
Wir schreiben die Verfassung neu
Zum 175. Geburtstag des Bundesstaats machen wir 10 Vorschläge, wie die Schweizer Demokratie noch besser werden kann.
Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 12.09.2023
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Im Namen der Freiheit, der Solidarität und der Demokratie, amen!
Der Schweizer Bundesstaat feiert Jubiläum: Die Bundesverfassung wird heute 175 Jahre alt. Mit ihr führte das Land kurz nach einem Religionskrieg, als Insel inmitten von Monarchien, eine moderne parlamentarische Demokratie ein.
1848 war die Schweiz Vorreiterin der demokratischen Revolution in Europa. So demokratisch wie heute ging es damals aber nicht zu. Wählen durften nur Männer, zudem waren je nach Kanton verschiedene Personen ausgeschlossen: «Armengenössige», Steuerschuldige, strafrechtlich Verurteilte, Bettler und Menschen, die wenig verdienten. Es gab auch noch keine Volksinitiativen. Erst später wurden die demokratischen Rechte sukzessive ausgebaut – etwa mit der Einführung des Initiativrechts 1891 – und die Verfassung erneuert, als Ganzes zuletzt vor mehr als 20 Jahren. Doch vieles ist immer noch gleich wie vor 175 Jahren.
Wir finden: Es ist Zeit für ein Update.
Andere finden das auch. Eine Gruppe von Personen rund um den Campaigner Daniel Graf und den früheren Finanzkontrolleur des Bundes Michel Huissoud (der neu im Verwaltungsrat der Republik sitzt) will eine Initiative lancieren für eine Totalrevision.
Die Verfassung per Initiative zu erneuern, das gelang bisher noch nie. Laut dem Historischen Lexikon wurde die einzige formal korrekte Volksinitiative für eine Totalrevision der Bundesverfassung 1934 von rechtsextremen Kreisen eingereicht, nicht zuletzt, um Neuwahlen zu erzwingen. Sie unterlagen deutlich. Der bisher letzte Anlauf (die Initiative Frühling) scheiterte 2003 im Sammelstadium.
Nun sei die Zeit reif, sagt Daniel Graf. Er sitzt an einem sonnigen Mittag in einem Café in Bern und macht eine Handbewegung in Richtung Bundeshaus. «Es gibt ein Partei- und Politikversagen: Es werden nicht alle relevanten Fragen behandelt.» So fehlten in der Verfassung etwa die Themen Digitalisierung, Alterung der Gesellschaft und Demokratieförderung.
Mit einer Totalrevision könne viel mehr erreicht werden als mit einzelnen Volksinitiativen, sagt der selbst ernannte «Demokratie-Fan», der als Mitbegründer der Unterschriften-Sammelplattform Wecollect viel Erfahrung mit der direkten Demokratie hat. «In meiner Inbox gibt es unglaublich viele gute Ideen von kleinen Organisationen. Ich kann ihnen aber nicht mit gutem Gewissen sagen: Startet eine Initiative.» Zu teuer, zu aufwendig, zu gering die Erfolgsaussichten.
Anders wäre das, wenn die gesamte Bundesverfassung aufs Mal diskutiert würde. Möglichst von einem ausgelosten Verfassungsrat, in dem alle Bürgerinnen vertreten wären. «Das gibt ein Fest der Demokratie», sagt Graf.
Wir laden heute, am Jubiläumstag, dazu ein, mitzufeiern: indem wir zehn Ideen für Verfassungsartikel zur Diskussion stellen. Uns interessiert, was Sie darüber denken. Stimmen Sie ab!
Hierzu ein Ehrenwort: Wir verzichten auf Schummeleien, wie sie die Gründerväter anwandten, um der Bundesverfassung zum Durchbruch zu verhelfen: So zählten sie im Kanton Luzern die Nichtstimmenden mir nichts, dir nichts zum Ja-Lager. In Freiburg verzichteten sie auf eine Volksabstimmung, der Grosse Rat sagte Ja. Mit solchen Kniffen wollten sie garantieren, dass zumindest diese zwei der katholisch-konservativen Sonderbundskantone der Bundesverfassung von 1848 zustimmten. So kam es: Die anderen fünf sagten Nein.
