Die Schweiz auf Abriss – Folge 3

Wenn Heimatschützer plötzlich für den Abriss sind

In Solothurn gilt eine Villa jahrzehntelang als erhaltenswert. Dann wird sie auf einmal abgerissen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei ein Architekt, der im örtlichen Heimat­schutz sitzt. Eine Geschichte, die kein Einzelfall ist. «Die Schweiz auf Abriss», Folge 3.

Von Sven Niederhäuser («Correctiv») und Saskja Rosset (Bilder), 19.01.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Baustelle statt Villa: Wie problematisch sind die Interessen­konflikte der Beteiligten?

Die Gebäude im Solothurner Steingruben erinnern an Anwesen. Moderne Einfamilien­häuser mit grossem Garten und Pool prägen das Quartier. Mittendrin stand bis vorletzten Herbst eine fast 100-jährige Villa, der Felsenhof. Jetzt ist er abgerissen, an seiner Stelle wird ein Mehrfamilien­haus mit Tief­garage gebaut.

Der Abbruch der Villa ist bemerkenswert: Immerhin galt das Gebäude jahrzehntelang als erhaltenswert.

2018 änderte sich das plötzlich. Architekt Theo Schnider, der für Abriss und Neubau zuständig ist, sagt heute: «Zum Zeitpunkt, als der Felsenhof abgerissen wurde, war er nicht als erhaltenswert eingestuft.»

Das stimmt. Aber warum die Villa 2018 ihren Status im überarbeiteten Bau­inventar verlor, das 2022 genehmigt wurde, ist heute selbst Direkt­beteiligten unerklärlich. Einer davon ist der Leiter der kantonalen Denkmal­pflege, Stefan Blank. Er sagt: «Die Villa war baulich in einem sehr guten Zustand – der Abbruch war ungerechtfertigt.» Das herrschaftliche Gebäude mit grossem Umschwung sei ein relativ markantes Beispiel für den Neubarock und somit schützenswert gewesen.

Hier stand sie noch – zur Hälfte: Die Villa Felsenhof. zvg
Und so soll es dort einst aussehen: Eine Visualisierung des Neubaus. SSM Architekten

Der Fall der Villa Felsenhof zeigt beispielhaft, wie schwierig die Frage von Abbruch und Neubau in der Schweiz ist – gerade bei grundsätzlich erhaltenswerten Gebäuden. Und wie problematisch Interessen­konflikte von Beteiligten sind. Denn oft haben sie eine unvereinbare Doppel­rolle. Etwa wenn sie sich für den Erhalt von Gebäuden einsetzen und gleichzeitig ein finanzielles Interesse daran haben, Platz für Neues zu schaffen.

«Die Schweiz auf Abriss» – machen Sie mit!

Im Abriss-Atlas rufen wir Sie dazu auf, Gebäude zu nennen, die abgerissen wurden oder noch werden – wir recherchieren auf dieser Basis zu den Hintergründen. Unter dem Titel «Die Schweiz auf Abriss» veröffentlicht die Republik gemeinsam mit «Correctiv» in den nächsten Wochen Beiträge und Recherchen zu den ökologischen, ökonomischen und wohn­politischen Folgen der aktuellen Abrisspraxis.

Der «Correctiv»-Crowd-Newsroom ist ein gemeinnütziges Projekt, das Bürgerinnen bei journalistischen Recherchen mitein­bezieht. Der Abriss-Atlas wird von der Toni Piëch Foundation und der Stiftung Mercator Schweiz unterstützt.

Als wir den Präsidenten des Solothurner Heimat­schutzes, Daniele Grambone, über den Abbruch der Villa befragen wollen, ist er verblüfft. Er weiss nichts davon. Das ist erstaunlich, denn der zuständige Architekt Theo Schnider sass zum Zeitpunkt des Entscheids zusammen mit ihm im Heimatschutz-Vorstand. In diesem Jahr ist Schnider ausgetreten. Den Entscheid dazu hat er laut Grambone schon lange getroffen.

