«Woke» vs. «links»?

Die Philosophin Susan Neiman unterzieht die «Wokeness» einer Fundamental­kritik – von links. Das geht nicht immer gut. Ihre Verteidigung des Universalismus ist trotzdem dringlich.

Von Daniel Graf (Text) und Andrea Ventura (Illustration), 26.08.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Wenn es zu den Haupt­aufgaben eines Buchtitels gehört, für Aufmerksamkeit zu sorgen, dann hat dieser zumindest schon mal ein Ziel erreicht. «Links ist nicht woke» heisst der gerade erschienene Band der Philosophin Susan Neiman – eine Titelwahl, bei der sich die Gattungs­angabe «Streitschrift» erübrigt.

Bisher kannte man die «Wokeness» ja vor allem als thematischen Dauer­aufreger konservativer Medien und als derzeit liebsten Feindbild-Fetisch aller Rechtsaussen-Parteien. Hier aber kommt die Kritik – Kritik, nicht billige Polemik – von einer linken Intellektuellen, die sich seit jeher für all die Gerechtigkeits­anliegen engagiert, mit denen man auch die sogenannten «Woken» assoziiert.

Dass Neiman just diese vermeintliche Nähe nun negiert, ist offenbar die Pointe, die ihr am wichtigsten ist. Auf dem Buchcover prangt zwischen «Links» und dem Reizwort «woke» ein durchgestrichenes Gleichheits­zeichen. Kein Zweifel, da möchte jemand nicht mit den «Woken» verwechselt werden.

Zur Person und zum Buch

Susan Neiman, 1955 in Atlanta, Georgia, geboren, ist seit dem Jahr 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Zuvor war sie Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv. Zu ihren Büchern gehören unter anderem «Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie» (2004), «Moralische Klarheit» (2010) und «Von den Deutschen lernen» (2020). Neiman, die auch die israelische Staats­bürgerschaft hat, lebt in Berlin. Ihr aktuelles Buch «Links ist nicht woke» erschien im Juni in den USA und diese Woche in der deutschen Übersetzung von Christiana Goldmann bei Hanser Berlin.

Warum nicht? Weil die «Woken» nur vermeintliche Linke seien, sich in Wirklichkeit aber «von philosophischen Ideen verabschiedet» hätten, «die für den linken Standpunkt von zentraler Bedeutung sind».

Drei Haupt­vorwürfe richtet Neiman an die «Woke-Bewegung»: Ihr fehle «ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammes­denken». Sie verfüge über keine «klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht». Und ihr gehe «die Überzeugung» ab, «dass Fortschritt möglich ist».

Wer nicht schon beim Buchtitel überrascht war, ist womöglich jetzt nachhaltig irritiert. Beruft sich nicht ein Grossteil derer, die so gerne als «woke» verschrien werden, mit Nachdruck auf die universellen Menschenrechte und gruppen­übergreifende Gleichheits­ideale? Spielen Gerechtigkeits­forderungen und Macht­kritik dabei nicht eine gleicher­massen zentrale Rolle (wobei Gerechtigkeit und Macht analytisch auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen)? Und ist es nicht geradezu die Grund­annahme von Antidiskriminierungs-Aktivistinnen, dass Fortschritt möglich sei, auch wenn er viel zu langsam vonstattengehe?

Die Antwort von Neiman wäre wohl: Wenn sie diese Dinge beherzigen, dann sind sie eben nicht «woke». So etwas wie eine positive «Wokeness», die ohne die von ihr konstatierten Versäumnisse auskommt, gibt es in ihrer Systematik nicht. Das «Woke» ist bei Neiman grundsätzlich das Falsche.

Das führt für ihre Argumentation zu erheblichen Schwierigkeiten. Aber es ändert auch nichts daran, dass die Kern­botschaften dieses Buches mit ihrer vehementen Verteidigung von Aufklärung und Universalismus gerade heute von grosser Dringlichkeit sind.

Für den Universalismus

Neimans Ausgangspunkt und zentraler Appell: Sie plädiert nachdrücklich dafür, an der Idee des Universalismus festzuhalten, also der «Überzeugung, dass wir Menschen, trotz aller trennenden Unterschiede in Raum und Zeit, im Grund auf vielfältige Weise eins sind».