Nun zu unseren Vorschlägen.
1. Die Bevölkerung der Schweiz und die Kantone Léman, Jura, Bern, Basel, Zürich, Rigi, Säntis, Wallis, Gotthard bilden die Schweizerische Eidgenossenschaft.
Die Schweizer Karte von 2023 sieht praktisch genau gleich aus wie die Schweizer Karte von 1848, abgesehen von der Schaffung des Kantons Jura. Damals dauerte eine Kutschenfahrt von Bern nach Zürich mehrere Tage. Heute widerspiegeln die Kantonsgrenzen die Lebensrealität eines grossen Teils der Schweizer Bevölkerung nicht mehr. Es werden viel mehr Themen national geregelt oder zumindest koordiniert, was oft komplizierte Absprachen zwischen den 26 Kantonen nötig macht. Auch das war vor 175 Jahren anders.
Ein weiterer Grund, weshalb die Einteilung der Schweiz nicht mehr zeitgemäss ist: Kleine, konservative Kantone haben dank dem Ständemehr viel mehr Gewicht als grosse Kantone. Das Ständemehr – nach dem Sonderbundskrieg ein Zugeständnis an die katholische Minderheit – hat heute zur Folge, dass die Stimme eines Appenzellers fast 40-mal mehr Gewicht hat als die einer Zürcherin. So scheitern manche Vorlagen am Ständemehr, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung sie bejaht. Das ist undemokratisch, und ausserdem ist zu bezweifeln, dass Minderheitenschutz für kleine katholische Kantone heute noch nötig ist.
Zeichnen wir also die Kantonsgrenzen neu. Wir schauen dabei zurück und lassen uns von der Helvetischen Republik inspirieren, als das revolutionäre Frankreich die Schweiz eroberte und sie in 19 Verwaltungseinheiten aufteilte, um besser regieren zu können. Und wir schauen in die Gegenwart und auf den Vorschlag von Pierre-Alain Rumley, einem emeritierten Professor für Raumplanung, der sich an den funktionalen Räumen der heutigen urbanen Schweiz orientiert.
Rumley sagt zu seinen Überlegungen: «Mir geht es um die Metropolitanregionen: Genf-Lausanne, Bern, Basel, Zürich. Da gibt es recht logische Lösungen.» So sei für ihn klar, dass Freiburg, der Aargau und Solothurn in anderen, grösseren Kantonen aufgehen müssten, da sie sich an verschiedenen Zentren orientierten. Das Bundesamt für Raumentwicklung, als dessen Direktor Rumley früher amtete, orientiert sich an Handlungsräumen.
Diese Debatte über die räumliche Aufteilung der Schweiz – wenn sie denn überhaupt geführt werde – sei geprägt von der Furcht, den Föderalismus zu opfern, sagt Rumley. Er findet, eine Vereinfachung würde die Kantone und damit auch den Föderalismus stärken und nicht schwächen. «Die einzelnen Kantone hätten mehr Gewicht als heute und könnten sich besser koordinieren.»
Wir schlagen deshalb eine Schweiz mit neun Kantonen vor. Wir haben dabei in erster Linie zwei Kriterien berücksichtigt: wo sich die Menschen heute bewegen und wie wir das politische Gleichgewicht zwischen den Regionen wahren können.
2. Der Bundesrat besteht aus 11 Mitgliedern, der Bundespräsident wird für 4 Jahre gewählt.
7 Personen für sämtliche Probleme des Landes: Dass Bundesräte abgekämpft aussehen, wenn sie aus der Regierung zurücktreten, erstaunt nicht. Sie sind noch gleich viele wie vor 175 Jahren, ihre Aufgabenlast aber hat sich vervielfacht. So verfügte der erste Aussenminister der Schweiz, der Zürcher Freisinnige Jonas Furrer, lediglich über einen Sekretär in Bern und ein loses Netz von Vertretungen im nahen Ausland. Heute steht Aussenminister Ignazio Cassis fast 5500 Mitarbeiterinnen vor und verwaltet rund 170 Botschaften, Konsulate und Kleinstvertretungen auf der ganzen Welt.
