet mit Geld, das keinen realen Gegenwert hat.
In der Schweiz werden jedes Jahr Tausende Häuser abgerissen. Das hat gravierende ökologische, ökonomische und wohnpolitische Folgen. Eine gemeinsame Rechercheserie der Republik und von «Correctiv». Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
«Eine Zerstörung von planetarischem Ausmass»
Folge 3
Wenn Heimatschützer plötzlich für den Abriss sind
Folge 4
Grauzone
Folge 5
Grosse Wohnungen für grosse Löhne
Folge 6
Das grosse Geschäft mit Zwischennutzungen
Folge 7
Plädoyer für ein herrliches Durcheinander
Im Schweizer Abrissatlas kann jede und jeder ein Objekt verzeichnen, wenn bekannt ist, dass es gefährdet ist. Allein in Zürich werden jährlich rund 300 Gebäude abgerissen. Allerdings werden dafür nicht immer Privatvillen gebaut: Nach dem Abriss kommen ökologisch nachhaltige Ersatzneubauten, die die Städte verdichten und in denen mehr Menschen Platz finden. Die Neubauten sollen also vor Zersiedelung bewahren, vor der weiteren Zerstörung der Landschaft und damit auch das Klima schützen.
Grawert: Ersatzneubauten können es im Hinblick auf die dafür benötigten CO2-Emissionen nicht mit dem Bestand aufnehmen, der abgerissen wird. Jedenfalls nicht, wenn wir das CO2, das in den Gebäuden steckt, in die Rechnung aufnehmen – und nicht, wenn wir das von der Europäischen Union gesetzte Ziel erreichen wollen, bis im Jahr 2050 klimaneutral zu leben und zu wirtschaften. Wie schaffen wir das? Konkurrenzlos nachhaltig wäre der Umstieg auf erneuerbare Energien. Weil wir das nicht rechtzeitig genug umsetzen können, bleibt uns allein, den Gebäudebestand mit minimalem Aufwand zu renovieren, das heisst etwa Fenster erneuern oder Heiz- und Stromanlagen austauschen. Weil ein Neubau oder die Ertüchtigung auf Neubau-Standards für die Herstellung unendliche Mengen an CO2 verbrauchen, kann nichts anderes ökologisch mit einer Renovierung mithalten. Nichts.
Dabei ist das Hauptargument für einen Ersatzneubau gerade seine Nachhaltigkeit.
Malterre-Barthes: Die Kalkulation von angeblich ökologisch nachhaltigen Neubauten entsteht auf einem Lügengerüst: Weder der Abriss noch der Bauschutt, geschweige denn die graue Energie, die im Bestand enthalten ist, also alles, was für seine Errichtung in Sachen Material, Arbeitskraft, CO2 und so weiter bereits verbraucht wurde, werden in die Berechnung der Klimabilanz eines neuen Gebäudes eingerechnet.
Grawert: Der Wert eines bestehenden Gebäudes ist in der gegenwärtigen Praxis gleich null. Er wird einfach nicht bemessen. Jeder Mensch muss es doch verrückt finden, dass etwas, das funktioniert, einfach so und vor allem in diesem Umfang auf den Müll geworfen wird – Abrisse werden in der Schweiz zwar nicht gezählt, dafür aber der Abfall aus Bautätigkeiten: Sie sind für über 80 Prozent des gesamten Mülls in diesem Land verantwortlich! Im Vergleich zu anderen Ländern ist das extrem viel – in Deutschland sind es etwas über 50 Prozent, europaweit macht der Mineralabfall (zu dem Bautätigkeiten, Abbruch und Bergbau zählen) 64 Prozent des gesamten Abfallaufkommens aus. Würden keine Gebäude mehr abgerissen werden, könnte mit anderen Worten ganz besonders in der Schweiz sehr viel weniger Müll produziert werden. Der Abriss ist ja leider sogar steuerlich begünstigt!