Universalistisch denken heisst, die verbindende Idee der einen Menschheit und der gleichen Würde aller Menschen hochzuhalten. Und es heisst konsequenter­weise, in internationaler Solidarität für die faktische Verwirklichung dieser Ideen einzutreten. Denn zur Geschichte der universalistischen Idee gehört auch: Sie sah sich schon immer einer haarsträubend defizitären Realität gegenüber. Die Allgemeine Erklärung der Menschen­rechte der Vereinten Nationen von 1948 mag bis heute der stärkste politische Ausdruck dieser Idee sein – aber selbst von den Unterzeichner­ländern, so Neiman, hat noch keines «eine Gesellschaft geschaffen, die all diese Rechte sicherstellt».

Universalismus also ist kein Realitäts­befund, sondern ein Prozess, eine regulative Idee, ein Aufruf, permanent daran zu arbeiten, dass die Kluft zwischen Idee und Realität kleiner wird.

Allerdings, und darum geht es Neiman in ihrem Buch, steht aktuell auch die universalistische Idee selbst unter Beschuss – mal direkt, mal weniger offensichtlich. Und zwar nicht mehr nur, wie immer schon, durch die autoritäre Rechte, sondern, so Neiman, eben auch von Aktivisten, die sich als dezidiert links verstünden, in Wirklichkeit aber reaktionäre Positionen einnähmen.

Der universalistische Grund­gedanke, dass letztlich das Verbindende zwischen Menschen höher zu gewichten sei als die Unterschiede zwischen Individuen und zwischen Gruppen, führt Neiman jedenfalls zu zwei grundsätzlichen Einsprüchen.

Der erste richtet sich gegen eine bestimmte Deutung der sogenannten Standpunkt-Theorie, wonach unser Erkenntnis­vermögen abhängig sei von der sozialen Stellung und den Erfahrungen einer Person. Entgegen der Vorstellung, dass zum Beispiel transphobe Gewalt oder rassistische Diskriminierung nur für Menschen wirklich nachvollziehbar sei, die das gleiche Unrecht erlitten haben, warnt Neiman mit Nachdruck vor einer zu kategorischen Unterteilung in partikulare Gruppen und vor einer Überhöhung der Opfer­rolle zum alles bestimmenden Faktor der Identität: Weder erwachse aus Leid- und Schmerz­erfahrungen ein exklusiver Zugang zu Wissen oder eine besondere Autorität, noch sollten Menschen auf ihren Status als Opfer reduziert werden (auch nicht von sich selbst).

Neiman negiert hier keineswegs die Bedeutung fundamental verschiedener Erfahrungen und Lebens­voraussetzungen; sie beharrt aber darauf, dass das Trennende verschiedener Erfahrungen niemals absolut ist, weil Mitgefühl und Vernunft den Menschen dazu befähigen, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad in andere hinein­zuversetzen:

Wer würde bestreiten, dass das Leben völlig anders – und vermutlich kürzer – wäre, wenn man in Mombasa statt Manhattan aufwüchse? [Doch] das Foto eines zerfetzten Körpers lässt uns selbst in einer Welt, die von Bildern der Gewalt gesättigt ist, einen Moment lang erschaudern. Mag uns das Foto auch aus einem anderen Land erreicht haben, dieser Körper könnte der eigene sein. Wir brauchen keinen komplizierten Schluss von unserem Schmerz auf den eines anderen zu ziehen. Das Mitgefühl macht sich augenblicklich bemerkbar, selbst wenn es in der Regel flüchtig ist.

Man könnte das, wofür Neiman hier argumentiert, einen radikalen Humanismus nennen, weil sie die Idee der einen Menschheit konsequent über alle anderen Identitäts­marker stellt und auf der menschlichen Befähigung zu moralischem Handeln insistiert. Fremdes Leid geht auch die Verschonten an. Und Leid- und Schmerz­erfahrung wiederum entbindet auch die Opfer nicht von eigener moralischer Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen.

Neimans Einspruch Nummer zwei richtet sich entschieden gegen die These, der Universalismus sei in Wirklichkeit nur eine Ansammlung von westlichen Werten – oder schlimmer, ein Taschenspieler­trick, mit dem der Westen dem Rest der Welt seine Ideologie überstülpen wolle, nur um diese Werte selbst permanent mit Füssen zu treten.