Kein Wunder, sind die Magistraten immer häufiger überfordert. «Der Bundesrat ist seit 1848 nie ernsthaft reformiert worden», kritisiert Adrian Vatter. Der Politikwissenschaftler der Universität Bern hat vor 3 Jahren ein Grundlagenwerk zur Rolle und zum Funktionieren der Exekutive vorgelegt. «Immer schon besteht der Bundesrat aus 7 Mitgliedern, von denen eines als Primus inter Pares für ein Jahr als Bundespräsident amtiert.»
Wir ändern das. Und schaffen 4 zusätzliche Sitze.
So könnten je eine Vertreterin der Grünen und der Grünliberalen in die Regierung einziehen, womit das Repräsentationsdefizit abnähme. Nie seit dem Einbezug der SP in die Regierung vor 80 Jahren ist ein grösserer Teil der Bevölkerung ausgeschlossen gewesen als jetzt: Die 4 Bundesratsparteien SP, Mitte, FDP und SVP kamen bei den Nationalratswahlen 2019 auf einen Wähleranteil von nur gerade 69 Prozent.
Zudem stärken wir das Präsidium durch die längere Amtszeit von 4 Jahren statt wie heute nur einem Jahr. Davon erhoffen wir uns eine konstantere Vertretung der Schweiz gegenüber dem Ausland sowie straffere Führung, was uns wegen der stetig zunehmenden Polarisierung nötig erscheint: Die Kluft zwischen der im internationalen Vergleich weit links stehenden Sozialdemokratie und der weit rechts agierenden SVP wird zunehmend tiefer. «Die Folgen sind verheerend», sagt Vatter. «Es kommt zu Indiskretionen, es fehlt an gegenseitigem Vertrauen, die Effizienz leidet.»
Doch die Folgen sind nicht bloss klimatischer Art, sondern handfest: Für Krisen ist die Schweizer Regierung nicht gewappnet. Das zeigte sich nicht nur nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, sondern auch während der Pandemie und seit Jahren schon in der Europapolitik.
Neben einer Vergrösserung des Gremiums und einer Stärkung des Präsidiums schweben Vatter zwei weitere Änderungen vor, die wir nicht verbindlich in unsere neue Verfassung schreiben, die wir jedoch für prüfenswert halten: Die Regierungsparteien sollen sich gemeinsam mit dem Bundesrat zu Beginn einer jeden Legislatur auf einen Konkordanzvertrag einigen, in dem die wichtigsten Ziele für die folgenden 4 Jahre definiert werden.
Und die Bundesrätinnen sollen nicht mehr einzeln gewählt werden, sondern auf Listen, die vorgegebene sprach- und parteipolitische Anforderungen erfüllen. «So würden sie zu Teamplayern, statt bloss das eigene Gärtchen zu verteidigen», sagt Vatter.
3. Das Parlament arbeitet vollberuflich, die Annahme und Ausübung von bezahlten Nebenämtern ist verboten.
Wenn sich eine National- oder Ständeratskommission zu einer Sitzung trifft, sitzen nicht bloss Volks- respektive Ständevertreter am Tisch. Sondern auch Lobbyistinnen, die Partikularinteressen zum Durchbruch verhelfen wollen.
Es sind ein und dieselben Personen, die mehrere Hüte aufhaben: Zum einen sind sie gewählte Parlamentarier, zum anderen haben sie bezahlte Mandate aus der Privatwirtschaft.
Gemäss einer Untersuchung der Plattform Lobbywatch vom vergangenen Herbst sind 37 Prozent aller Engagements der Mitglieder von National- und Ständerat bezahlte Lobbymandate. Am besten vertreten ist die Energiebranche, gefolgt von der Wirtschaft und der Landwirtschaft, dem Verkehrs- und dem Gesundheitssektor. Wie problematisch diese Verstrickung sein kann, hat die Republik vor 4 Jahren am Beispiel von Mitte-Nationalrat Lorenz Hess aufgezeigt – und mithilfe einer zwar fiktiven, aber realitätsnahen Einführung ins politische Lobbying.
Zudem müssen die Parlamentsmitglieder genügend Zeit haben, um sich der Gesetzgebung zu widmen.