Die Schweiz möchte eine neue Kreislaufwirtschaft fördern und wollte dafür landesweit Grenzwerte für «graue Energie bei Neubauten und wesentlichen Erneuerungen» festsetzen. Der SVP-Politiker Mike Egger stellte jedoch einen (erfolgreichen) Minderheitsantrag dagegen – und begründete diesen erstaunlicherweise ganz ähnlich wie Sie: Man müsse die «Verbauung» stoppen und eben nicht «jährlich 70 Prozent mehr Wohnungen erstellen als noch vor zwanzig Jahren».
Malterre-Barthes: Und Sie werden mich jetzt fragen, ob ich ihn deshalb zu meinen Freunden zähle, nicht wahr? Ein Baustopp-Moratorium ist ein legales Mittel, es wird also politisch instrumentalisiert werden. Die einen hetzen damit gegen Einwanderung und deshalb gegen mehr Wohnungen, die anderen – auch Nimbys genannt – möchten nicht, dass der Wert ihrer eigenen Immobilien sinkt, und verhindern deshalb den Bau von neuen Wohnungen.
Nimby steht für «not in my backyard», also nicht in meiner Nachbarschaft.
Malterre-Barthes: So etwas entspricht selbstverständlich nicht meiner Haltung. Ich fordere eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zielführenden Aktionismus im Hier und Jetzt. Stellen Sie sich vor, es gäbe das politische Mandat, die graue Energie nachzuweisen. Das würde bedeuten, dass eine Gesellschaft zu ihrem zerstörerischen Beitrag planetaren Ausmasses stehen müsste – und den verbauten Sand und Kies, die Verbrennungsanlagen, Waldrodungen, die an diesen Produktionsketten beteiligten Menschen und die Auswirkungen auf das Klima zum historischen Erbe erklärt. Wir würden längst nicht mehr über Abriss und Neubau diskutieren, schon eher über Reparationszahlungen.
Grawert: Ein pauschaler Abrissstopp wäre im Übrigen ebenfalls fatal: Es gibt zahlreiche konservative Stimmen, die das Erbe einer historischen Baukultur als Argument gegen «kulturelle Entfremdung» einbringen und es deshalb um jeden Preis schützen wollen. Man muss sich ganz genau fragen, warum nicht abgerissen und nicht neu gebaut werden soll: aus sozialen Gründen? Aus demografischen, wirtschaftlichen, denkmalpflegerischen oder aus ökologischen Gründen?
Sie sind beide davon überzeugt, dass der richtige Umgang mit der bestehenden Gebäudestruktur einer Stadt all das leisten kann. Die Frage ist und bleibt nur: Wie?
Malterre-Barthes: Wir sprachen bereits über die Urängste in der Bevölkerung – Wohnungsnot und Arbeitsplätze. Beginnen wir doch damit. Sascha Nick, ein Kollege an der EPFL, der Wirtschaftsmodelle untersucht, schätzt, dass es 125 Jahre brauchen würde, um den gesamten bestehenden Gebäudebestand der Schweiz zu sanieren – wenn allerdings die Arbeitskräfte aus dem Neubaugewerbe dafür zur Verfügung stünden, wären es nur 14 Jahre.
Grawert: Arbeitskraft wird also umgeleitet – weg vom Neubau hin zur Renovierung, Nachrüstung, Wartung und Pflege des Bestands. Das wurde längst erkannt. Auf EU-Ebene wurde im Rahmen des Green Deals eine sogenannte «Renovation Wave» beschlossen, in deren Rahmen explizit davon gesprochen wird, dass kleinere Architekturbüros wie unseres davon profitieren und mehr Aufträge bekommen werden. In einem Sektor, der rund 25 Millionen Menschen in 5,3 Millionen Firmen beschäftigt, gehören kleine und mittelgrosse Firmen zu den 99 Prozent.
Und was ist mit dem Wohnraum?