Tatsächlich kann sich solche Kritik am Westen ja auf unzählige Beispiele in der Geschichte berufen, und wie eklatant die westlichen Staaten bis heute die eigenen hochstehenden Ideale verraten, lässt sich täglich an den EU-Aussengrenzen beobachten.

Neimans Punkt aber ist: All das ist kein Grund, den Universalismus als Idee aufzugeben, und es ist ein Irrtum, diese Idee allein im Westen zu verorten. Denn ausgerechnet das anti­universalistische Argument, das den Westen kritisieren will, tut ihm zu viel der Ehre an. Für universalistische Werte, wie sie zur Allgemeinen Erklärung der Menschen­rechte geführt haben – bis heute wohl das Grösste und Zustimmungs­fähigste, was Menschen ideen­geschichtlich zustande gebracht haben –, für diese Werte gebührt dem Westen weiss Gott nicht das alleinige Verdienst.

Es ist eine bittere Ironie: Nachdem der Postkolonialismus den Sinn dafür geschärft hat, wie Industrie­nationen immer wieder aus den Ressourcen des Globalen Südens das Beste für sich selbst abschöpfen, will man nun ausgerechnet vonseiten einer postkolonial inspirierten Westkritik den Universalismus samt seinen wichtigsten Errungenschaften ganz dem Westen zuschreiben. Was für ein Missverständnis.

Es ist deshalb folgerichtig, dass Neiman den ghanaischen Philosophen Ato Sekyi-Otu zitiert: «Man kann Europa zugutehalten, den gemeinsamen Intuitionen und Träumen der Menschen einen formellen und institutionellen Ausdruck verliehen zu haben. Doch man sollte dem Westen keine ausschliesslichen Eigentums­rechte an dieser Idee einräumen.»

In einer ebenso übersteigerten wie reduktionistischen Kritik am Westen wird, so Neiman, erstens «der Universalismus schwarzer Denker beiseite­geschoben», zweitens würden die «universalistischen Elemente in den Klassikern des anti­kolonialistischen und anti­rassistischen Denkens heruntergespielt».

Neiman führt Frantz Fanon an, einen Denker, der nicht gerade im Verdacht besonderer Nachsicht mit dem Westen steht – und dennoch universalistisch argumentiert, wenn er sagt: «Alle Formen von Ausbeutung gleichen sich, denn sie alle richten sich gegen dasselbe Objekt: den Menschen.»

Neiman zitiert auch den 1973 ermordeten Unabhängigkeits­kämpfer Amílcar Cabral mit einem Schlüsselsatz, dessen hellsichtiger Twist auch für gegenwärtige Debatten hochrelevant ist. Cabral klagt darin die «Geringschätzung der kulturellen Werte afrikanischer Völker auf der Grundlage rassistischer Gefühle» und des Willens zur Ausbeutung an. Dann setzt er fort: «doch nicht weniger schädlich (…) wäre für Afrika die blinde Billigung der Werte seiner Kultur, ohne zu betrachten, welche ihrer Elemente heute oder möglicherweise in Zukunft regressiv sind». Diese Möglichkeit zu einer Kritik in zwei Richtungen verbaut sich, wer ganze Weltregionen nur als Opfer und andere nur als Täter sehen kann, deren Denker unabhängig von ihren philosophischen Positionen gleich mitentwertet werden.

Worum es Neiman also geht: Auch und gerade die Kämpfe gegen ungleiche Rechte, Unter­drückung und Entmenschlichung seien letztlich nicht im Namen bestimmter Identitäts- oder kultureller Merkmale zu führen, sondern im Beharren auf der universellen Idee der Menschheit.

Auf die Menschlichkeit derjenigen zu verweisen, die entmenschlicht werden, ist eine universelle Weise, auf Unterdrückung überall auf der Welt zu reagieren.

Man darf das Argument vielleicht so zusammen­fassen: Universalistisch denken bedeutet, die Vielfalt von Kulturen und Geschichten in ihrer Spezifik wahrzunehmen – und dennoch am Ende wieder auf das Verbindende, auf das allen gemeinsame Menschsein, zurück­zukommen und daraus die ethischen Forderungen abzuleiten. «Kultureller Pluralismus und politischer Universalismus» lautet die Formel, auf die Neiman das kürzlich in einem Interview gebracht hat.

