Überall Identitäten

Minderheitenrechte oder das völkisch «Eigene»: Die Kämpfe um Anerkennung treiben die Erregungs­kurven in die Höhe. Nun hat sich der Star-Intellektuelle Francis Fukuyama des Themas angenommen. Doch zum Glück nicht nur er.

Ein Essay von Daniel Graf (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 16.02.2019

Überall Identitäten
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«Tugendterror». «Mikroaggressionen». «Opferwettbewerb».

#metoo. #metwo. #unten.

LGBTQIA+.

Maskulinismus gegen Feminismus. Weisser Feminismus gegen schwarzen Feminismus. Linker Feminismus gegen «Femo­nationalismus». Cis versus trans. Und irgendwie alle gegen alle.

Nichts erhitzt seit geraumer Zeit die Gemüter heftiger als der erbitterte Streit um Identität. Nichts hat mehr hate speech provoziert, mehr Begriffe und Stirn­runzeln generiert als die Spielarten der Identitäts­politik von rechts und von links (und aus der sogenannten Mitte).

Mikroaggressionen? Auch. Und sehr viel Makro.

Nirgendwo, so scheint es, ist die Gereiztheit grösser als auf den Schauplätzen der Identitäts­konflikte. Und wer sich selbst in den Komfort­zonen des Erdballs mit tiefem Pessimismus anfüllen oder gleich zum Misanthropen werden will, braucht nur in einen x-beliebigen Kommentar-Thread zu einem x-beliebigen Transgender-Artikel zu schauen: Mehr Hass, mehr Überbietungs­eifer in Gewaltfantasien und Selbst­vulgarisierung geht nicht. Jedenfalls ausserhalb von Kriegs­gebieten. Längst sind die Verwerfungen so stark, dass Identitäts­politik selbst zum Reizwort geworden ist.

Mit Francis Fukuyama hat sich nun einer der weltweit einflussreichsten Gelehrten das Thema Identität vorgeknöpft, und sein gleichnamiges Buch veranlasst manche Rezensenten dazu, bereits Anfang Februar das «möglicherweise wichtigste politische Buch des Jahres» zu krönen.

Die Ausgangs­konstellation verspricht zumindest ein Ausbrechen aus den festgefahrenen Diskursmustern. Fukuyama, der einst in seinem Welterfolg «The End of History» den Sieg der marktliberalen Demokratie und das Ende der klassischen Anerkennungs­kämpfe verkündet hat, setzt zur Fundamental­kritik an den identity politics an – auch und besonders jener aus dem linken Spektrum.

Es hätte also ein Buch werden können, das die Selbst­gerechtigkeiten und Fanatismen in den Debatten aufspiesst. Das gezielt auch links einen Stachel setzt – denn wer würde bestreiten, dass es auch im progressiven Diskurs dogmatischen Furor und habitualisierte Bevormundung gibt.

Aber «Identität» (alle Angaben zu den erwähnten Büchern finden Sie am Ende des Artikels) ist bestenfalls eine erste Annäherung. Und ein Text, den man gegen seine Widersprüche und unreflektierten Voreingenommen­heiten lesen muss. Gerade wer innerhalb der linken und liberalen Agenda identitäts­politische Irrwege identifizieren und strategisch klügere Antworten finden will, braucht neben dem neuen Fukuyama dringend andere Bücher auf dem Schreib­tisch. Das der britischen Anti­rassistin Reni Eddo-Lodge zum Beispiel. Und das von Tristan Garcia, dem rising star der französischen Philosophie.

Aber der Reihe nach. Und nicht zu hastig. Es geht durch vermintes Gelände.

1. Francis Fukuyama oder: Wer ist hier auf dem Holzweg?

Die Grundidee von Fukuyamas Buch lautet: Identitäts­politik spaltet. Sie teilt die Welt in ein Wir und ein Ihr, dabei ist eine Gesellschaft dringend auf eine von allen anerkannte Grundlage des Zusammen­lebens angewiesen. Nun erleben aber die liberalen Demokratien über den Globus hinweg die Erosion dieser Übereinkunft; und insbesondere die Linke steht noch immer konzeptlos schaudernd vor dem Aufstieg der Autokraten und Populisten.

Warum?

