Binswanger

Mehrheit gegen Rechtsstaat: Das demokratische Paradox

In vielen Ländern tobt ein heftiger Konflikt zwischen politischen Parteien und den rechts­staatlichen Institutionen. Was heisst das für die Zukunft der Demokratie?

Von Daniel Binswanger, 12.08.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Wir leben in einer Epoche des immer extremeren Rechts­populismus – und stehen am Rand einer Epoche der Verfassungs­krisen. Die autoritären Züge des Populismus haben sich dermassen verschärft, dass er in immer mehr Ländern die demokratische Grund­ordnung infrage zu stellen beginnt. Diese Entwicklungen beunruhigen nicht nur durch ihre Simultaneität. Sondern auch durch die Tatsache, dass die Ausserkraft­setzung der Demokratie mit demokratischen Mitteln vollzogen wird.

Der demokratische, liberale Verfassungs­staat hat ein paradoxes Wesen – und wir sind an einem Punkt, an dem dieses Paradox zu einem potenziell zerstörerischen Wider­spruch zu werden scheint. Niklas Luhmann hat es einmal auf die hübsche Formel gebracht, dass im Fall der Volks­souveränität im Rahmen einer konstitutionellen Demokratie «der Souverän zugleich über und unter dem Gesetz stehe».

Zum einen sind freie Wahlen und die daraus resultierenden Mehrheiten die Quelle demokratischer Gesetz­gebung. Der Souverän steht über dem Gesetz. Zum anderen werden die Möglichkeiten dieses Gesetzgebungs­prozesses durch eine Verfassung eingeschränkt, welche etwa die Menschen­rechte und den Minderheiten­schutz garantiert. Der Souverän steht unter dem Gesetz. Zwischen Verfassungs­recht und Volksherrschaft gibt es einen Gegensatz – der allerdings nicht aufbricht, solange die demokratische Mehrheit die Verfassung schützen will. Solange ein gesellschaftlicher Konsens besteht, dass die Grund­rechte bedingungslos von allen politischen Kräften zu respektieren sind.

Dieser Konsens scheint verloren zu gehen – vielerorts und auf vielfältige Weise.

Man nehme die USA, wo der Gegensatz zwischen Demokratie und Verfassungsstaat sich gerade auf die schrillst­mögliche Weise verhärtet. Gegen Donald Trump laufen bekanntlich inzwischen drei Straf­verfahren: eines in New York wegen Schweigegeld­zahlungen an den Porno­star Stormy Daniels, eines in Florida wegen des Zurückhaltens von Geheim­dokumenten, eines in Washington wegen Wahlbetrugs im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021. Eine weitere Straf­untersuchung in Georgia, ebenfalls wegen Wahlbetrugs, dürfte zu einer vierten Anklage führen. Dennoch wird Trump mit hoher Wahrscheinlichkeit der republikanische Kandidat für die nächsten Präsidentschafts­wahlen sein.

Zunächst ist die juristische Aufarbeitung von Trumps korruptem Gebaren und von seinen vielfältigen Versuchen, den Wähler­willen durch Betrug und Gewalt ausser Kraft zu setzen, zweifels­ohne eine gute Nachricht. Insbesondere der Sturm auf das Capitol war ein direkter Anschlag auf die amerikanische Demokratie. Dass er ein juristisches Nachspiel hat und sein eigentlicher Verursacher zur Verantwortung gezogen wird, erscheint zwingend. Das Problem dabei ist allerdings, dass Trumps Agieren im Januar 2021 einen politischen und einen rechtlichen Aspekt hat – und dass diese beiden Beurteilungs­ebenen einen direkten Konflikt erzeugen.

Juristisch ist die Situation des Ex-Präsidenten heute ziemlich verzweifelt. In allen Verfahren riskiert er hohe Strafen, und es erscheint äusserst unwahrscheinlich, dass er sich einer Verurteilung wird entziehen können. Trump ist aller Voraussicht nach ein schwerer Straf­täter. Politisch ist jedoch das Gegenteil der Fall: Die Straf­prozesse beschädigen Trumps politische Glaubwürdigkeit nicht. Es tritt nicht ein, was lange erwartet wurde, nämlich dass er aufgrund immer gravierenderer strafrechtlicher Anklagen schliesslich auch innerhalb der Republikanischen Partei an Anhängerschaft verliert. Im Gegenteil: Die Anklagen sind ein starker Boost für Trumps Popularität.