Malterre-Barthes: Im vergangenen Semester habe ich gemeinsam mit meinen Studierenden in Lausanne erforscht, wie wir bis zum Jahr 2030 insgesamt 30’000 zusätzliche Einwohnerinnen in der Stadt unterbringen können – und zwar ohne neu zu bauen. Es wäre ein Leichtes! Vorausgesetzt, wir wären bereit, auf weniger Fläche zu wohnen, Stadtgeräusche zu ertragen und den realen Leerstand auszunutzen.
In Zürich geht der Wohnungsleerstand mittlerweile praktisch gegen null.
Malterre-Barthes: Ich spreche nicht nur von Wohnungsbauten, sondern auch von Geschäften, Gewerbe- und Büroflächen sowie der grundsätzlichen Frage, wie wir leben wollen. In der Schweiz liegt der Wohnstandard im Schnitt bei mehr als 45 Quadratmetern pro Person, weltweit bei 14. Hier in meiner Nachbarschaft im Zürcher Kreis 4 mussten Familien einen Wohnungsbau verlassen und vor die Stadttore ziehen. Der Abriss wurde damit legitimiert, dass der Schallschutz nicht gewährleistet sei. Selbstverständlich möchte man seinen Nachbarn nicht, entschuldigen Sie, furzen hören. Angesichts der globalen Erderwärmung müssten die teilweise grotesken Richtwerte fürs Wohnen wie beim Schallschutz jedoch längst einer radikalen Raumpolitik gewichen sein, die einen Baustopp verhängt und damit neue Handlungsfelder eröffnet.
Und das soll eine zentrale Behörde der Planwirtschaft organisieren?
Malterre-Barthes: Ich plädiere nicht dafür, Menschen unter Zwang umzusiedeln, nein. Ich plädiere für neue Normen, neue Instrumente und Gesetze, die es uns erlauben, das meiste aus der bereits ge- und verbauten Umwelt herauszuholen.
Grawert: Ich sehe mich auch nicht in einem kommunistischen Staat. Der ideologische Vorwurf hinkt ohnehin: Zwischen Weihnachten und Neujahr meldete sich Heimo Scheuch – Chef von Wienerberger, einem der weltweit grössten Ziegel- und Baustoffkonzerne – mit der Forderung zu Wort: Man müsse die Mehrwertsteuer auf Sanierungen erheblich senken. Er erkennt, dass wir auf eine globale Katastrophe zusteuern, in der wir besser mit den Ressourcen umgehen müssen und alte Geschäftsmodelle nicht mehr zukunftsfähig sind. So klingt keine Plan-, sondern eine freie Marktwirtschaft. Wenn sich auf den Führungsetagen von Herstellern für vorgefertigte Zementplatten keine Panik ausbreitet …
… werden diese Etagen bald leer stehen und als Wohnraum genutzt werden können? Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Sanierungen ist ja ganz in Ihrem Sinne: Gemeinsam mit Architektinnen aus ganz Europa bereiten Sie, Olaf Grawert, gerade eine Europäische Bürgerinitiative zu diesem Thema vor, die das EU-Parlament in ihrer Green-Deal- und Renovation-Wave-Stimmung erreichen soll.
Grawert: Auch wenn unser Architekturbüro für die Arbeit am und mit dem Bestand steht – in Gesprächen mit Bauherren werden immer dieselben Argumente für den Abriss vorgebracht: Sie wollen das Grundstück freikriegen, sein Kapitalwert übersteigt den Materialwert des Gebäudes nun einmal bei weitem aus den von Charlotte genannten Gründen – der kollektiven Amnesie gegenüber unserem Handeln in der Vergangenheit und seinem ökologischen Fussabdruck. Mit einer Renovierung sind zudem Risiken verbunden, die kaum jemand und erst recht keine Banken in Kauf nehmen möchten. Wer weiss denn schon, was sich hinter der Wand verbirgt? Welche kostenaufwendigen Massnahmen am Ende wirklich ergriffen werden müssen, um ein Gebäude instand zu setzen? Als Architekten sind uns dadurch quasi die Hände gebunden. Es gibt noch keine Gesetze, auf die wir uns berufen können – und die es uns erlauben würden, wie andere im Kampf um Freiheitsrechte oder das Recht auf eine gesunde Umwelt mit der Unterstützung von Umweltverbänden vor die Verfassungsgerichte zu ziehen.