Weil, so Fukuyamas durchaus erhellende These, man noch immer nicht begriffen habe, dass der Mensch nicht nur nach Vernunft­prinzipien funktioniert. Der mächtigste Treiber menschlichen Handelns sei vielmehr: «Thymos». Jener Teil der Seele also, der auf Anerkennung dringt. Und jedes Denken, das diese schon in der griechischen Antike beschriebene Kraft nicht ausreichend berücksichtige, sei zum Scheitern verurteilt.

Konkreter: Die neue Rechte ist nicht deshalb im Aufschwung, weil sie die besseren Argumente hätte, sondern weil sie das Bedürfnis nach Anerkennung erfolgreich bedient – zwar auf Kosten all derer, die von völkischen Konzepten ausgeschlossen werden. Aber doch mit einem Anerkennungs­angebot, dem eine in immer neue Partikular­interessen zerfallende Gesellschaft zu wenig entgegenzusetzen habe.

Wie also gibt man einem Gemeinwesen eine Identität? Wie schafft man eine Erzählung, die Diversität ermöglicht und zugleich genügend Emphase für das gesellschaftliche Ganze mobilisiert, und zwar in allen sozialen Schichten und Gruppen? Fukuyama stellt letztlich die Frage nach den Grundlagen der Republik – denn der National­staat bleibe die zentrale politisch-gesellschaftliche Kategorie. Seine Antwort in Kurzform: Verfassungs­patriotismus plus Leitkultur.

Allerdings ziehen sich drei gewaltige Probleme durch Fukuyamas Argumentation.

Das erste Problem: Er ignoriert die bestehenden Machtverhältnisse.

Dabei verspielt er ausgerechnet das Potenzial seiner zentralen Begriffe. Thymos, so führt Fukuyama gleich zu Beginn aus, tritt in zwei Varianten auf: als «Isothymia», das Bedürfnis, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten. Und als «Megalothymia», das Bedürfnis, anderen gegenüber als überlegen zu gelten.

Nun kann es Megalothymia als wechselseitig akzeptierten Zustand in einer Wettbewerbs­gesellschaft zwischen Individuen geben. Wie aber soll sich dies identitäts­politisch für Menschen­gruppen rechtfertigen?

Es wäre deshalb ein naheliegender Gedanke, aus Fukuyamas Begriffspaar eine Unterscheidung von legitimen und illegitimen Forderungen zu entwickeln. Zu fragen, ob all die vom Thymos Getriebenen nicht doch unterschiedlich gute Gründe haben für ihre Forderungen. Man käme dann vermutlich zu dem Schluss, dass es mitnichten dasselbe ist, ob jemand in einer auf gleichen Rechten gebauten Gesellschaft die Überlegenheit der eigenen Ethnie postuliert – oder eine person of colour die Einhaltung längst bestehender Gleich­behandlungs­grundsätze fordert.

Aber Fukuyama ist so mit dem Nachweis beschäftigt, dass Identitätspolitik generell eine der Haupt­bedrohungen der liberalen Demokratie sei, dass ihn das Unterscheiden von berechtigten und unberechtigten Ansprüchen nicht weiter interessiert.

Stattdessen hantiert er mit Isothymia und Megalothymia als den zwei Varianten derselben «psychologischen Tatsache» – und reflektiert darüber unabhängig von den realen Macht­verhältnissen. Welche gesellschaftlichen Gruppen historisch die tonangebenden waren; wie sich dies in der Gegenwart abbildet; was das mit den aktuellen Konflikten zu tun hat – all das umschifft Fukuyama grossräumig. Dabei wären die Fragen nach Macht und Repräsentation genau die, um die sich identitäts­politische Debatten drehen: im Antirassismus, bei der Geschlechter­gerechtigkeit, bei der sozialen Mobilität.

Zweites zentrales Problem: Fukuyama operiert mit falschen Alternativen.

Wieder ist der Ausgangspunkt eine sehr plausible Beobachtung: Wirtschaftliche Ungleichheit ist ein zentraler Faktor für die gegenwärtigen Verwerfungen in der Gesellschaft. Und neben rein ökonomischen Fragen spielt einmal mehr die Psychologie eine wichtige Rolle, weil wirtschaftliche Nachteile umso gravierender empfunden werden, «wenn sie mit Gefühlen der Erniedrigung und Missachtung verbunden sind».