Uff. Alles ein bisschen zu abstrakt? Irgendwie wichtig, aber mit all den Wörtern auf «-ismus» auch furchtbar anstrengend?

Zwei Dinge. Es wird, zum einen, gleich etwas niedrig­schwelliger. Weil Kolonialismus und Rassismus leider die vertrauteren Ismen sind.

Zum anderen: Wie Neiman zeigt (und zuvor bereits auch der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm), ist Abstraktion, philosophisch und moralisch, gerade das Unverzichtbare am Universalismus. «Der Gedanke», so Neiman, «für Protestanten und Katholiken, Juden und Muslime, Herren und Knechte müsse dasselbe Recht gelten, einzig und allein, weil sie alle Menschen sind, ist eine verhältnis­mässig junge Errungenschaft.» Die Idee der Menschheit ist nicht an partikulare Konventionen und Interessen geknüpft, sondern an eine moralische Definition vom Menschen. «Wer von Menschheit spricht, erhebt normative Ansprüche», schreibt Neiman und verweist als Beispiel für die Heraus­forderung dieser Abstraktion auf den ersten Artikel des deutschen Grund­gesetzes, «Die Würde des Menschen ist unantastbar»:

Als Tatsachen­aussage ist der Satz lächerlich, schliesslich wurde er wenige Jahre nach Ende des Dritten Reichs niedergeschrieben, in dem die menschliche Würde auf bis dahin unvorstellbare Weise verletzt worden war. Gemeint ist mit diesem Satz vielmehr ein Gebot: In jemandem den Menschen zu erkennen, heisst, ihm eine Würde zuzusprechen, die geachtet werden soll. Es bedeutet zudem, dass diese Anerkennung eine Errungenschaft ist: Die Menschheit in all den eigenartigen und schönen Erscheinungs­formen zu erkennen, ist eine Leistung, die uns nötigt, über den Augenschein hinauszugehen.

Philosophie­geschichtlich führt die moralische Definition der Menschheit zurück zu Immanuel Kant und zur Aufklärung. Nur: In letzter Zeit gaben vor allem die rassistischen Passagen in den Werken der Aufklärer zu reden.

Damit wären wir beim nächsten Konflikt. Und nach dem Universalismus bei der zweiten Ehren­rettung, auf die es Neiman ankommt.

Die Aufklärung verteidigen

Die Klassiker der europäischen Aufklärung waren rassistisch, sexistisch, eurozentrisch und sie befürworteten Sklaverei und Kolonialismus – das ist, knapp skizziert, das Bild, das laut Neiman unter den «Woken» vorherrsche und gegen das sie hier anschreibt.

Mindestens zweierlei daran trifft zu. Zum einen ist die Fundamental­kritik an der Aufklärung in den letzten Jahren tatsächlich lauter geworden denn je, und das Kursieren entsprechender Klassiker-Zitate auf Social Media und anderswo hat Menschen dazu gebracht, sich von den Aufklärern abzuwenden und ihre Ideen grundsätzlich zu verwerfen. Zum anderen: Diese Zitate gibt es – und dass sie in aller Klarheit kritisiert werden, ist ja zunächst einmal eine überfällige Errungenschaft.

Neiman aber, und auch das macht ihr Buch lesenswert, versucht, beide Aspekte zusammen­zudenken. Und dadurch Verzerrungen richtigzustellen – gegen das, was sie «enlightenment bashing» nennt.

Da ist zunächst der Eurozentrismus-Vorwurf. Neiman zeigt, wie die Aufklärer in ihren Schriften regelmässig nicht­europäische Stimmen auftreten lassen, die sie «zum Sprachrohr» ihrer «Kritik an den Sitten in Europa» machen. Und zwar in einer Deutlichkeit, wie sie etwa Montesquieu «mit seiner eigenen Stimme als Franzose nicht unbeschadet hätte äussern können». Ob die indigenen Stimmen in den Texten der europäischen Aufklärer fiktive oder ganz reale Stimmen waren (wie jüngst David Graeber und David Wengrow argumentierten), ist umstritten. Eurozentrische Sicht­weisen und Selbst­gerechtigkeiten zu kritisieren, war jedenfalls genau das, was die Aufklärer teils unter erheblichen Risiken für das eigene Leben praktizierten.

