Wie überstehe ich das Leben auf einer winzigen Insel?
Sich auf einem Ministück Land mitten im Meer einzurichten, hat seine Tücken. Aber man kann dabei einiges fürs Leben lernen. Die Serie zum Jahreswechsel, Folge 6.
Von Bettina Hamilton-Irvine, 04.01.2024
Es ist natürlich gut möglich, dass Sie nicht vorhaben, demnächst in einem Backpacker-Hotel in einem Hippiestädtchen an der australischen Ostküste abends im Gemeinschaftsraum zu sitzen und sich innerhalb eines zweistündigen Gesprächs in den blond gelockten Typen zu verlieben, der neben Ihnen ein Armband aus Garn knüpft.
Entsprechend ist die Chance wohl auch klein, dass Sie 17 Monate später auf einer fliegendreckgrossen Insel aus einem Miniaturflugzeug stolpern und in die Arme ebendieses Typen fallen, um dann mit seinem Pick-up-Truck zu einem Holzhaus zu fahren, wo Sie fortan gemeinsam leben werden (oder das zu diesem Zeitpunkt zumindest glauben).
Es ist auch nicht so, dass ich Ihnen per se davon abraten würde. Mir hat das damals prima gefallen.
Aber das Ganze ist doch einigermassen umständlich. Die Reise ist furchtbar lang und schlecht für die Umwelt. Die Karriereaussichten dort sind ziemlich mies. Und Ihr bester Freund ist sicher froh, wenn Sie nicht gehen und er nicht dauernd auf diese «Drecksinsel» schimpfen muss, die viel zu weit weg ist. Von Ihrer Mutter ganz zu schweigen.
Es gibt also ein paar gute Gründe, nicht auf eine kleine Insel am anderen Ende der Welt zu ziehen. Aber zumindest in Gedanken ist so eine Reise durchaus charmant. Und vieles, was auf einer Insel zählt, bringt Sie auch sonst im Leben weiter. Bevor Sie also abheben, lassen Sie mich Ihnen ein paar Tipps mit auf den Weg geben.
1. Seien Sie freundlich
Natürlich ist das ein no-brainer und ein Universaltipp, der in fast jeder Lebenslage hilft. Ganz besonders nützlich ist er aber auf einer winzigen Insel, auf der sich alle kennen. Meine war damals ganze fünf auf acht Kilometer gross und bewohnt von etwa 2000 Menschen. Wer also gern andere Personen anschnauzt und sich dabei denkt, die sehe ich ja sowieso nie mehr, der wäre keine ideale Besetzung für eine Mini-Insel. Denn Sie werden die angeschnauzte Person wiedersehen. Garantiert.
Freundlichkeit und eine gewisse Grosszügigkeit sind also gute Begleiterinnen, wenn man sich das Leben nicht selbst zur Hölle machen will.
2. Machen Sie sich locker
Vor allem, wenn Sie in der Schweiz aufgewachsen sind, kann es gut sein, dass Sie ein einigermassen organisierter Mensch sind, der Wert auf Pünktlichkeit legt, auf Sicherheit und Verlässlichkeit. Auf Norfolk Island, dem Inselchen im Südpazifik, auf dem ich damals mit 21 Jahren landete, ist das alles nicht so wichtig. Die Menschen leben so sehr in den Tag hinein, dass es sogar einen Namen für dieses Konzept der dehnbaren Zeit gibt. Es heisst «Norfolk Time» und geht so: Wenn ich sage, dass ich um fünf Uhr «Norfolk Time» vorbeikomme, heisst das, ich komme entweder um fünf oder irgendwann danach. Vielleicht um sechs, vielleicht um halb sieben. Who cares? Es ist wie ein kollektives Versprechen, sich nicht stressen zu lassen. Und weil die anderen auch nach «Norfolk Time» leben, funktioniert das in der Regel ganz gut.
Gewöhnungsbedürftig war für mich auch die Sache mit den offenen Türen: Weil Diebe sowieso nie weit kommen würden, liessen die Menschen nicht nur ihre Autos unverschlossen, oft inklusive Schlüssel in der Zündung, sondern auch ihre Häuser. Manchmal sogar mit der Tür sperrangelweit offen. Was Inselneulinge wie mich erst einmal etwas nervös machte, sorgte mit der Zeit für eine überraschende Entspannung. Denn wer Vertrauen auf Vorschuss gibt, bekommt sehr oft auch Vertrauen zurück.