In einer Befragung gaben Nationalräte im Jahr 2014 an, für ihr Parlamentsmandat durchschnittlich 64 Prozent einer Vollzeitstelle à 42 Stunden pro Woche aufzuwenden. Das Pensum einer Ständerätin, die in mehr Kommissionen sitzt, betrug im Schnitt 73 Prozent. Seither hat der Komplexitätsgrad der zu behandelnden Geschäfte genauso zugenommen wie die internationale Vernetzung der nationalen Politik, und auch die Anzahl Motionen, Vorstösse und parlamentarischer Initiativen steigt stetig.
Die ursprüngliche Idee des Milizprinzips, wonach Parlamentarier gewöhnlichen Berufen nachgehen sollten und die Geschicke des Landes nebenher bestimmen sollten, ist längst leere Hülle.
Deshalb brechen wir damit. Künftig sollen National- und Ständerätinnen voll entlöhnt werden, dafür ist ihnen die Annahme und Ausübung bezahlter Nebenämter verboten. Zudem investieren wir in die Strukturen des Parlaments.
Vor wenigen Monaten hat Maja Hegemann von der Universität Bern in einem internationalen Vergleich von 30 OECD-Staaten festgestellt, dass kein anderes Parlament schlechter ausgestattet ist als das schweizerische: Nirgendwo sonst verdienen die Volksvertreter – verglichen mit dem Durchschnittslohn der Bevölkerung – weniger, nirgendwo sonst stehen ihnen relativ zur Parlamentsgrösse weniger Hilfskräfte zur Verfügung.
Hegemann hat deshalb Verständnis für unseren Vorschlag, wie sie im Gespräch sagt. Doch sie weist auch auf zwei Probleme hin: Zum einen könnten Landwirtinnen und Handwerker, die ihren Beruf nicht ohne weiteres für 4 oder 8 Jahre pausieren können, von der Kandidatur abgehalten werden. «Das könnte sich auf die Zusammensetzung des Parlaments und negativ auf seine Repräsentationsfunktion auswirken.» Zum anderen drohten Parlamentarier in ein finanzielles Loch zu fallen, wenn sie abgewählt würden oder aus freien Stücken aus der Politik ausschieden.
Seis drum: Wir probieren es.
4. Ein Verfassungsgericht wacht über die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen und Initiativen.
Im Prinzip ist die Hierarchie klar: In einem Rechtsstaat steht die Verfassung zuoberst, darunter kommen Gesetze und Verordnungen. In der Schweiz aber ist es komplizierter.
Aus zwei Gründen: Zum einen gibt es kein Verfassungsgericht, das ein vom Parlament erlassenes Gesetz kassieren oder eine Volksinitiative für ungültig erklären kann, wenn diese der Verfassung widersprechen; zum anderen verlangt Artikel 190 der Bundesverfassung sogar explizit, dass nicht die Verfassung, sondern Bundesgesetze (und das Völkerrecht) massgebend sind.
Das führt immer wieder zu Konflikten. So bemängeln links-grüne Kräfte, dass die 1994 angenommene Alpeninitiative, die das Alpengebiet vor dem Transitverkehr schützen sollte, nie umgesetzt wurde. Die SVP wiederum stört sich daran, dass sich das Parlament im Nachgang zur Masseneinwanderungsinitiative um die von Volk und Ständen gutgeheissenen Höchstzahlen und Kontingente für Ausländer foutierte und bloss einen «Inländervorrang light» beschloss. Beide Beschwerden sind nachvollziehbar.
«Bei der Umsetzung von an der Urne angenommenen Volksbegehren agieren wir in Bundesbern oft grenzwertig, ja zuweilen sogar übergriffig», sagt Mitte-Politiker Stefan Engler, der den Kanton Graubünden seit 12 Jahren im Ständerat vertritt. «Zwar sagt niemand: ‹Lasst uns die Verfassung brechen.› In der Praxis aber wird sie oft mehr als nur geritzt.»
Im Sommer 2021 nahmen Engler und sein grüner Ratskollege Mathias Zopfi deshalb einen neuen Anlauf zur Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Vor einem Jahr lehnte das Ständeratsplenum ihre beiden gleichlautenden Motionen ab. «Die Gegner argumentierten wie immer: mit Argwohn gegenüber der Justiz», sagt Engler. «Ich aber habe vollstes Vertrauen in das Gewaltenteilungsprinzip.»