Deshalb hilft es einer Arbeiterin, die hierzulande an der Armutsgrenze lebt, nicht weiter, wenn sie weiss, dass eine Arbeiterin in anderen Teilen der Welt noch weniger hat. Ihr Vergleichs­massstab und damit der Gradmesser für Würde ist die hiesige Gesellschaft.

Nun sei, so Fukuyama mit Verweis auf Thomas Piketty, die Ungleichheit durch massiv gestiegene Einkommen der Vermögenden noch viel eklatanter als die Ungleichheit zwischen den Ländern, die zuletzt abgenommen habe. Das ist, nebenbei gesagt, eine etwas zynische Relativierung eines nach wie vor beträchtlichen Ungleich­gewichts mithilfe eines zweiten.

Aber abgesehen davon könnte man fragen, ob der globale Kapitalismus mit seiner systematischen Auslagerung der Folgeschäden – Stichwort Klimakatastrophen – nicht dennoch weltweit zu so ungleichen Lebensbedingungen beiträgt, dass der binnen­nationale Blick ein wenig kurz greift. Ob die Vermögensanstiege der ohnehin schon Privilegierten nicht auch etwas mit dem globalen Kapitalismus und jener neoliberalen Epoche zu tun haben, an deren Beginn Fukuyamas Triumph­geheul stand. Oder wie sich internationale Bankenrettung und Steuerflucht der reichsten Bürger und Konzerne auf den Thymos-Wert einer Gesellschaft auswirken.

Ebenso problematisch wie das Ausblenden solcher Fragen ist, wie Fukuyama die soziale Frage und Emanzipations­bewegungen gegeneinander ausspielt. Der beispiellose Abstieg der sozialdemokratischen Parteien und der Vertrauens­verlust in der Arbeiter­schicht haben für ihn nicht etwa mit dem Einschwenken auf die neoliberale Agenda der Schröder/Blair-Ära zu tun. Schuld sei vielmehr – man kennt das Argument schon von Mark Lilla –, dass sich die Linke zu viel um Minderheiten­anliegen gekümmert habe. Als müsse, wer das eine tut, das andere lassen. Als sei nicht verfehlte Sozialpolitik das Problem, sondern die Einsicht, dass eine Gesellschaft mehrere Gerechtigkeits­defizite auf einmal haben kann.

Vielleicht besteht ja gerade darin das historische Versagen der Linken, solches Gegeneinander-Ausspielen der Unter­privilegierten zugelassen zu haben?

«Das Prinzip der universalen Anerkennung», schreibt Fukuyama, «ist zu einer speziellen Anerkennung einzelner Gruppen mutiert.» Was aber meint der bekennende Verfassungs­patriot Fukuyama hier mit Universalismus, wenn ihm zugleich die Aufmerksamkeit für «immer neue und enger definierte ausgegrenzte Gruppen» ein Dorn im Auge ist? Wie ernst ist es einer Gesellschaft mit dem eigenen Bekenntnis zu universellen Werten, wenn sie Verstösse gegen elementarste Verfassungs­grundsätze unter «Sonderproblem von Kleingruppen» verbucht?

Drittes Problem: die Pappkameraden

Es ist der Klassiker des identitätspolitischen Diskurses: Man sucht sich für eine unliebsame Position den denkbar schlechtesten Anwalt der Sache, damit man dessen Aussagen möglichst mühelos zerlegen kann. Und tut dann so, als habe man damit die Absurdität einer ganzen Denkschule bewiesen.

Gerade in der Polemik gegen Minderheiten­anliegen ist das mittlerweile ein eigenes Textgenre. Man muss deshalb betonen: Plumpe Stimmungs­mache ist Fukuyama fremd. Im Ton seines Buches liegt selbst schon eine der wichtigsten Einsichten: Bei Identitäts­debatten führen Polemik und starke Meinungen, zumal aus der Mehrheits­gesellschaft, selten zu neuer Erkenntnis.