3. Seien Sie schamlos
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Ja, das ist ein abgedroschenes Klischee und weitgehend auch nicht wahr, aber auf Norfolk Island ahnte ich zum ersten Mal, was damit vielleicht gemeint sein könnte. Denn in einer sehr kleinen, sehr abgelegenen Gemeinschaft gibt es keine Geheimnisse.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel illustrieren. Stellen Sie sich also vor, Sie hätten auf der Insel ein kleines Café eröffnet und mit Ihren beiden Serviceangestellten einen «Prinzessinnenabend» geplant. Dazu hätten Sie sich – weil es ja so wenige Gelegenheiten gibt, sich mal richtig herauszuputzen – in Ihre schönsten Gewänder gestürzt, hätten das gesammelte Trinkgeld gepackt und den Abend auf der Caféterrasse mit viel zu vielen viel zu starken Cocktails begonnen. Bei der Ankunft im Restaurant hätte Ihr Grüppchen entsprechend schon kaum mehr stehen können. Der Abend hätte schliesslich noch vor dem Hauptgang geendet, wobei eine Ihrer Angestellten von einem Koch und einem Gast aus dem Restaurant getragen werden musste.
Als Person, die ungern die Kontrolle verliert, wäre Ihnen das natürlich unangenehm – umso mehr, als Sie am nächsten Tag realisieren, dass schon die halbe Insel davon weiss. Was kann man daraus lernen? Dass es sich mit weniger Scham tatsächlich unbeschwerter lebt. Und dieses Gefühl, dass es nicht so wichtig ist, was die anderen denken, und dass wir alle mal etwas Unvernünftiges tun, das tut richtig gut.
4. Schätzen Sie, was es hat
Zu viel Auswahl überfordert uns. So sehr, dass wir schlechtere Entscheidungen treffen, je grösser die Vielfalt ist. Wenn unser Hirn vor den vielen Wahlmöglichkeiten kapituliert, spricht die Wissenschaft vom «Overchoice-Effekt».
Auf einer abgelegenen Insel wie Norfolk Island hat man dieses Problem nicht. Die Auswahl von fast allem ist sehr überschaubar, und was es nicht gibt, das gibt es nicht. Das hat etwas Tröstliches. Und führt manchmal auch dazu, dass man kreative Lösungen findet. Sie werden ungemütlich, wenn Sie kein frisches Gemüse bekommen? Bauen Sie Ihr eigenes an! Sie wollen wieder mal ins Kino, aber es gibt keines? Laden Sie Ihre Freunde zum gemeinsamen Fernsehabend mit Popcorn und Pizza ein. Sie vermissen das Theater? Schliessen Sie sich dem lokalen Schauspielverein an. Das alles hat zudem den hübschen Nebeneffekt, dass Sie öfter aus der Rolle der Konsumentin rauskommen und zur Produzentin, Veranstalterin oder Akteurin werden.
5. Ändern Sie Ihre Perspektive
Es ist seltsam: Ich war nie an einem einsameren Ort als auf Norfolk Island. Gleichzeitig habe ich mir nie mehr gewünscht, allein zu sein. Denn Norfolk Island ist zwar furchtbar abgelegen – Australien ist etwa 1400 Kilometer entfernt, Neuseeland und Neukaledonien je etwa 750 Kilometer. Aber ist man einmal dort, begegnet man dauernd dem Nachbarn, der Kassiererin aus dem Lebensmittelladen oder dem Onkel eines Freundes. Wenn ich den Inselkoller hatte, sehnte ich mich danach, einfach ins Auto steigen und irgendwohin fahren zu können, wo mich niemand kennt. Was aber kaum möglich war, denn innerhalb von kürzester Zeit war man am anderen Ende der Insel. Und Jason und Sarah waren sicher auch schon dort.
Aber manchmal lernt man ja erst so den Wert von etwas, was man zuvor für selbstverständlich nahm: wenn man es nicht mehr hat.
Ich blieb dann übrigens nur ein Jahr auf Norfolk Island. Aber wie enthusiastisch ich damals in dieses Abenteuer gestolpert bin, habe ich nie bereut.