Da geht es ihm wie uns. Weshalb wir die Verfassungsgerichtsbarkeit in unsere neue Verfassung aufnehmen.
Übrigens: Ein Verfassungsgericht sei nicht nur wegen der Umsetzung von Volksinitiativen nötig, findet Engler. Sondern auch, weil Bürger ansonsten bloss jene Grundrechte durchsetzen könnten, die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert werden – nicht aber jene, die nur in der Bundesverfassung zu finden sind: etwa die Eigentumsrechte, die Wirtschaftsfreiheit, die Rechtsgleichheit oder das Willkürverbot. Drittens habe sein Anliegen eine föderalistische Komponente: «Ohne Verfassungsgerichtsbarkeit können sich die Kantone nicht wehren, wenn sich der Bund Kompetenzen anmasst, die ihm laut Verfassung nicht zustehen.»
5. Richterinnen sind parteilos und werden von einem unabhängigen Gremium gewählt.
Die Schweizer Musterdemokratie weist einen gravierenden Konstruktionsfehler auf: Die Unabhängigkeit der Justiz ist mangelhaft. «Das ist sehr problematisch, denn es handelt sich hier um eine der wichtigsten Säulen einer gesunden Demokratie», sagt Nenad Stojanović. Der Professor für Politologie an der Universität Genf befasst sich seit Jahren mit der Mechanik der Schweizer Demokratie.
Das Problem: Wer als Richter gewählt werden will, muss Mitglied einer Partei sein oder sich zumindest offiziell zu einer bekennen. Und: Richterinnen liefern einen Teil ihres Lohnes in Form von Mandatssteuern an die Parteien ab. Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesgerichts nach einem fixen Parteiproporz jeweils für eine Amtszeit von 6 Jahren.
Die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (Greco) kritisiert die politische Abhängigkeit der Richter in der Schweiz in ihrem Länderbericht aus dem Jahr 2016 denn auch als nicht kompatibel mit einer modernen Demokratie. Sie thematisiert die mangelnde Unabhängigkeit der Richterinnen auch in ihrem jüngsten Zwischenbericht. Bereits 2016 warnte die Greco davor, dass, wenn die Polarisierung zunimmt, Richtern mit der Abwahl gedroht werden könnte, um sie politisch unter Druck zu setzen.
Und so geschah es. 2020 empfahl die SVP der Bundesversammlung, ihren Bundesrichter Yves Donzallaz nicht wiederzuwählen. Dies, weil einige von ihm gefällte Urteile der Volkspartei missfielen. Donzallaz wehrte sich in einem denkwürdigen Interview in der NZZ, in dem er sagte: «Die SVP instrumentalisiert damit die Justiz für ihre eigenen politischen Zwecke.» Nun treffe es ihn, aber andere Richterinnen könnten in dieselbe Situation geraten. Das bestätigte in der Republik auch der ehemalige Zürcher Obergerichtspräsident Martin Burger, der deswegen aus der SVP ausgetreten war. Yves Donzallaz wurde damals mit den Stimmen der anderen Parteien in seinem Amt bestätigt und letzten Herbst als Bundesgerichtspräsident gewählt. Kurz zuvor gab er sein Parteibüchlein ab.
«Der Fall Donzallaz ist nur die Spitze des Eisbergs, weil viele Versuche der Politik, auf die Justiz Druck auszuüben, nicht öffentlich werden», sagt Nenad Stojanović. Er beliess es nicht bei der Theorie und handelte, indem er die Justiz-Initiative unterstützte. Sie forderte eine Fachkommission, die geeignete Personen fürs Bundesgericht vorschlägt, die dann per Los bestimmt werden sollten. Die Initiative scheiterte an der Urne deutlich. Wir finden: Ein neuer Anlauf ist angesagt.
6. Ausländer erhalten nach 5 Jahren Aufenthalt in der Schweiz das aktive Stimm- und Wahlrecht.
Jede vierte Person, die in der Schweiz lebt, hat keinen Schweizer Pass. Die meisten davon sind nicht erst seit gestern da: 60 Prozent von ihnen sind in der Schweiz geboren oder länger als 10 Jahre hierzulande ansässig. Das bedeutet: Sie leben hier, arbeiten und zahlen Steuern in der Schweiz. Aber sie haben nichts zu sagen. Von Täsch über Paradiso, von Kreuzlingen bis nach Leysin gibt es sogar Orte, wo mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen nicht stimmen und wählen dürfen.
