Serie «Für alles gewappnet» – Folge 2

Tom Huber/Connected Archives

Wie überstehe ich Weihnachten mit der Familie?

Die Festtage mit unseren Liebsten bergen die wunderbarsten Wahrheiten und Rätsel unseres Universums. Man muss nur genau hinschauen. Die Serie zum Jahreswechsel, Folge 2.

Von Ronja Beck, 23.12.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.

Douglas Adams: «Das Restaurant am Ende des Universums» (1980).

Das Universum interessiert sich nicht für Sie. Sorry. Es ist ihm egal, ob Ihnen noch Weihnachts­geschenke fehlen oder Sie den sauren Wein fürchten, den Ihr Onkel «zur Feier des Tages» auftischen wird. Denn es muss sich mit der existenziellen Angst auseinander­setzen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit irgendwann (nicht so bald) zusammen­zufallen und Raum, Zeit und das ganze restliche Zeug mit sich zu reissen. Das Universum hat also wahrlich grössere Probleme. Aber es kann Ihnen dennoch helfen.

Es zeigt nämlich nicht nur, dass Sie sich verdammt noch mal zusammen­reissen sollen, weil alles noch viel schlimmer sein könnte. Sondern auch, dass die weihnachtlichen Gepflogenheiten, denen Sie sich jeweils mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von Widerstand hingeben, die so gewöhnlich, nervig, lustig oder langweilig daher­kommen, weit mehr sein können als das. Richtig betrachtet, können diese Gepflogenheiten Sie die seltsamsten Dinge über Raum, Zeit und das ganze restliche Zeug lehren.

Schon beim Fondue chinoise präsentieren sich, so die persönliche Erfahrung, kosmische Erscheinungen in ihrer ganzen Grausamkeit. Das dampfende schwarze Loch wird das Fleisch der Mutter sofort von der Dreizack­gabel ziehen, aber sie wird es nicht kampflos aufgeben, sondern in der Brühe stochern. Die anderen Gabeln im Caquelon werden zur dunklen Mitte stürzen, doch Mutter wird weiter­stochern, ungeachtet aller Widerstände, aller Opfer, aller Aussichts­losigkeit.

Mit dem Familientisch betritt man den Ereignis­horizont, von wo aus es kein Zurück mehr gibt. Von hier an wird alles verschluckt, das Fleisch, die Gabeln, die Nerven. Bis die Mutter die trübe Suppe in den Schüttstein leert, ihr beim Anblick eines verschrumpelten Fleisch­stückchens ein kleines «Ach, da ist es ja» entfleucht und man sich fragt: Werden wir Menschen, sollte sich diese wilde Idee jemals bewahrheiten und wir durch ein schwarzes Loch in ein anderes Universum gelangen, bei dessen Anblick die gleichen Worte wählen?

Nach dieser ersten Expedition wandert man gemeinsam in die Stube, die Bienenwachs­kerzen im Baum entzünden sich wie die Sterne im Nacht­himmel, und die Kleinsten der Familie hüpfen elliptisch um das Objekt mit der grössten Anziehungs­kraft, den Geschenk­haufen. Bei einem Weihnachts­fest, an dem ich die Gastgeberin mimte, wähnte ich mich gar im Glück, aus dem Augenwinkel eine Supernova zu erhaschen. Sie stellte sich als aufflammender Haarschopf meiner kleinen Nichte heraus, in Licht­geschwindigkeit ausgeklopft vom Vater, der mich mit aufgerissenen Augen anstarrte, als hätten wir soeben einen Durchbruch in der Menschheits­geschichte bezeugt.

Was zu einem Zwischenruf überleitet: Sollen auch die Kinder Weihnachten überstehen, hängt man die Baum­kerzen lieber nicht auf deren Kopfhöhe.

Fett und müde lässt man sich danach zum obligaten Palaver auf dem Sofa nieder und kommt mit etwas Pech neben den Cousin aus der Ostschweiz oder die beschnauzte Tante zu sitzen. Dann helfen der Griff zum Champagner­glas und ein stummer Toast auf Albert Einstein, der natürlich recht hatte, die Zeit ist relativ. Ein wichtiger Punkt ist Einstein aber doch entgangen: Nicht nur Bewegung und Gravitation wirken auf sie ein, auch Alkohol hat so seine Tricks.

Geniesst man stattdessen einen Moment der Ruhe, erwischt man sich vielleicht beim Gedanken an eine lange Jahre vorherrschende Auffassung, den Determinismus. Anders gesagt: Es ist schon immer dasselbe. Jedes Jahr das gleiche Essen, die gleiche Deko, die gleichen Gespräche, als wären wir in unumstössliche Gesetze gegossen, denen, wenn sie schon das Universum zu befolgen hat, sicherlich auch wir gehorchen müssen.

Zum Beispiel damals, als die Eltern eine jahrelange Gesetz­mässigkeit plötzlich infrage stellten und keinen Tannen­baum mehr wollten und nach viel Protest ohne Wirkung der Bruder den Motor­roller sattelte, einen Baum kaufte, ihn hinten aufschnallte und damit durch die trüben Strassen düste, bestimmt wedelten die roten Servietten an Spitz und Stamm im Wind.

Und doch wird im Grossen wie im Kleinen bei genauerem Hinsehen klar, dass es so einfach nicht sein kann. Dass bei aller vermeintlichen Regel­mässigkeit im Kosmos immer noch genug Platz da ist für das Unerwartete.

Zum Beispiel damals, als wir eines Morgens kurz vor Heilig­abend in die Stube traten und er zerschunden da lag, der Boden war voller Scherben, als wäre in der Nacht jemand eingebrochen, als hätte jemand auf Leben und Tod gerungen mit unserem lieben Baum. Dabei hatte der Vater ihn doch gerade erst unter wüsten Flüchen in die Schrauben des Ständers gezwungen. Da lag er nun, umgefallen ohne erkennbares äusseres Zutun, und unter ihm das Plastik­jesuskind, begraben von den Verfehlungen des Menschen.

In besonderen Momenten zeigt sich nicht nur das Unerwartete, sondern auch das Unerklärliche. Das Universum ist natürlich voll von Dingen, die wir nicht begreifen. Wir haben Ahnungen, Berechnungen, Hypothesen, manchmal auch nur halb gute Science-Fiction-Serien, aber Wissen? Davon sind wir viele, viele Jahre entfernt.

Viele, viele Jahre schon rätseln wir etwa, was die Mutter (mit Migrations­vordergrund) damals gesungen hat, als wir Kinder, so war es damals üblich, uns nach dem Festessen mit unserem jeweiligen Instrument in den Händen vor dem Sofa aufstellten und uns mutig an einen mittel­europäischen Weihnachts­klassiker wagten. Berauscht von der Besinnlichkeit und/oder dem Glas Roten stimmte die Mutter in die Musik ein, summend, dann singend, doch weder Melodie noch Text hatten etwas mit dem vorgetragenen Stück zu tun, also schrie der Bruder «Hör auf!», woraufhin die Mutter verstummte, für einige Sekunden, bis es sie wieder packte und der Bruder wieder schrie, und sie sang und der Bruder schliesslich wutentbrannt aus der Stube stürmte, worüber wir anderen seit vielen, vielen Jahre lachen.

Warum geschehen all diese Dinge? Nun, warum sollten sie es nicht? Wir sind umgeben von einem schier unendlichen Raum, in dem sich die verrücktesten und banalsten Dinge gleichzeitig abspielen. Es ist diese Absurdität, die uns im Innersten zusammenhält. Und wo, wenn nicht an Familien­weihnachten, sollte sie sich denn sonst zeigen.

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