Deshalb nutzen Sie die Europäische Bürgerinitiative.
Grawert: In der Europäischen Union wurde nach dem Schweizer Vorbild ein politisch partizipativer Ansatz realisiert, der es erlaubt, Gesetzesvorlagen ins Parlament zu bringen. Man braucht dafür mindestens sieben Erstunterzeichner aus sieben EU-Ländern und hat dann ein Jahr lang Zeit, in mindestens diesen sieben Ländern eine Million Unterschriften für den Gesetzesvorschlag zu sammeln.
Und wie lautet der Gesetzesentwurf?
Grawert: Unsere Anwälte arbeiten gerade daran, mit Sicherheit wird jedoch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Renovierungen gefordert. Spätestens seit der Pandemie versteht jeder, welche Auswirkungen das auf die Geschäfte und das Leben hat. Und im Rahmen der genannten «Renovation Wave» gibt es hervorragende Aussichten auf Erfolg. Europaweit liegt das Verhältnis zwischen Neubau und Renovierung bei 50 zu 50 Prozent. Italien verzeichnet die höchste Renovierungsrate, sie liegt bei 83 Prozent, und das hat nichts mit einem guten grünen Willen zu tun, sondern mit dem Anreiz, günstig sanieren zu können. Darüber hinaus bemühen wir uns um eine Wertsteigerung des Bestandes, ein Gesetz, das dem CO2, das in Gebäuden steckt, Rechnung trägt.
Nun wird die Schweiz davon voraussichtlich nicht betroffen sein. Der Bundesrat hat die Entscheidung über Grenzwerte der grauen Energie an die Kantone abgeschoben. Die für die Bemessung notwendigen Daten seien ohnehin «nicht immer in der nötigen Qualität vorhanden», bemerkte Balz Halter, Verwaltungsratspräsident des gleichnamigen Immobilienkonzerns, im Gespräch mit der Republik.
Malterre-Barthes: Die Frage, wer diese Daten wo und wie erhebt, ist natürlich zentral. Es gibt Immobilienkonzerne, die bereits eigene Abteilungen zur Berechnung der grauen Energie geschaffen haben, als Geschäftsmodell ist das genial: Wir stellen die Zahlen einfach inhouse bereit.
Grawert: Und wenn das Ergebnis den geplanten Abriss und Ersatzneubau nicht rechtfertigen würde, wird von produktivem Recycling und Urban Mining gesprochen, um die Logik des spekulativen Bau- und Immobilienmarktes nicht ausser Kraft setzen zu müssen. Selbstverständlich ist es besser, den Bauschutt im Strassenbau wiederzuverwenden, als ihn auf die Deponie zu kippen. Ein bestehendes, meinetwegen sanierungsbedürftiges, aber weitgehend funktionierendes Gebäude jedoch als «Mine» zu bezeichnen, weil die ursprünglichen Minen nichts mehr ausspucken, zeigt, in welchem Geist hier über den Wert unserer gebauten Umwelt gerichtet wird.
In der Schweiz gibt es das politische Rüstzeug, um Abriss- und damit auch Neubaustopps zu erwirken. Zuletzt scheiterte allerdings eine von vielen prominenten Architektinnen unterstützte Bürgerinitiative, die den Abriss der Zürcher Maag-Hallen verhindern wollte – und erst der Heimatschutz erwirkte eine Pausierung des Bauvorhabens. Warum bilden Sie keine Arbeitsgruppe mit solchen anscheinend mächtigeren Verbänden wie dem Heimat- oder auch Denkmalschutz?