Seit der Ex-Präsident juristisch unter Druck gekommen ist, gehen seine Umfrage­werte wieder steil nach oben. Die Strafverfahren sind für ihn eine juristische Bedrohung – und ein politischer Segen. In den Polls zu den republikanischen Primaries liegt der Ex-Präsident nun weit vor seinen Heraus­forderern, und es ist nicht mehr ersichtlich, welcher republikanische Gegen­kandidat überhaupt noch als ernsthafter Konkurrent gelten soll. Ron DeSantis, Mike Pence, Chris Christie: Alle schwer­gewichtigeren Alternativ­kandidaten scheinen bereits heute fast hoffnungslos abgeschlagen.

In den Umfragen zu den eigentlichen Präsidentschafts­wahlen liegt Trump im Moment Kopf an Kopf mit Präsident Biden, der aller Voraussicht nach für eine zweite Amtszeit kandidieren wird.

Es ist also gar nicht so unwahrscheinlich, dass Trump 2024 für eine weitere Amts­zeit ins Weisse Haus gewählt wird. Genauso wahrscheinlich erscheint es jedoch, dass er eine allfällige Präsidentschaft aus einer Gefängnis­zelle heraus wird bestreiten müssen – weil eine strafrechtliche Verurteilung nicht ausbleiben dürfte. Der mächtigste Mann der Welt – der aus dem Knast heraus regiert. Das ist die Mafia-Version der Verfassungs­krise. Es sieht ganz danach aus, als könnte sie in den USA jetzt zur Realität werden.

Ein frontalerer Gegensatz zwischen Rechts­ordnung und politischer Legitimität liesse sich kaum mehr denken. Trump – diesen Beweis hat er geführt – schreckt nicht davor zurück, die demokratische Ordnung mit gewaltsamen Mitteln ausser Kraft zu setzen. Aber wenn er trotz strafrechtlicher Verurteilungen noch einmal zum Präsidenten werden würde, läge der Fall anders: Die amerikanische Verfassung schliesst Straf­täter nicht von der Präsidentschaft aus. Sollte Trump bei den nächsten Wahlen tatsächlich Biden besiegen und eine Mehrheit erringen, wäre er einwandfrei demokratisch legitimiert. Wenn eine Mehrheit der Wählerinnen einen Verbrecher zum Präsidenten machen will, ist gegen die Unter­minierung der Demokratie eigentlich kein Kraut mehr gewachsen. Die Zerstörung der Demokratie würde vollzogen mit den Mitteln der Demokratie.

Das ist die Gefahr, die sich in den USA nun konkretisiert. Trumps Anhänger sind davon überzeugt, dass ihr Idol ein Opfer des Justiz­systems ist und dass die Biden-Administration die Justiz instrumentalisiert, um einen Gegner zur Strecke zu bringen, den sie politisch nicht besiegen kann. Das entspricht natürlich nicht der Wahrheit, genauso wie es nicht der Wahrheit entspricht, dass Trump die letzten Präsidentschafts­wahlen gewonnen haben soll. Aber es ist auch nicht vollkommen falsch: Biden und Trump werden wohl tatsächlich direkte politische Konkurrenten sein, und die Biden-Administration hat eine weitreichende Kontrolle über die Straf­verfahren gegen Trump. Sie hätte sie auch unterbinden können. Die politische und die juristische Legitimität stehen in frontalem Wider­spruch. Und bedrohen die Glaubwürdigkeit des ganzen Systems.

Etwas ganz Analoges geschieht heute in Israel. Daniel Strassberg hat diese Woche in einem Republik-Beitrag die israelische Verfassungs­krise analysiert und dabei nicht nur unterstrichen, dass die politische Dynamik von einem theologischen Messianismus befeuert wird, sondern auch die Tatsache, dass die Netanyahu-Regierung recht plausible Argumente hat für die Behauptung, sie selbst sei es, die den liberalen, demokratischen Verfassungs­staat verteidige – gegen die vermeintliche Übergriffigkeit des obersten Gerichts.