Die Schweiz hatte viel zu lange ein massives Demokratiedefizit, als die Frauen nicht stimmen durften. Und sie hat weiterhin ein Demokratiedefizit, weil ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung nicht mitbestimmen kann. Das wollen wir ändern: Ausländische Personen sollen nach 5 Jahren in der Schweiz das aktive Stimm- und Wahlrecht erhalten. Das heisst: Sie dürfen wählen und abstimmen, nicht aber selbst für ein Amt kandidieren. Das soll immer noch den Schweizer Bürgerinnen vorbehalten sein, sonst gibt es praktisch keinen Grund mehr, sich einbürgern zu lassen.
Das ist gar nicht so revolutionär: In der Westschweiz, in Teilen Graubündens sowie in einzelnen Gemeinden in Appenzell Ausserrhoden dürfen Ausländer auf Gemeindeebene über politische Vorlagen mitentscheiden. In den Kantonen Jura und Neuenburg haben Personen ohne roten Pass auch auf Kantonsebene das Stimmrecht.
Auch die grüne Nationalrätin Sibel Arslan befürwortet das Ausländerstimmrecht: «Wenn man will, dass die Leute die politischen Entscheidungen in der Bildung, beim Transport, bei der Gesundheit mittragen, dann müssen sie auch mitentscheiden können.» Zum Argument, wer das wolle, könne sich einbürgern lassen, sagt Arslan: «Die Schweiz hat die restriktivsten Einbürgerungskriterien in ganz Europa. Es ist sehr teuer und man muss lange warten. Das schreckt viele Leute ab.»
Die grüne Fraktion forderte neulich in einem Vorstoss das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen. Es scheiterte im Parlament. Wie viele Anliegen brauche auch dieses seine Zeit, sagt Arslan: «Es ist in den Köpfen noch nicht gewachsen, aber ich bin zuversichtlich.» Wir finden: Steter Tropfen höhlt den Stein.
7. Um der jüngeren Generation mehr Gewicht zu verleihen, wird dem National- und dem Ständerat ein Zukunftsrat zur Seite gestellt. Dieser hat ein Vorschlags- und ein Vetorecht.
Obwohl jüngere Menschen am längsten von den Entscheidungen der Politik betroffen sind, beteiligen sie sich unterdurchschnittlich stark am politischen Prozess. So wählten bei den nationalen Wahlen 2019 bloss 33 Prozent der unter 25-Jährigen, während die Wahlbeteiligung über alle Altersgruppen hinweg bei 45 Prozent lag – und jene bei den 65- bis 74-Jährigen gar bei 62 Prozent.
Bei Abstimmungen liegt das Medianalter derzeit bei 57 Jahren. Gemäss Berechnungen des Thinktanks Avenir Suisse wird es bis 2035 auf deutlich über 60 Jahre steigen. Heisst: Der Einfluss der über 60-Jährigen wird wegen der gestiegenen Lebenserwartung bei Volksentscheidungen bald gleich gross sein wie derjenige aller unter 60-Jährigen.
Wie also lässt sich sicherstellen, dass nicht auf Kosten jüngerer Generationen politisiert wird? Es braucht, so finden wir, einen Zukunftsrat. Und zwar einen mit weitreichenden Kompetenzen: einem Vorschlags- und einem Vetorecht.
In unserer Idealvorstellung bestünde der Zukunftsrat aus 100 Personen im Alter von 16 bis 29 Jahren mit Wohnsitz in der Schweiz, die in einem gewichteten Losverfahren bestimmt werden und dem Rat für jeweils 2 Jahre angehören. Er wäre repräsentativ zusammengesetzt gemäss folgenden Auswahlkriterien: Alter, Geschlecht, Bildungsweg, Kanton, Sprache, Staatsangehörigkeit, Beeinträchtigungen und politische Einstellung.
