Ein neuer Morgen.

Leben in Trümmern

Zwei Jahre

Fotograf Lesha bereitet sich in Kiew für den Ernstfall vor – aber hofft, dass dieser nie eintritt. Er sorgt sich weiterhin um seine Grosseltern. Und er lässt seine Freunde zu Wort kommen.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 24.02.2024

Vorgelesen von Danny Exnar
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Ich kann es kaum glauben, dass dieser Winter schon fast vorbei ist, der zweite seit der russischen Gross­invasion. Gleichzeitig fühlen sich die zwei Jahre sehr lang an, der Februar 2022 kommt mir im Rückblick besonders endlos vor. Zehn Jahre ist es her, dass Russland 2014 in die Ukraine eingefallen ist, zehn Jahre, seit ich alles hinter mir liess, von Donezk wegging und nach Kiew flüchtete. Ich hoffte auf eine hellere und sichere Zukunft – doch selbst eine Dekade später ist diese nicht in Sicht.

Vor ein paar Wochen besuchte ich ein sogenanntes Hostile Environment and First Aid Training – also eine Erste-Hilfe-Schulung für besonders gefährliche Situationen. Es wurde entwickelt für Journalisten, die unter Kriegs­bedingungen arbeiten müssen, und wird von einer darauf spezialisierten Stiftung organisiert. Drei intensive Tage lang simulierten wir kritische Situationen, evakuierten Verwundete, legten ihnen Verbände an und untersuchten die Verletzten. Ich hoffe so sehr, dass ich diese Kenntnisse nie anwenden muss. Wir leben aber nun mal in einer Zeit, wo sich jede Ukrainerin damit auskennen sollte.

In meinem Freundes­kreis ist es gerade recht populär, am Laptop zu lernen, wie man FPV-Drohnen fliegt. Auch für mich ist das eine Art nicht ganz freiwilliges Hobby geworden. Einige meiner Freunde sind bereits als Drohnen­piloten bei der freiwilligen Armee, andere haben vor, es zu werden, und wieder andere üben für den Ernstfall. Ich bin nicht sicher, zu welcher der Gruppen ich gehören will. Es ist auf jeden Fall gut, damit umgehen zu können und zu verstehen, wie das alles funktioniert. Darauf fokussiere ich mich für den Moment.

Stillleben in Leshas Studio.
Sophienkathedrale in Kiew.
Übung: Evakuation der Verwundeten.
Ausgebucht: Vorlesung zu Erster Hilfe im Krieg.

Wir konnten die Aufenthalts­bewilligung meiner Frau Agata nun um ein Jahr verlängern. Anders als ich gehofft (und letztes Mal geschrieben) habe, können wir die permanente Bewilligung doch noch nicht beantragen. Das hat bürokratische Gründe und ist nicht ganz einfach zu erklären. Kurz gesagt: Es wird eine eigene registrierte Adresse verlangt. Diese bekommt man nur, wenn man das Haus oder die Wohnung besitzt, in der man wohnt. Ist man zur Miete, so wie wir, ist es praktisch aussichtslos, eine solche Adresse zu bekommen. Ausser man hat einen sehr grosszügigen Vermieter, der das für einen übernimmt.

Das ist bei uns nicht der Fall und darum müssen wir wohl warten, bis wir eine Wohnung kaufen können. Natürlich könnten wir für die Zeit der Antragsfrist in unser Sommer­haus ziehen, uns dort registrieren und den Antrag stellen. Das halte ich allerdings nicht für ideal – einerseits aus praktischen und finanziellen, andererseits aus mentalen Gründen. Ich glaube nicht, dass uns das guttun würde.

Meine Grosseltern, die in der Region Luhansk im Osten der Ukraine leben, haben einen beschwerlichen Winter hinter sich, mit vielen gesundheitlichen Problemen. Das hat sich mittlerweile gebessert, aber ich weiss nicht, wie lange sie das noch durchhalten. Neulich wurden sie aufgefordert, ihre russischen Pässe abzuholen, doch meine Grossmutter hat sich geweigert. Mein Grossvater möchte ihn auch nicht, befürchtet aber, dass er ohne diesen keine Rente bekommt, und hat ihn deshalb angenommen. Er meldet sich oft, erzählt mir, was er von der Front hört, von den Verlusten der Russen. Und er fragt mich stets hoffnungsvoll nach Neuigkeiten auf unserer Seite.