Da der Staat Israel über keine festgeschriebene Verfassung verfügt, das Verfassungs­recht stark von der Jurisprudenz des obersten Gerichts bestimmt wird und diese Juris­prudenz sich über die Jahre stark gewandelt hat, kann man dieses Argument tatsächlich vorbringen. Allerdings nur solange man sich nicht an den massiven Menschenrechts­verletzungen stört, die das oberste Gericht durch die Ausweitung seiner Kompetenzen verhindert hat, und solange man akzeptiert, dass verurteilte Straf­täter wie voraussichtlich Netanyahu selbst – eine frappierende Parallele zu den USA – die Regierungs­macht ausüben.

So skandalös der Angriff auf die Demokratie der Netanyahu-Regierung auch ist: Sie verfügt über eine klare Mehrheit, sie ist demokratisch legitimiert. Und ob ihr Vorgehen nach israelischem Recht tatsächlich ungesetzlich ist, wird eine sehr delikate Interpretations­frage bleiben. Für den Ausgang der israelischen Verfassungs­krise dürfte die Positionierung der Sicherheits­kräfte eine wichtige Rolle spielen. Auf welche Seite stellen sich die Polizei, die Armee, der Geheim­dienst?

Wie auch immer die Sache ausgehen wird: Die Spaltung der israelischen Gesellschaft ist verheerend. Und wenn sich die Sicherheits­kräfte hinter den obersten Gerichtshof stellen sollten, sieht die Rettung der israelischen Demokratie, so sehr man sie befürworten mag, einem Militär­putsch zum Verwechseln ähnlich.

Schliesslich und endlich: Auch die deutsche Entwicklung ist geprägt von einem zunehmend dramatischen Gegensatz zwischen Demokratie und liberalem Verfassungs­staat. Zwar ist die AfD weit davon entfernt, über eine Mehrheit zu verfügen, aber momentan ist sie gemäss Umfragen die zweitstärkste Partei und gut positioniert, um nächstes Jahr die Regierungs­macht in einzelnen Bundes­ländern zu erringen. Nun spitzt sich der Konflikt zwischen der Partei und Thomas Haldenwang, dem Präsidenten des deutschen Verfassungs­schutzes, zu.

Haldenwang äussert sich seit längerem in scharfen Tönen über die «verfassungs­feindlichen Bestrebungen» der AfD, die schon länger als rechtsextremer Verdachts­fall eingestuft ist. Er hat ausgezeichnete Argumente. Durch «Hass und Hetze» werde die Menschen­würde bestimmter Personen­kreise durch die AfD verletzt – etwa von Bürgerinnen mit Migrations­hintergrund, Musliminnen, Menschen mit queerer sexueller Identität oder auch von Juden –, und die Menschen­würde ist gemäss dem deutschen Grundgesetz bekanntlich unantastbar.

Ganz im Geiste der deutschen Verfassung argumentiert Haldenwang deshalb für eine «wehrhafte Demokratie». Dass eine Partei, die in Meinungs­umfragen auf über 20 Prozent kommt, als verfassungs­feindlich einzustufen ist, stellt allerdings eine massive Heraus­forderung dar für die deutsche Demokratie. Die AfD hat leichtes Spiel, Haldenwang als politisch nicht neutralen Agitator hinzustellen, der die Willens­äusserungen des Volkes unterdrücken will.

Dass der deutsche Staat seine historische Lektion gelernt hat und mit voller Macht gegen demokratie­feindliche Kräfte vorgeht: Daran könnten sich andere Länder ein Beispiel nehmen. Die bange Frage ist allerdings, welche politische Dynamik das schliesslich begünstigt. Und ob es die zunehmende Popularität von rechts­radikalen Kräften unterbinden kann.

Was ist, wenn zunehmende Bevölkerungs­kreise die Bindung an die Menschen­rechte, die Minderheiten­rechte und den Rechtsstaat zu verlieren beginnen? Der liberale, demokratische Verfassungs­staat ist keine Selbst­verständlichkeit. Sein Paradox besteht auch darin, dass er sich auf ganz demokratischem Weg jederzeit selbst abschaffen kann und deshalb permanent mühsam verteidigt werden muss. Die Aufgabe erscheint heute dringlicher denn je.

Illustration: Alex Solman