Für den Präsidenten zeigt der Fall beispielhaft das grundsätzliche Problem auf: «Wir setzen uns ein für den Heimat­schutz, aber viele von uns verdienen ihren Lebens­unterhalt als Architekten.»

Sie könnten nicht mehr tun, als die Bauherrschaft auf ihre Anliegen aufmerksam machen, sagt Grambone. «Der Solothurner Heimat­schutz macht Stellung­nahmen und Empfehlungen, wie das Projekt entwickelt werden könnte, beispielsweise zum Einsatz von nachhaltigem Material. Aber letztlich entscheidet die zahlende Bauherrschaft.» Und die beauftragt nicht selten dieselben, die sich ehrenamtlich für den Heimat­schutz einsetzen.

Das ist an sich nicht das Problem. Es könnte gerade von Vorteil sein, wenn Architektinnen bei ihrer Planung den Heimat­schutz berücksichtigen. Problematisch wird es, wenn sie sich vordergründig für den Heimat­schutz einsetzen, jedoch aus Eigen­interessen dagegen verstossen.

Denn in der Bau­branche geht es oft um sehr viel Geld. So auch beim Abriss der Villa Felsenhof. Rund 10 Millionen Franken beträgt das Budget für den Neubau, wie dessen Eigentümer Reinhold Mathys sagt.

Ein rentabler Auftrag für den Architekten Theo Schnider. Er und Mathys sind offenbar ein eingespieltes Team. Bereits vor zwei Jahren arbeitete Schnider für ein Projekt von Mathys im Wert von 12 Millionen Franken.

Zu viel wird voreilig abgerissen

Es ist ein Dilemma, wenn Architekten als ehren­amtliche Heimat­schützer darüber mitentscheiden, ob ältere Gebäude erhaltenswert sind oder nicht – und damit potenzielle Millionen­projekte verhindern oder eben ermöglichen.

Einfacher hat es Stefan Blank als Leiter der kantonalen Denkmal­pflege. Er wird für seine Arbeit als Gebäude­schützer bezahlt.

Deshalb kann er es sich leisten, im kürzlich veröffentlichten Jahres­bericht seines Departements Grundsätzliches zu kritisieren. «Allzu oft werden rein wirtschaftliche Interessen verfolgt», schreibt er dort. Zu viel werde voreilig und kurz­sichtig abgerissen.

Blank führt aus: «Nicht selten stellt der Bauforscher bei der Dokumentation der Abbruch­objekte mit Ernüchterung fest, dass die Gebäude gar nicht baufällig und ‹unsanierbar› waren.» Mit dem nötigen Willen und vernünftigem Aufwand hätten die Häuser durchaus erhalten werden können.

Womöglich hätte das auch für die Villa Felsenhof gegolten. Doch mit dem Verlust ihres Schutz­status war der Abriss praktisch unvermeidbar.

Wieso war die Villa plötzlich nicht mehr erhaltenswert?

Für das neue Inventar, in dem alle schützens- und erhaltens­werten Häuser der Stadt aufgelistet wurden, hatte Solothurn die Firma Vestigia beauftragt. Diese machte bereits Inventare von Kultur­denkmälern für andere Behörden. Beteiligt war zudem laut Stadt­bauamt eine von der Behörde eingesetzte Arbeits­gruppe. Diese habe den Status der Villa in den Jahren von 2017 bis 2018 überprüft.

Wer Teil der Arbeits­gruppe war, ist uns nicht bekannt. Denn Vestigia-Gründerin und Chefin Kristina Kröger will sie uns nicht nennen. Am Telefon wimmelt sie uns ab. Weil sie im Auftrag der Stadt gehandelt habe, wolle sie keine Auskunft geben.

Die Bauarbeiten am Standort der früheren Villa Felsenhof: Es entscheidet die zahlende Bauherrschaft.