Trotzdem arbeitet auch Fukuyama fast durchweg mit Papp­kameraden. Identitäts­politik, das ist für ihn entweder Nationalismus oder politisierte Religion – daneben passt nichts Drittes. Es gibt bei ihm immer nur den Missbrauch: Die Identitäts­politik kündigt die Möglichkeit auf, «Standpunkte und Gefühle über Gruppengrenzen hinweg zu teilen». Die «Ideologie des Multikulturalismus» propagiert blind den Respekt vor Kulturen, selbst wenn diese freiheits­feindliche Werte vertreten. Und wegen der grassierenden politischen Korrektheit muss das Wort manhole in den USA jetzt durch maintenance hole ersetzt werden.

Nun kann und muss man solche fraglos existierenden Phänomene kritisieren. Nur käme Fukuyama der Wirklichkeit näher, wenn er nicht so täte, als sei das jeweils die einzige oder auch nur vorherrschende Position.

Es gibt Menschen, die machen den zweiten Schritt vor dem ersten – Fukuyama hingegen macht allzu oft nur den zweiten.

Statt die Berechtigung eines Anliegens darzustellen (oder plausibel zu widerlegen) und dann die negativen Auswüchse zu problematisieren, nimmt Fukuyama die Fehlentwicklungen als die Sache selbst. Was ein hilfreiches Korrektiv sein könnte, wird so zu einer schlecht begründeten Diskreditierung. Darin liegt eine gewisse Ironie: Ausgerechnet ein Autor, der sich damals wie heute die zentralen Begriffe von Hegel leiht («Ende der Geschichte», «Anerkennung»), fremdelt erkennbar mit der Dialektik.

Halten wir ihm die Ideen einer jungen britischen Autorin entgegen.

2. Gleiche Rechte ohne Gleichmacherei: Reni Eddo-Lodge

«Warum ich nicht länger mit Weissen über Hautfarbe spreche»: Der Titel des Buches von Reni Eddo-Lodge klingt nicht nur unversöhnlich, er klingt auch sektiererischer als der von Fukuyama. Und doch leistet ihr Buch mehr, wenn es darum geht, die Konflikt-, aber auch die Verbindungs­linien zwischen den unterschiedlichen Feldern linker Identitäts­politik zu verstehen.

Natürlich ist der Buchtitel, der auf einen Blogeintrag der Autorin zurückgeht, eine Provokation. Und wer als Weisser gleich mit einem Abwehr­reflex reagiert, weil man als Weisser nicht gewohnt ist, auf seine Hautfarbe reduziert zu werden, wird die doppelte Pointe verfehlen.

Denn natürlich hat Eddo-Lodge das Buch geschrieben, «um das Gespräch – paradoxerweise – fortzusetzen». Und mit «Weissen» sind auch nicht pauschal alle Menschen mit weisser Hautfarbe gemeint, sondern eine bestimmte Ideologie. Eine Weltsicht, die zwar mitunter Nichtweissen einen Bias wegen ihrer Hautfarbe unterstellt, aber vehement bestreitet, dass auch die eigenen Ansichten etwas mit der eigenen Hautfarbe zu tun haben könnten. Und damit, dass diese zu anderen Reaktionen der Umgebung führt. So zeigt sich der Unterschied ja schon allein daran, dass man als Weisser sehr lange durchs Leben gehen kann, ohne dass die eigene Hautfarbe überhaupt zum Thema wird.

«Weisse» steht bei Eddo-Lodge also quasi in Anführungszeichen – auf die die Autorin dann aber bewusst verzichtet. Dass das eine weitreichende Entscheidung ist, darauf ist zurückzukommen. Aber vielleicht sollte man, bevor der nächste Abwehr­reflex kommt, zunächst einmal zuhören.

Wo Fukuyama eine Geschichte des Identitäts­denkens von der Antike bis heute erzählt, ohne je den Kanon weisser, männlicher Autoren zu verlassen, erzählt Eddo-Lodge die Geschichte der britischen Bürgerrechts­bewegung. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil es sich um einen unterbelichteten Teil der Geschichts­schreibung handelt. Vor allem führt es eindrücklich vor Augen, dass black identity politics nichts mit Sonder­wünschen oder eitlem Distinktions­eifer zu tun hat. Sondern sich gegen eine bis in die Gegenwart fortgesetzte handfeste Benachteiligung zur Wehr setzt; und gegen die Kontinuität eines Rassismus, der bis zur Bedrohung von Leib und Leben reicht. Eine Gruppe jedenfalls, die noch zu keinem historischen Zeitpunkt faktisch gleichgestellt war, wird erst ein paar andere Punkte klären wollen, bevor sie sich für Fukuyamas top-down gedachte Leitkultur begeistert.