Neiman ruft etwa Christian Wolff ins Gedächtnis, der 1723 aufgefordert wurde, seine Professur in Halle aufzugeben und Preussen zu verlassen, weil er sonst hingerichtet werde. Der Grund: Er «hatte öffentlich behauptet, die Chinesen seien ein moralisch hochstehendes Volk, auch wenn sie keine Christen waren». Neiman zitiert Rousseau: «Die ganze Erde ist von Völkern übersät, von denen wir nur die Namen kennen – und wir wagen, ein Urteil über das Menschen­geschlecht zu fällen.» Ähnliche Sätze, die zur intellektuellen Demut angesichts des eigenen engen Horizontes mahnen, gibt es auch von Kant und Diderot. Es waren die Aufklärer, die gegen die Dogmen und die Ignoranz ihrer Zeit überhaupt erst Erkenntnisse durch­setzten, die heute selbst­verständlich sind.

Wie steht es um ihre Haltung zu Kolonialismus und Sklaverei?

Neiman erinnert an Kants berühmte Schrift «Zum ewigen Frieden», die auch ein «bissiger Angriff auf den Kolonialismus» sei. Die sogenannten europäischen Entdecker, schreibt Kant, betrachteten etwa Amerika oder afrikanische Länder nur aus einem einzigen Grund als Gebiete, die «keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts». Mit heutigen Worten: Kant kritisiert die europäischen Invasoren dafür, den Natives ihr Menschsein und ihre Rechte abgesprochen zu haben. Im selben Atemzug geisselt er die «Staaten unseres Welt­theils», sie hätten Ungerechtigkeit, Krieg, Hunger, Aufruhr und die ganze «Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken», in die Welt exportiert.

Diderot appellierte an die indigene Bevölkerung von Südafrika, sich gegen die holländische Kolonialisierung zur Wehr zu setzen, und inspirierte mit seiner Vorhersage, «ein schwarzer Spartacus» werde kommen und den Befreiungs­kampf anführen, Denker wie Toussaint Louverture. Voltaire porträtiert in «Candide» einen schwer misshandelten Sklaven in Surinam und lässt ihn die Europäer anklagen, das sei der Preis für ihren Wohlstand. Und Kant schrieb in der «Metaphysik der Sitten», alles habe «entweder einen Preis, oder eine Würde», und der Mensch sei «über allen Preis erhaben», weil er über eine Würde verfüge, die ihn niemals zum Mittel machen dürfe. Der Mensch ist vielmehr ein Zweck an sich.

Vor diesem Hintergrund mag es umso verstörender sein, dass dieselben Aufklärer, die Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung so wortmächtig kritisierten, an anderer Stelle Positionen vertraten, die ihren eigenen Idealen Hohn sprachen.

«Vereinzelt finden sich in den Schriften selbst der grössten Vertreter der Aufklärung abstossende Bemerkungen über Schwarze und Juden», schreibt Neiman. In Kants anthropologischen Schriften etwa stehen Bemerkungen, die eindeutig als rassistisch zu klassifizieren sind und die man heute als «white supremacy» bezeichnen würde.

Der Punkt, für den sich Neiman nun starkmacht, ist der: Es ist ein fataler Fehler, diesen Äusserungen damit entgegen­zutreten, dass man die Aufklärung in Bausch und Bogen verwirft und all ihre Positionen zurückweist. Nicht gegen die Aufklärung und den Universalismus, sondern mit ihnen muss man Kant kritisieren – dafür, dass er hier auf frappierende Weise hinter seine eigenen Ideale zurückfällt. Ins Über­persönliche gewendet: Es ist ein schwer­wiegender logischer Fehler, so zu tun, als seien die grossen Ideologien und Verbrechen der Geschichte aus dem aufklärerischen und universalistischen Denken heraus entstanden – anstatt aus eklatanten Verstössen gegen die universalistische Idee.