Doch von Grambone erfahren wir, dass sich der Solothurner Heimat­schutz zum neuen Inventar äussern durfte. Es sei als solide Arbeit empfunden worden und habe daher keine Einwände gegeben. Heute sagt er: Ihm sei nicht aufgefallen, dass die Villa Felsenhof im neuen Inventar nicht mehr aufgeführt war. Und bei der Vorstands­sitzung, an der auch Schnider teilgenommen habe, sei nicht darüber gesprochen worden, dass die Villa ihren «Erhaltenswert-Status» verliere.

Schnider schreibt uns dazu, die Fach­gremien hätten das Gebäude 2018 «zu Recht als nicht erhaltenswert eingestuft». Deshalb habe er seine Kollegen vom Heimat­schutz auch nicht über den jetzigen Abriss der Villa informiert. Anders als Grambone scheint Schnider also gewusst zu haben, dass die Villa davor als erhaltenswert galt und ihren Status im neuen Inventar verlor.

Wusste Schnider also zu diesem Zeitpunkt vom Bauprojekt Mathys? Hatte er etwa schon einen Auftrag?

Durch seine ehrenamtliche Tätigkeit als Vorstands­mitglied des Solothurner Heimat­schutzes habe er sich keine Vorteile für seine berufliche Tätigkeit als Architekt verschafft, beteuert er.

War die Villa doch schützenswert?

Das Stadtbauamt selbst äussert sich auch nach mehrfacher Nachfrage nicht dazu, warum die Villa ihren Status verlor. Auch zu den Mitgliedern der Arbeits­gruppe schweigt die Verwaltung. Fest steht, dass der kantonale Denkmal­schutz beteiligt war – in Person seines Leiters, Stefan Blank.

Erstaunlich ist: Blank kann heute nicht mehr nachvollziehen, warum die Villa Felsenhof im neuen Inventar nicht aufgeführt ist. «Ein solches Gebäude hätte einen Eintrag verdient», sagt er. Zumal es 1995 noch als erhaltenswert eingestuft wurde. Ausserdem seien im neuen Bauinventar insgesamt mehr schützens- und erhaltenswerte Gebäude als im alten Inventar aufgeführt.

Erneut widersprechen sich Blank und Schnider. Der Architekt schreibt uns, ihm sei bewusst, dass er sich als Mitglied des Heimat­schutzes für den Erhalt von schützens­werten Bauten einsetzen sollte. «Nur müsste dafür das Objekt als schützens- oder erhaltens­wert gelten oder das Potenzial aufweisen, einen entsprechenden Schutz­status zu erhalten.» Zum Zeitpunkt des Abbruchs sei dies nicht der Fall gewesen. «Die Villa Felsenhof genügte bei der Erarbeitung des neuen Inventars in den Jahren 2017 und 2018 nicht den Voraus­setzungen.»

Das heisst: keine nennenswerte architektonische, städte­bauliche Qualität oder kultur­historische Relevanz. Und keine Bedeutung für die Umgebung oder das Ortsbild.

Tatsächlich? Dem bekannten verstorbenen Heimat­forscher Othmar Birkner schien das Gebäude jedenfalls wertvoll: «Symbolische Details verzaubern den eigentlich recht braven (…) Villen-Grundriss», schrieb er 1976 über den Felsenhof. «Man erinnert sich an die Worte von Max Ruchty, welcher 1918 eine Ideal-Villa entwarf.» Die Beschreibung passe erstaunlich gut auf den Felsenhof, der 1926 nach den Plänen des Solothurner Architekten Werner Studer gebaut wurde.

Auch in der Nachbarschaft hören wir, dass es der Felsenhof verdient gehabt hätte, gerettet zu werden. Alle, die mit uns sprechen, bedauern, dass «eine so schöne Villa einfach abgerissen wurde».

Nicht mehr «zeitgemäss»

Eigentümer Reinhold Mathys bereut seinen Entscheid nicht. Die Villa sei zwar in einem guten Zustand gewesen, aber schlecht gedämmt. Über eine Million Franken habe er in den vergangenen Jahren für Sanierungen investiert, sagt er.