Auch die üblichen Ablenkungsdebatten stellt Eddo-Lodge vom Kopf auf die Füsse.

Bei der sozialen Frage erinnert sie daran, dass diese die alleinerziehende schwarze Mutter ebenso betrifft wie den weissen Arbeiter. Und dass häufig, wenn von der «weissen Arbeiter­klasse» die Rede ist, das Adjektiv nur signalisieren soll: Da sind auch Nichtweisse, die «auf Kosten der weissen Arbeiterklasse rare Ressourcen horten» – ein klassischer Fall von «spalte und herrsche».

Vehement spricht sich Eddo-Lodge gegen absichtliche Farbenblindheit aus: «Meine schwarze Hautfarbe wurde gegen meinen Willen politisiert, aber ich möchte nicht, dass sie in dem Bemühen, eine Art heikle falsche Harmonie herzustellen, vorsätzlich ignoriert wird.» Will heissen: Solange Hautfarbe konkrete gesellschaftliche Folgen hat, soll niemand so tun, als gäbe es sie nicht.

Damit ist direkt eine der wichtigsten Erkenntnisse des Buches verknüpft: Weisse sollten sich nicht der Illusion hingeben, wenn sie nur antirassistisch eingestellt seien, habe das Thema nichts mit ihnen zu tun. Auch Fukuyama erweckt in seiner Argumentation den Eindruck, Identitäts­politik sei etwas für Fundamentalisten und betroffene Minderheiten – und beides seien eben die anderen. Das aber war schon der Irrtum von Mark Lilla, der zu Recht Kritik auf sich gezogen hat, etwa in einem Essay von Julia Pelta Feldman, der noch immer zum Besten und Differenziertesten gehört, was zum Thema Identitäts­debatten erschienen ist.

Die Frage der Hautfarbe betrifft auch Weisse, in doppelter Hinsicht: weil Rassismus die eigenen universellen Werte angeht. Und weil die Zeiten vorbei sind, in denen weisse Hautfarbe einfach kein Thema war – sondern unhinterfragte Norm.

Auch dass man nicht unter Diskriminierung zu leiden hatte, nimmt Einfluss auf die eigene Wahrnehmung und das Problem­bewusstsein. Daraus folgt keineswegs – wie es manchmal schwarzen Aktivistinnen in den Mund gelegt wird – eine moralische Schuld. Sehr wohl aber eine Verantwortung.

Leider jedoch macht Reni Eddo-Lodge auch in Form von problematischen Entscheidungen auf zentrale Schwierigkeiten der Debatte aufmerksam. Denn die Rhetorik des Buches, so bewusst provokant sie ist, schiesst stellenweise übers Ziel hinaus. Das ist nicht vor allem deshalb ein Problem, weil zur Abwechslung auch mal Weisse etwas abbekommen. Sondern weil es der Sache einen Bärendienst erweist.

Ein Beispiel (es sind nur wenige): Um die empirisch gut belegte Benachteiligung von people of colour auf den europäischen Arbeits­märkten zu thematisieren, kritisiert Eddo-Lodge «die homogene Schwemme weisser Männer mittleren Alters, die derzeit die höheren Ränge der meisten Unternehmen verstopft»; und sie bezweifelt, dass diese «allein aufgrund ihrer Begabung dort angespült wurde». Das Argument selbst ist triftig und bräuchte keine rhetorische Aufrüstung. Aber abgesehen von der Pauschalisierung, mit der es vorgetragen wird: Wer im Zusammenhang mit Menschen von «Schwemme» spricht, hat schlechte Karten für einen Einspruch, wenn beim Thema Migration wieder von «Flüchtlingswelle» und «Zustrom in die Sozialsysteme» die Rede ist. Denn auch das ist Universalismus: Ein Vokabular, das aus Menschen amorphe, bedrohliche Massen macht, ist problematisch – egal, wer über wen spricht.