Es ist schwierig für mich, positiv zu bleiben, wenn ich ihn so höre. Ich hoffe aber sehr, dass der Frühling wieder etwas Licht und Farbe in unsere Leben bringt.

Agata macht eine Siesta.
Luna ist auch ein Model.

Es ist nun schon eine Weile her, dass in dieser Kolumne auch andere Stimmen zu Wort gekommen sind. Der Jahrestag scheint mir eine passende Gelegenheit dafür, wieder Menschen zu hören.

Varvara, 23

Ich bin in Kiew geboren und habe immer hier gelebt. Lesha kenne ich schon lange – als Fotograf, Velofahrer, Freund meiner Freunde. Eine Zeit lang haben wir in derselben Gegend gearbeitet. So richtig kennengelernt haben wir uns aber erst vor zwei Jahren, als wir für dasselbe Freiwilligen­projekt gearbeitet haben.

Es fällt mir dieser Tage schwer, eine Antwort parat zu haben auf die Frage, wie es mir geht. Ganz okay, glaube ich. Vielleicht etwas gestresst und erschöpft, müde. Die Umstände ändern sich fortlaufend, das ist manchmal hart und zuweilen auch beängstigend. Trotzdem versuche ich, mein bestes Leben zu leben.

Ich arbeite, lerne neue Dinge, mache Sport, lese Bücher und zeichne. Also eigentlich alles Tätigkeiten, denen ich vor dem 24. Februar 2022 auch nachgegangen bin. Seither haben sich aber meine Werte verschoben, Zeit ist so wichtig geworden. Weil es meine Zeit ist und damit mein Leben, das mir gehört.

Varvara in ihrer Wohnung.

Für die Zukunft mache ich wegen des Krieges keine Pläne. Ich versuche, im Jetzt zu bleiben und mein Möglichstes zu tun, damit die Ukraine siegen kann. In einem von Russen zerstörten Dorf habe ich ein Wiederaufbau­projekt geleitet. Zudem habe ich bei einer Stiftung ausgeholfen, die sich um Kinder aus den ehemals besetzten Gebieten kümmert, und ich trieb Autos für die Armee auf. Wann immer ich kann, unterstütze ich die Armee auch finanziell, die meisten meiner männlichen Freunde sind an der Front.

Wenn ich mich von alldem niedergeschlagen fühle, schaue ich mich um und sehe meine Freunde und meine Familie, die es genauso machen. Wir alle tun, was wir können, und motivieren uns dabei immer wieder gegenseitig, ermutigen uns zum Weitermachen.

Manchmal ist es aber schwierig, zuversichtlich zu sein. Verzweiflung macht sich breit. Dann spielt sich in meinem Kopf das schlimmste Szenario ab; alle meine Freunde sterben, alle unsere Städte werden zerstört, die Leute kommen nicht aus der Gefangenschaft zurück und wir verlieren den Krieg. Nie will ich denken müssen, dass ich nicht genug gemacht habe, um das zu verhindern. Und mache weiter. Das ist dann mein Motto, ich kämpfe zwar nicht an der Front, aber im Hintergrund.

Das Leben geht weiter, und ich habe nur dieses eine. Ich weiss nie, ob ich nach einer Nacht der Bombardierungen wieder erwache. Darum muss ich leben. Arbeiten, Freunden helfen, rennen und mich anstrengen. Lächeln, lachen und lieben. Wir alle haben ein Leben zu leben. In Freiheit.

Sofiia, 19

Ursprünglich komme ich aus Kakhovka (Cherson), das ist nun von den Russen besetzt. Lesha ist mein Nachbar.

Mir geht es soweit gut. Die Tage ähneln sich, diese Eintönigkeit mit einer verrückten oder spontanen Unternehmung zu unterbrechen, ist schwierig geworden wegen des Krieges. Anderes hat dafür mehr Bedeutung bekommen – mein Freund Nikita und meine Hunde waren mir schon immer wichtig –, aber seit dem Februar 2022 hat sich dieses Gefühl vertieft, und ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn ich sie verlöre. Nur schon die Vorstellung ist sehr schmerzhaft. Gleichzeitig sind auch die Auseinander­setzungen mit Nikita intensiver geworden, es ist alles entweder schwarz oder weiss.