Wann immer sich der Zukunftsrat mit einfacher Mehrheit auf einen Gesetzesvorschlag zuhanden von National- und Ständerat einigen würde, wären diese verpflichtet, innerhalb eines Jahres darüber zu beraten. Zudem könnte der Zukunftsrat die vom National- und Ständerat verabschiedeten Gesetze mit einer qualifizierten Mehrheit (zwei Drittel der Stimmen) blockieren.
Die Konzeption unseres Zukunftsrats ähnelt jener des Zukunftsrats von Pro Futuris, einem Projekt der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Am 9. und 10. September diskutierten in Zürich 80 repräsentativ ausgeloste junge Erwachsene zwischen 16 und 24 Jahren über psychische Gesundheit. «Solche Bürgerinnen- und Bürgerräte sind imstande, Ideen zu generieren, auf die in der etablierten Politik niemand kommt», sagt Co-Projektleiter Che Wagner.
Was ihm an unserem Zukunftsrat besonders gefällt: dass dieser sowohl als Inputgeber als auch als Korrektiv dienen würde. «Das würde dem schwindenden Vertrauen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik entgegenwirken.»
8. Um die natürlichen Grundlagen für künftige Generationen zu bewahren, schützt die Schweiz ihre Artenvielfalt. Zudem leistet sie ihren Beitrag zum globalen Klimaschutz und reduziert den CO2-Ausstoss auf netto null bis 2050.
Die Klimaerwärmung und der Schwund an Biodiversität gehören zu den grössten Herausforderungen unserer Zeit. Wer aber in der Bundesverfassung nach diesen beiden Worten sucht, erhält null Treffer. Etwas vage verweist sie auf den Schutz bedrohter Arten, doch das wird der Dimension dieses existenziellen Problems nicht gerecht.
Diese Lücke müssen wir schliessen.
Einige Kantone haben dies bereits getan. So kennt der Kanton Genf seit 2012 einen Klimaschutzartikel. Neulich wurden solche Artikel in den Kantonen Bern, Zürich, Glarus und Waadt eingeführt, jeweils mit deutlichem Ja an der Urne beziehungsweise an der Landsgemeinde. Im Kanton Baselland befindet sich ein Vorschlag zu einem Klimaschutzartikel im Parlament. Und im Kanton Appenzell Ausserrhoden ist ein Artikel zum Klima Teil der laufenden Verfassungsreform.
Im Kanton Bern sass SP-Nationalrätin Nadine Masshardt im Ja-Komitee für einen Klimaschutzartikel in der Verfassung. Sie ist überzeugt: «Das wäre auch auf nationaler Ebene sinnvoll.» Allerdings sind solche Verfassungsartikel sehr generell formuliert, und niemand wacht über ihre Einhaltung (was wir mit dem Vorschlag Nummer 4 ändern wollen). Und doch lieferten sie eine gute Basis für die Gesetzgebung, sagt Masshardt: «Niemand will gegen die Verfassung verstossen. Wir können uns darauf berufen, um mehr Klimaschutz einzufordern, oder auch, um gegen Gesetze zu kämpfen, die dem Klima schaden.» Wir finden: Worauf warten wir noch?
9. Die Schweiz pflegt geregelte Beziehungen mit der EU und beteiligt sich am Prozess der europäischen Integration.
Die Schweiz liegt im Herzen Europas, umringt von Staaten der Europäischen Union. Unser Schicksal ist eng mit jenem Europas verwoben. So sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass die Schweiz geregelte Beziehungen mit der EU pflegt. Und doch: Die Beziehungen sind festgefahren, seit 10 Jahren gibt es keinen Fortschritt.
Grund dafür ist in erster Linie die europapolitische Blockade im Inland: Die Regierungsparteien fürchten ihre Wählerschaft und das Stimmvolk, weil sie denken, die seien nach jahrzehntelangem nationalistischem Trommelfeuer der SVP kopfscheu geworden. Wir finden: Es braucht eine Klärung.
Sanija Ameti findet das auch. Die Reformblockade im Europadossier habe einen tiefer liegenden Grund, sagt die Co-Präsidentin der Operation Libero: Die Schweiz habe nie definiert, welche Rolle sie in der Welt einnehmen wolle. «Auf der einen Seite gibt es auf Mythen basierte rechtskonservative Vorstellungen über regulative Nischen, auf der anderen Seite eher auf Fakten basierte Vorstellungen von Marktzugang und Wettbewerb.» Diese gegensätzlichen Identitäten seien unvereinbar, so die grünliberale Politikerin: «Es braucht eine Volksabstimmung, die diese Frage klärt.»