Die konzeptuelle Begriffs­verwendung von «weiss» ist ebenfalls nicht ohne Risiko. Auch wenn «weisse» Ideologie gemeint ist, nicht Menschen mit weisser Hautfarbe per se, besteht doch zumindest die Gefahr, dass die Unterscheidung von beidem verwischt wird. Und dass Sätze vom Typ «Weisse sind ...» je nach Sprech­situation eben doch ins Essenzialistische kippen können.

Um genau solche Kippmomente geht es Tristan Garcia in seinem Buch «Wir». Und das ist – versprochen – die letzte Station dieses Textes.

3. Strategisches Denken – Tristan Garcia

«Unsere Identitäten können und sollen nicht überwunden werden, sie sind unsere Seinsweise», schreibt der französische Philosoph und Schriftsteller. Das steht so sinngemäss auch bei Fukuyama – aber im Unterschied zu diesem zieht Garcia daraus eine Konsequenz für die eigene Argumentation.

Garcias Thema sind die Irrwege und blinden Flecken von im Grundsatz richtigen und wichtigen Anerkennungs­kämpfen. Der Ausgangspunkt seines anspruchsvollen, kleinteiligen und sehr gescheiten Buches: Wir alle haben eine komplexe Identität, die sich aus vielen Ebenen zusammensetzt. Wir sind beispielsweise nie nur Frau, sondern auch Schweizerin, mit sogenanntem Migrations­hintergrund oder ohne, hetero oder lesbisch, Informatikerin, E-Bassistin und tausend Dinge mehr. Manche benennen wir, andere nicht. Und das, sagt Garcia, ist schon der entscheidende Punkt: Identitäts­kategorien werden vor allem strategisch gebraucht. Jede Identität setzt sich aus verschiedenen layers zusammen: wie unterschiedlich gefärbte Bildschichten, die übereinanderliegen.

Der Witz ist nun: Die Bildschichten lassen sich sozusagen einzeln beleuchten. Und wir nehmen meist nur das Belichtete wahr. Ständig spielen wir alle dieses Spiel – bei uns selbst, aber eben auch bei anderen. Die entscheidende Frage also ist: Wer knipst welche Ebene an und zu welchem Zweck? Wer spricht mit welcher Zuschreibung über wen?

Da kommen Fukuyama und Eddo-Lodge wieder ins Spiel.

Zu Recht weist Fukuyama darauf hin, dass keine noch so emanzipatorische Identitäts­politik auf einer exklusiven Gruppen­erfahrung bestehen sollte, die anderen eben auf immer unzugänglich sei. Dann nämlich wird eine Spaltung zementiert und jede Möglichkeit, sich wechselseitig verständlich zu machen, aufgekündigt. Genau das tun Aktivistinnen wie Eddo-Lodge aber auch gar nicht, wenn sie darauf beharren, dass unterschiedliche Gruppen­zugehörigkeit unterschiedliche Erfahrungen bedeutet. Es geht vielmehr darum, diese unterschiedlichen Erfahrungen anzuerkennen – und zugleich darauf zu bestehen, dass auch diese Unterschiede sagbar, vermittelbar sind.

Mit Garcias Bildlichkeit könnte man sagen: Wir müssen immer mehrere Lichter anknipsen. Und auf die Gefahr, dass es pathetisch oder banal klingt: zuallererst und als Voraussetzung von allem die mit der Aufschrift «Mensch».

Stellen wir uns das nicht zu harmonisch vor. Die Übereinkunft, dass jeder Mensch mit gleicher Würde, politischer: mit dem gleichen «Recht auf Rechte» (Hannah Arendt) ausgestattet ist, dürfte weltweit die am meisten missachtete sein. Solange das der Fall ist, kann und darf es kein Ende emanzipatorischer Identitäts­politik geben.

Im Gegenzug gilt: Gruppenspezifische Forderungen müssen immer auch die gemeinsame Basis zur Mehrheits­gesellschaft im Blick behalten.

Und hier wird es noch einmal diffizil.

Von Reni Eddo-Lodge und anderen lässt sich lernen, dass man über rassistische, klassistische oder Gender-Diskriminierung nicht sprechen kann, ohne von Macht zu reden. Macht­verhältnisse sind historisch gewachsen und in hohem Mass institutionalisiert.