Mit meinen Eltern habe ich seit zwei Jahren nur telefonischen Kontakt, wir haben uns in dieser Zeit nie gesehen. Zum Glück habe ich meine Hunde. Wenn ich nicht mehr weiterweiss oder traurig bin, lenke ich meine Aufmerksamkeit auf sie, und meine Sorgen rücken in den Hintergrund. Ich schaue, dass es ihnen gut geht, und dann löst sich meistens mein Kummer etwas auf und es geht mir wieder besser.

Seit kurzem gelingt es mir aber auch wieder, mich über kleine Dinge zu freuen. Da reicht es manchmal, dass die Sonne scheint oder meine Pancakes besonders lecker sind. Und natürlich die Fortschritte mit Linda – eine Hündin, die wir aus Adiivka adoptiert haben –, sie ist sehr schreckhaft wegen der vielen Explosionen, denen sie ausgesetzt war, und hat Angst vor eigentlich allem. Darum macht mich jeder gelungene Spaziergang mit ihr sehr glücklich – zu sehen, wie sie wieder Vertrauen gewinnt und auch ihre Lebensfreude wieder zurückkommt, macht auch mit mir etwas.

Sofiia und Nikita in ihrer Wohnung mit einem ihrer Hunde.

Nikita, 21

Bis ich 18 war, habe ich in Kramatorsk in der Region Donezk gelebt, danach bin nach Kiew gezogen. Lesha ist mein Nachbar, wie wir uns genau kennengelernt haben, weiss ich nicht mehr. Wahrscheinlich sind wir im Haus­flur mal ins Gespräch gekommen.

Ich arbeite an einer Schule, mache dort ein Lehrer­praktikum. Die Tage sind sehr gleichförmig: Ich stehe auf, frühstücke, gehe zur Arbeit. Abends unternehmen wir meistens auch nicht viel. Das Leben könnte sehr viel interessanter sein, als es gerade ist. Heute war ausserdem ein schwieriger Tag an der Schule. Ganz ehrlich, die Kinder machen mich manchmal ganz schön fertig.

Und dennoch, mein Leben ist gerade das Wertvollste, was ich habe. Und meine Gesundheit, mental wie physisch. Alles andere leitet sich davon ab: wie ich mich fühle, dass ich mich um meine Liebsten kümmern, meiner Arbeit nachgehen kann. Ich bin Waise und habe eigentlich keine Familie mehr. Die wenigen Verwandten, die noch übrig sind, kann ich an einer Hand abzählen. Mein Bruder lebt in Russland, zwei Cousinen irgendwo in der Ukraine und ein Onkel in Odessa. Mit meinem Bruder spreche ich nicht und sehr selten mit den andern. Darum sind meine Freunde umso wichtiger. Und Sofiia. Das sind die Menschen, die ich liebe und wertschätze, die mich stützen.

Allerdings haben sich auch diese Beziehungen seit der Grossinvasion verändert, sind intensiver geworden, so auch die Auseinandersetzungen. Unser Alltag ist grundsätzlich belastend, jeden Tag gibt es zusätzliche Herausforderungen und Stress­faktoren und manchmal ist das alles unerträglich und entlädt sich dann im Streit.

Ich versuche, bewusst Dinge zu tun, die mir Freude bringen. Musik zum Beispiel ist etwas, was mir hilft, wenn es mir schlecht geht. Für besonders schlimme Momente habe ich ein Medikament, das mir der Arzt verschrieben hat. Das hilft vorübergehend, ist aber kein Allheil­mittel für die Bedingungen, mit denen wir hier fertigwerden müssen.

Denn um wirklich glücklich zu sein, brauche ich Freiheit. Leider hat unser Aggressor andere Pläne für uns. Ich habe so viele Interessen und Leidenschaften, die mein Leben lebenswert machen. Ich lache immer noch viel und erfreue mich an Dingen, manchmal auch an der Absurdität unserer Existenz. Und das will ich mir nicht nehmen lassen.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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