Deshalb hat die Operation Libero mit den Grünen und anderen Organisationen die sogenannte Europa-Initiative lanciert. Sie verlangt vom Bundesrat, dass er mit der EU Verträge abschliesst, die es ermöglichen, «bestehende Abkommen zu erneuern und an weiteren Sektoren des Binnenmarktes und Bereichen der europäischen Zusammenarbeit zu partizipieren».
Eine engere Zusammenarbeit mit der EU würde zudem – entgegen der gängigen Vorstellung – die demokratische Mitbestimmung verbessern. Die grossen Fragen wie der Klimaschutz, die Migration, die Versorgung mit Medikamenten und Rohstoffen, die Besteuerung der Grosskonzerne: Sie alle lassen sich nur auf der internationalen Ebene lösen.
Nationale Abstimmungen verfehlen zuweilen ihre Wirkung, weil die Musik auf einer anderen Ebene spielt. So war es bei der Abstimmung über die Teilnahme an der EU-Grenzschutzbehörde Frontex – zum Ärger der Linken –, so war es bei der Masseneinwanderungsinitiative – zum Ärger der SVP. «Wir können für die Galerie abstimmen, haben aber in der Schweiz zu den wichtigsten Fragen nichts zu sagen. Wir übernehmen dann europäische Regeln aufgrund des ökonomischen Drucks», sagt Sanija Ameti.
Wir finden: Mitbestimmen ist besser, als die EU-Regulierungen grösstenteils zu übernehmen und dabei Autonomie vorzugaukeln.
10. Die Schweiz steht im In- und im Ausland aktiv für Menschenrechte, Demokratie und den Rechtsstaat ein. Sie tätigt keine Geschäfte mit Personen und Staaten, die systematisch gegen diese Werte verstossen.
«Wandel durch Handel»: Im Umgang mit Grossmächten ist die neoliberale Hoffnung gescheitert. Das zeigten die russischen Angriffskriege in Georgien, auf der Krim und nun schon seit mehr als eineinhalb Jahren in der Ukraine. Aber auch der immer aggressiver spürbare chinesische Expansionswille.
Wenn es um Geschäfte geht, ist die Schweiz stets an vorderster Front. Von moralischen Kriterien lässt sie sich ungern leiten. Das war beim südafrikanischen Apartheidregime so, und auch im Zusammenhang mit Putins Russland brauchte es hohen internationalen (und inländischen) Druck, bis sich der Bundesrat doch noch zur Übernahme von Sanktionen durchrang.
Damit soll Schluss sein. Und deshalb schreiben wir in die Verfassung: Die Schweiz tätigt nicht länger Geschäfte mit Personen und Staaten, die systematisch gegen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat verstossen.
Marco Jorio hat uns noch davon abzuhalten versucht. Zwar hat der Historiker, der im April einen 500-Seiten-Wälzer zur schweizerischen Neutralität vorgelegt hat, durchaus Sympathien für unser Anliegen. Doch er sagt auch unmissverständlich: «Das ist nicht praktikabel. Wer glaubt, jegliche Geschäfte mit Personen und Staaten verbieten zu können, die unsere Werte geringschätzen, verspricht etwas, das er nicht wird halten können.»
Wir schafften uns eine Vielzahl von Problemen, warnt Jorio. «Wer würde entscheiden, dass ein Staat oder ein Mensch zu wenig demokratisch ist, um mit ihm Handel zu treiben? Der Bundesrat? Oder das Bundesgericht? So oder so: Die Schweiz wäre gezwungen, sich zum Lehrmeister emporzuschwingen. Das ist mir zu moralistisch.»
Wir wagen es dennoch.
In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass 1798 Napoleon Bonaparte die Schweiz aufteilte. Korrekt ist, dass sich Bonaparte erst später mit der Schweiz beschäftigte, nachdem er sich 1799 zum Alleinherrscher Frankreichs geputscht hatte. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.