«Die Denker der Aufklärung», schreibt Neiman, «waren auch Männer ihrer Zeit (…), und zwar sexistische Männer. Sie waren von Männern früherer Zeiten erzogen worden, und ihr Bemühen, sich von Vorurteilen zu befreien, konnte nie endgültig sein.»

Das mag in manchen Ohren wie Apologetik klingen. Aber wenn Neiman darauf beharrt, dass wir «Menschen nicht politisch einordnen können», ohne «sie in ihrer Zeit zu betrachten», dann geht es ihr darum, dass Fortschritt nur im Rahmen einer historischen Einordnung sichtbar wird. Die Aufklärer waren, trotz aller Mängel und unreflektiert gebliebener Vorurteile, zu ihrer Zeit die bahnbrechend Progressiven, auf deren Errungenschaften unser heutiges kritisches Bewusstsein aufbaut. Wir sollten, meint Neiman, dieses Erbe nicht leichtfertig ausschlagen.

Das ist eine weitere eminent wichtige Botschaft. Doch nicht immer hat sie in diesem Buch die richtigen Adressaten.

«Woke» oder links? Falsche Frage!

Neimans Streitschrift ist intellektuell anregend und, trotz einiger Sprünge und Inkohärenzen, ein Referenztext für gegenwärtige Debatten. Das Buch hat allerdings auch seine Mängel, und die philosophie­geschichtlichen – etwa die karikaturhaft verkürzte Darstellung des Werks von Michel Foucault oder von Horkheimers und Adornos «Dialektik der Aufklärung» – sind nicht einmal die grössten davon, weil sie eher auf der inner­philosophischen Meta­ebene liegen.

«Links ist nicht woke» hat vielmehr zwei grundsätzliche, miteinander zusammen­hängende Schwächen: Es bleibt, mit Ausnahme von ein paar wenigen konkreten Stellen, bis zum Ende erstaunlich unbestimmt, wer genau diese «Woken» eigentlich sind, die da den Zorn der Autorin auf sich ziehen. Und Neiman unterschätzt, wie viel Zustimmung in Wirklichkeit aus dem sogenannten «woken» Lager für ihre Ansichten vorhanden wäre, würde sie sich mehr an real existierenden Positionen als an einem Zerrbild abarbeiten.

Das Atem­beraubende am Wort «woke» ist ja, dass man nie jemandem begegnet, der es als Selbst­beschreibung für sich in Anspruch nimmt, es sich aber offenbar bestens als Kampf­begriff und Projektions­fläche eignet. Nun ist Neimans Buch nicht nur von der politischen Stossrichtung, sondern auch vom Reflexions­level eine völlig andere Nummer als die immer gleichen, rituell angeheizten Medien­debatten, in denen im Wechsel der Jahrzehnte mal der «Gutmensch», mal die «Identitäts­politik» und seit einiger Zeit halt das Wort «woke» als Verkörperung allen Übels aufgefahren wird.

Neimans Kritik hingegen ist, bei aller Schärfe und trotz der Abgrenzung im Titel, dem Grund­anliegen der sogenannten «Woken» nach einer egalitäreren Gesellschaft gegenüber solidarisch. Dennoch bleibt auch ihr «Wokeness»-Begriff seltsam unscharf. Konkrete aktuelle Beispiele für «woke» Argumentationen, Texte, Manifeste oder Statements, die dann auf ihre falschen Prämissen und Schluss­folgerungen hin gelesen werden könnten, kommen kaum vor. Das, was als «woke» zu gelten hat, ist irgendwie immer schon da. Und obwohl Neiman schreibt: «Woke bezeichnet keine eigentliche Bewegung», finden sich gleich daneben Sätze wie diese:

Die Woke-Bewegung fordert Nationen und Völker dazu auf, sich mit den Verbrechen in ihrer Geschichte auseinander­zusetzen. Oft wird aber daraus geschlossen, dass die Geschichte aus nichts als Verbrechen besteht.