«Eingebaut wurden neue Fenster, eine Wasser­pumpe für das Abwasser und drinnen haben wir neu gedämmt. Das hat aber nicht gereicht.» Sein Sohn habe zehn Jahre im Haus gewohnt. «Man hörte jeden Schritt und jedes Gespräch im Haus. Das ist nicht mehr zeitgemäss.» Jetzt könne er ein grösseres Mehrfamilien­haus bauen.

Dass ein Abriss und Neubau alles andere als nachhaltig ist, sei ihm bewusst gewesen, sagt Mathys, der die Stiftung 3FO präsidiert, die nach eigenen Angaben das Umwelt­bewusstsein fördert. Aber: «Die Erhaltung alter Substanz ist sinnvoll, aber wenn das Haus dem Zweck nicht mehr entspricht, ist es Zeit, etwas Neues zu bauen.»

Die Bewilligung für den Abbruch erteilte vor gut zwei Jahren das Solothurner Stadt­bauamt. Dies weil das bestehende Inventar von 1995 lediglich einen orientierenden Charakter habe, wie es uns schreibt. Da die Villa aus dem neuen Inventar entlassen wurde «konnte keine Schutz­würdigkeit mehr abgeleitet werden».

Das Haus, das einst hier stand, galt jahrzehntelang als erhaltenswert. Jetzt ist es weg.

Heimatschutz-Präsident Grambone sagt uns, er wolle «unter vier Augen klären», wieso das Projekt im Vorstand nicht thematisiert wurde. Und weshalb sein Kollege die Villa abreissen und neu bauen liess. Er hätte den Abriss der Villa zu verhindern versucht, wenn er davon gewusst hätte.

Allerdings seien dem Heimat­schutz sowie der Denkmal­pflege oft die Hände gebunden. «Eine Einsprache von uns im Fall der Villa wäre rechtlich nicht möglich gewesen», sagt Grambone. Allenfalls hätte die kantonale Denkmal­pflege einen befristeten Schutz­status erwirken können. «Während­dessen kann der Eigentümer nichts machen. Die Denkmal­pflege untersucht den Bau genauer, und im Idealfall rettet sie das Gebäude.» Für Bauherr Mathys und Architekt Schnider hätte das bedeutet: Der millionen­schwere Neubau wäre geplatzt.

Abriss und Neubau energie­intensiver als Erhalt

Für Denkmal­schützer Blank ist es an der Zeit, über Abriss und Neubau grundsätzlich nachzudenken. Begründet werde ein Abbruch gerne damit, dass sich eine Sanierung nicht lohne oder viel zu teuer sei, hält Blank fest. Oder dass niemand in solch alten Mauern wohnen möchte und dass alte Gebäude sowieso Energie­schleudern seien.

Doch: «Gerade beim Verweis auf die mangelnde Nachhaltigkeit von Altbauten wird gerne vergessen oder unterschlagen, dass bei diesem Thema nicht nur der aktuelle Energie­verbrauch und die Art der verwendeten Energie eine Rolle spielt.» Laut dem kantonalen Denkmal­pfleger sollte immer zuerst eine gesamte Energie­bilanz erstellt werden.

Denn bei den Berechnungen fehlen oft die grauen Emissionen. Sie entstehen aus der Energie, die benötigt wird, um Material oder Bauteile zu produzieren, die Arbeits­kräfte, Maschinen und das Material zur Baustelle zu fahren sowie die Teile im Gebäude einzubauen und andere zu entsorgen. Ein Klima­killer ist zum Beispiel Zement, der einen enormen CO2-Ausstoss bei der Produktion verursacht.

Laut Schätzungen des Schweizerischen Baumeister­verbandes werden jährlich zwischen 4000 und 5000 Gebäude abgerissen. Wie viele es genau sind, weiss keiner – nicht einmal der Bund. Der Fall der Villa Felsenhof wurde nur dank dem Abrissatlas entdeckt und zum Gegenstand dieser Recherche. Es gibt zahllose andere Gebäude, die plötzlich für nicht mehr «zeitgemäss» erklärt und abgerissen werden. Jeder einzelne dieser Fälle verdient es, dokumentiert und erzählt zu werden.

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