Garcias Punkt ist nun: Es gibt aber auch eine Macht der Sprache. Und es gibt selektive Wahrnehmung. Beides müsse eine emanzipatorische Bewegung strategisch einkalkulieren, wenn sie erfolgreich sein wolle. Denn neben den tatsächlichen Verhältnissen gibt es auch ein «Herrschafts­gefühl», mit dem Menschen Macht­verhältnisse wahrnehmen – oder wahrnehmen wollen.

Konkret: Wenn in feministischen oder antirassistischen Diskursen vom mittlerweile sprichwörtlichen «weissen alten Mann» die Rede ist, dann kann das auf Menschen (und zwar nicht nur auf weisse Männer) selbst wie eine Diskriminierung wirken – und zu einem Abwehr­reflex führen. Schnell ist dann die Umkehrlogik zur Hand: Es seien doch in Wirklichkeit die weissen alten Männer, die in unserer Gesellschaft benachteiligt seien. Das mag man dann zwar mit Blick auf die empirischen Fakten lächerlich finden – ein Problem für die eigene Agenda ist es trotzdem. Denn dieser geht es ja um die Anerkennung der eigenen Position.

Was also tun?

Sich von der Umkehrlogik einschüchtern zu lassen und politisch zurückhaltender zu sein, wäre offenkundig falsch – das ist ja nur das Ziel von Ablenkungs­debatten und Umkehr­manövern. Sich das Problem bewusst zu machen, so Garcia, dürfe uns nicht daran hindern, «eine bestimmte Vorstellung von der Gleichheit zwischen den ‹Wir› zu verteidigen».

Es lohnt aber einmal mehr der Blick auf die Sprache. Berechtigter Protest muss auch laut sein können, alles andere wäre weltfremd. Doch es sollte klar sein, dass die populistische und extreme Rechte nichts so sehr braucht wie Empörung und eine ständige Eskalation des gesellschaftlichen Erregungs­levels. In der Regel ist deshalb klare, konkrete, empirische Argumentation die bessere Strategie. Durchbrechen der Empörungs­schleifen. Sich nicht instrumentalisieren lassen. Beharrlich dokumentieren. Ein Video von rassistischer Polizeigewalt beispielsweise braucht keinen rhetorischen Verstärker. Augenöffnend wirkt es vor allem durch sich selbst. Weil nicht westliche oder europäische, sondern universelle Werte verletzt werden.

Postskriptum

Utopie:

Eine solidarische, anti-dogmatische Linke. Politisch klar, aber mit Selbstdistanz, ohne Schaum vor dem Mund. Mit Veränderungs- statt Verurteilungslust.

Und eine Rechte in den liberalen Demokratien, die in ihrem Stolz­bedürfnis wenigstens die Errungenschaften der eigenen Verfassung ernst nimmt.

Es wäre vielleicht nicht das Ende der Geschichte. Aber wir wären einen Schritt weiter.

Die Bücher

Reni Eddo-Lodge: «Warum ich nicht länger mit Weissen über Hautfarbe spreche». Aus dem Englischen von Anette Grube. Tropen-Verlag, Stuttgart 2019. 263 Seiten, ca. 28 Franken. Eine Leseprobe findet man hier.

Francis Fukuyama: «Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet». Aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Rullkötter. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019. 240 Seiten, ca. 30 Franken. Zur Leseprobe gehts hier.

Tristan Garcia: «Wir». Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Suhrkamp, Berlin 2018. 332 Seiten, ca. 41 Franken. Zur Leseprobe hier entlang.

Zum Weiterlesen

Die fundierteste Auseinandersetzung mit Hegels Anerkennungsbegriff hat vermutlich Axel Honneth in seinem Buch «Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit» vorgelegt. Empfehlenswert ist auch seine Aufsatz­sammlung «Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie».

Wer sich für die Konfliktlinien innerhalb linker Identitäts­debatten interessiert, dem ist auch der Sammelband «Beissreflexe» ans Herz zu legen. Nach Meinung unseres Autors Daniel Graf finden sich darin sowohl herausragend gute als auch sehr kritikwürdige Texte – am besten, Sie bilden sich Ihr eigenes Urteil!

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