Das syntaktische Passiv, das ohne handelndes Subjekt auskommt, existiert hier nur in der deutschen Übersetzung, aber es ist dennoch sprechend für die Vagheit auch im englischen Original. Wer schliesst an welcher Stelle was woraus? Bleibt es unter «Woken» unwidersprochen? Wer sind die wichtigen Vertreterinnen dessen, was bei Neiman wahlweise «Woke-Bewegung» oder einfach nur mit artikel­losem Kollektiv­singular «Woke» heisst? Das würde man schon deshalb gerne genauer wissen, weil der Begriff sich längst entgrenzt und als medialer Aufregungs­trigger verselbstständigt hat (man denke nur an all die Bluthochdruck-Debatten um kulturelle Aneignung, Cancel-Culture oder den anscheinend ubiquitären «Woke-Wahnsinn»).

Neiman schreibt am Schluss, die von ihr kritisierten Ideen fänden sich heute «in jeder Zeitung – wie meine anfänglichen Zitate aus der ‹New York Times› kurz erläuterten». Hier hätte geholfen, etwa auf den Literatur­wissenschaftler Adrian Daub Bezug zu nehmen, der unlängst ausführlich nachgezeichnet hat, wie eklatant gerade bei diesen Themen die Kluft zwischen medialer Präsenz und realem Anlass sein kann.

Aber davon abgesehen steht Neimans Argumentation hier auch für sich betrachtet auf schwachen Füssen. Tatsächlich dient die «New York Times» in ihrem Buch als Haupt­referenz für die Ausgangs­these von der Allgegenwart «woker» Positionen, doch nimmt der entsprechende Abschnitt kaum mehr als eine Doppel­seite ein. Mehr noch: Ein guter Teil dieser Passage widmet sich nicht den «Woken», sondern Donald Trump, oder verweist auf den Umstand, dass Hillary Clinton der Wahl Giorgia Melonis ungeachtet deren Nähe zum Faschismus Beifall gezollt habe, nur weil damit Italien zum ersten Mal eine weibliche Premier­ministerin hat. Das ist natürlich eine vollkommen richtige Kritik an einer völlig verdrehten feministischen Logik. Aber will man jetzt auch noch Äusserungen von Hillary Clinton den «Woken» ins Kerbholz schnitzen?

Anderes Beispiel:

Nun lehnen die meisten woken Aktivisten den Universalismus ab und halten sich an Machtdiskurse.

Das ist ein Satz, der, wie etliche andere im Buch, erst mal einfach so dasteht; ohne Beleg, ohne Quelle, ohne Anschauungs­beispiel. Welche Indizien dafür sprechen, dass Neimans Befund auf «die meisten» und nicht zum Beispiel auf «manche» Aktivisten zutreffe, wird gar nicht erst erörtert. Und vielleicht noch wichtiger: In Formulierungen wie diesen schimmert ja zumindest noch durch, dass das Gesagte offenbar nicht für alle «woken Aktivisten» gilt.

De facto aber kommt so etwas wie eine «positive Wokeness» oder eine Unterscheidung von universalistischer und rein partikular argumentierender «Woke-Bewegung» in Neimans Streitschrift nicht vor. «Woke» ist in der Rhetorik ihres Textes immer schon das Schlechte. Was übrigens in ganz analoger Weise für den deutschen Essayisten Bernd Stegemann mit seiner dieser Tage erscheinenden Streitschrift gegen linke Identitäts­politik gilt. Neiman wiederholt den Fehler, den die Politik­wissenschaftler Mark Lilla und Francis Fukuyama schon vor Jahren gemacht haben. Sie adressiert ihre universalistische Mahnung ausschliesslich als Vorwurf in Richtung der linken Emanzipations­bewegungen und vernachlässigt dabei, dass auch Menschen der Mehrheits­gesellschaften, wenn sie berechtigte Minderheiten­anliegen abwiegeln oder eisern Privilegien verteidigen, Partikular­interessen vertreten.

Vor allem jedoch: Neimans rein negative Besetzung des «Wokeness»-Reizworts trägt kaum den bereits vorhandenen Diskurs­realitäten Rechnung. Die Polemiken von rechts (aussen), aber auch Teile des medialen Diskurses, haben den Begriff längst ohne erkennbaren Differenzierungs­willen zum Feindbild für alles gemacht, was man im weitesten Sinn mit «links» und «progressiv» assoziiert.