Malterre-Barthes: Damit sprechen Sie eines unserer Lieblingsthemen an. Die Denkmalpflege behandelt Bauten wie ein «dreidimensionales Fotoalbum», das können Sie genau so nachlesen. Es kann und darf bei der Bewertung des Gebäudebestands nicht vordergründig um das Erscheinungsbild gehen. Das mag emotional überzeugen, für umfassende Sanierungen und Umbauten, die auf die sozialen und ökologischen Anforderungen antworten, dürfen Gebäude jedoch nicht für unantastbar erklärt und in ihrer Zeit eingefroren werden.
Grawert: Die Wiener Innenstadt wurde zum Kulturerbe erklärt, was sowohl ein Weiterbauen verhindert als auch einer Renovierung mit minimalem Aufwand so fundamental im Wege steht, dass sie nur noch von jenen Immobilienunternehmen umgesetzt werden kann, von denen wir bereits sprachen: Signa. Aus einer beschaulichen Altstadt wurde so ein «Goldenes Quartier», in dem nur noch «Top-Marken», «Unique Business Centres» und Luxushotels in «exklusiver Atmosphäre» residieren.
Hashtag #Gentrifizierung.
Grawert: Und deshalb bleibt auch hier die Frage bestehen, wie wir das Gesetz so umschreiben, dass eine Renovierung des Bestandes den Nutzungsanforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht wird. In den Wohnungsbauten der Gründerzeiten Berlins erlebt man, wie ein Wohnungsgrundriss, der für eine grossbürgerliche Familie entworfen wurde, heute als Wohngemeinschaft genutzt wird. Es gibt Typologien, die den Lebenszyklus eines Gebäudes auf sehr lange Zeiträume ausdehnen, es geht nur darum, solche zum Massstab zu erheben.
In New York schwärmen die Leute immer noch von den alten Fabriken, die nun als Shop, Wohnung oder Ausstellungsraum genutzt werden.
Grawert: Allerdings können sich nur die wenigsten Menschen 300 Quadratmeter in Soho leisten.
Welche Typologie müsste denn dann zum Massstab erhoben werden?
Grawert: In Brüssel hält man sich mittlerweile an die sogenannte «intelligente Ruine». Die Idee wurde vom flämischen Baumeister Bob van Reeth bereits in den 1970ern entwickelt. Demnach sollen neue Gebäude so gebaut werden, dass sie ihre künftige Nachnutzung schon mitdenken, sich verändern und über die Zeit wachsen können. Gebäudetechnik dürfte etwa nicht mehr im Gebäudekern vermauert werden, da das den Austausch oder das Upgrade verunmöglicht. Die Raumhöhe dürfte nicht auf ein Minimum reduziert und auch keine tiefen und kosteneffizienten, dafür aber schlecht belichteten Grundrisse geplant werden. Gebäude müssen sowohl als Grossraumbüro als auch als Wohnung oder Atelier funktionieren. Da die Umsetzung bisher an einer Gesetzgebung scheiterte, arbeitet nun ein interdisziplinärer Expertenausschuss daran, die Entwickler dazu zu zwingen, zukunftsfähig und anders zu bauen. Es müssen einfach rechtliche Rahmen und neue Anreize geschaffen werden. Deshalb freuen wir uns auch über Unterstützerinnen für unsere Initiative!
Am Mittwoch, 17. Januar 2024, um 19.30 Uhr veranstaltet die Republik gemeinsam mit «Correctiv» zur Serie «Die Schweiz auf Abriss» eine Podiumsdiskussion im Kunstraum Walcheturm in Zürich. Zu Gast sind unter anderem Vittorio Magnago Lampugnani (Architekturtheoretiker), Sarah Barth (Architektin Countdown 2030) und Balz Halter (Verwaltungsratspräsident des Immobilienkonzerns Halter). Moderiert wird das Podium von Antje Stahl, Feuilleton-Redaktorin und Architekturkritikerin der Republik.