Das weiss im Grunde natürlich auch Neiman. Der Ausdruck «stay woke» sei 1938 zum ersten Mal im Zusammen­hang mit «dem Lied ‹Scottsboro Boys› des grossen Blues­musikers Leadbelly belegt», schreibt sie und fährt fort:

Wach bleiben für Ungerechtigkeit, wachsam für Anzeichen von Diskriminierung, was sollte daran falsch sein? Doch innerhalb weniger Jahre wandelte sich der Begriff woke vom Lobes- zum Schmähwort.

Exakt das hätte Anlass sein können, der Entstellung zum reinen Schmähwort ein positives Verständnis entgegen­zuhalten und zumindest konzeptuell zwischen einer tatsächlich kritik­würdigen und einer unterstützens­werten Form von «Wokeness» zu unterscheiden. Es wäre dann ein ganz ähnliches Vorgehen, wie es Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrer kritischen Bestandsaufnahme zur linken Identitäts­politik gewählt haben. Und es hätte sich bestens in Neimans sonstiges Verfahren gefügt. Schliesslich grenzt sie auch den aufklärerischen Universalismus gegen den «falschen Universalismus» einer neoliberalen Ideologie ab, die das menschliche Begehren «auf die Gier nach Reichtum und Macht» reduziere.

Das führt zur zweiten Schwäche dieses Buches. Neiman unterschätzt die Schnittmenge zwischen ihrer Position und den Ansichten all derer, die gegenwärtig der «Wokeness» angeklagt werden.

Links sein, schreibt Neiman, heisse, «hinter der Idee zu stehen, dass Menschen gemeinsam für sich und für andere beträchtliche Verbesserungen ihrer realen Lebens­umstände erwirken können». Und an anderer Stelle, wo sie auf die Diskrepanz zwischen der Allgemeinen Erklärung der Menschen­rechte und der Realität aufmerksam macht:

Die meisten Mitgliedstaaten [der Vereinten Nationen] haben dieses Dokument unterzeichnet, und doch hat bislang keiner dieser Staaten eine Gesellschaft geschaffen, die all diese Rechte sicherstellt (…). Linkssein heisst, darauf zu bestehen, dass diese Ansprüche nicht utopisch bleiben.

Hand aufs Herz, welcher «Woke» würde das nicht emphatisch unterschreiben?

Der eigentliche Knackpunkt hier liegt vielleicht sogar ganz woanders: bei der Frage, ob diese Zielsetzung ausschliesslich als Anspruch der politischen Linken durchgehen kann.

Es gibt historisch und gegenwärtig grosse Evidenz dafür, dass es die Linke ist, die solche Forderungen in ihren Programmen seit jeher höher gewichtet als konservative Parteien. Dennoch stellt sich die Frage, ob die logische Folgerung aus dem universalistischen Denken nicht eher eine andere wäre: nämlich, dass Neimans oben so pointiert aufgestellte Forderung für alle demokratischen Kräfte konsens­fähig sein müsste. So würde auch noch einmal deutlicher, wo derzeit die mit Abstand grösste Bedrohung herkommt: von der autoritären und extremen Rechten, wie sie aktuell von der AfD bis zu den vollständig trumpisierten Republikanern an nichts weniger als an der Abschaffung der Demokratie auf demokratischem Weg arbeitet.

Neimans Streitschrift, das ist deutlich, will keine empirische Diskurs­analyse der Gegenwart sein. Vielmehr nimmt sie mit intellektueller Verve eine normative Erörterung von Ideen vor und erinnert die eigene politische Familie daran, dass auch jede Forderung aus den emanzipatorischen Bewegungen sich streng auf das eigene Werteset hin prüfen muss.

Für die Kämpfe gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Misogynie, Queer­feindlichkeit oder Transphobie – kurz gesagt gegen jede Form der gruppen­bezogenen Menschen­feindlichkeit – heisst das: Jedes dieser Phänomene muss in seiner Spezifik wahrgenommen, analysiert und beschrieben werden; aber fundamental für die Kritik all dieser Hassformen ist die Berufung auf die gleiche universelle Würde. Kritik im Namen der Gerechtigkeit kann nicht im Partikularen verbleiben, sondern muss unter Berufung auf die Idee der Menschheit erfolgen.

Wetten, dass der Grossteil der als «woke» Gescholtenen mitmacht?

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