«Der obersten Ebene der SVP fehlt es an Distanz zu extrem rechtem Gedankengut»

Der Wahlkampf ist kaum angelaufen, und schon droht er zu entgleisen. Grünen-Präsident Balthasar Glättli über Anstand und Nazi-Vergleiche.

Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Anne Gabriel-Jürgens (Bild), 10.08.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Balthasar Glättli: «Ich finde es falsch, dass im kommerziellen Bereich die Werbung lauter sein muss, während in der Politik gilt: anything goes.»

Herr Glättli, bald beginnt die heisse Phase des Wahlkampfs. Glaubt man den Umfragen, wird Ihre Partei die grosse Verliererin – immerhin aber schwimmen Sie nun auf einmal im Geld. Wie fühlt man sich als grüner Dagobert Duck?
(Lacht.) Wir sind sehr glücklich, dass wir eine Million Franken erhalten haben – das ist die mit Abstand grösste Spende, seit die Grüne Partei vor vierzig Jahren gegründet wurde. Aber man muss das auch relativieren.

Wieso? Eine Million Franken ist ein Haufen Geld …
Für uns Grüne schon, für Wahl­werbung generell aber nicht. So viel kostete alleine der Klimaleugner-Flyer, den die SVP vor der Volks­abstimmung über das Klimaschutz­gesetz im Juni in sämtliche Schweizer Haushalte verschicken liess.

Füllen Sie nun ebenfalls alle Briefkästen mit einer Abstimmungs­zeitung?
Nein. Wir benutzen das Geld für die Mobilisierung unserer Mitglieder und Sympathisantinnen sowie für die Aus- und Weiterbildung der Kandidierenden. Vor allem aber haben wir eine App programmiert. Sie ermöglicht es unseren Hunderten Kandidierenden und Aktiven sowie ihren Kantonal­parteien, effektiver zu mobilisieren und präsent zu sein. Unseres Wissens wurde eine solche Wahlkampf-App in der Schweiz noch nie eingesetzt.

Während der Sommerferien ist der Wahlkampf entgleist: Die Organisation Campax, bei der Sie im Vorstand sitzen, hat mit einem Aufkleber geworben, auf dem ein Schaf zu sehen ist, das die Logos der FDP und der SVP kickt. Das Schaf trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «FCK NZS», was für «Fuck Nazis» steht. Finden Sie das in Ordnung?
Nein. Ich bin froh, dass Campax diesen Aufkleber rasch zurückgezogen hat.

Wie konnte das überhaupt passieren?
Als Vorstandsmitglied bin ich nicht in operative Entscheidungen involviert. Aber wir müssen diesen Vorfall kritisch aufarbeiten. Was mir zunächst aber wichtiger ist: Ich möchte mich bei allen Menschen entschuldigen, die einer Gruppe angehören, die Opfer der Nazis waren und diesen Sticker geschmacklos fanden.

Bei der FDP und der SVP entschuldigen Sie sich nicht?
Das ist nicht nötig. Ich habe schon in einem «20 Minuten»-Interview gesagt, dass die FDP und die freisinnige Wählerschaft für mich keine Nazis sind. Punkt.

Und die SVP?
Ich fand sehr interessant, dass sich nur die FDP gegen den Nazi-Vergleich gewehrt hat. Vielleicht auch darum, weil ja die SVP eine eigene Geschichte mit solch problematischen Nazi-Vergleichen hat. So hatte Blocher selbst 2016 mehrfach erklärt, die SVP werde in der Schweiz diskriminiert wie die Juden im National­sozialismus.

Wie bewerten Sie das?
Ich kenne sehr viele Menschen in der SVP, die ich niemals als Nazis bezeichnen würde. Aber ich stelle schon fest, dass es der obersten Ebene der Partei an Distanz zu extrem rechtem Gedankengut fehlt.

Woran denken Sie?
Beispielsweise an die Listen­verbindungen mit den Rechts­aussen des Vereins Mass-voll, die offen an Aufmärschen von Rechts­extremen und Neonazis teilnehmen.

Sie sprechen von der obersten Ebene der SVP. Wen meinen Sie konkret?
Beispielsweise SVP-Wahlkampf­leiter Marcel Dettling, der dazu aufgerufen hat, mit diesen Kräften Listen­verbindungen einzugehen. Das bedeutet: Er ist froh um diese Stimmen und nimmt in Kauf, ihnen allenfalls zur Wahl zu verhelfen.

Hat die SVP weniger Berührungs­ängste mit rechts aussen als früher?
Sie sind jedenfalls nicht grösser geworden. Umso problematischer finde ich, dass die FDP mit ihrem nicht nur wirtschafts­liberalen, sondern auch gesellschafts­liberalen Erbe versucht, in möglichst vielen Kantonen eine Allianz mit der SVP einzugehen.

Was hat das für Folgen?
Es führt zu einer Normalisierung von Positionen, die früher als rechtsextrem galten. Wenn SVP-Vertreter die Ausbürgerung krimineller Schweizer fordern oder behaupten, Eingebürgerte seien eigentlich gar keine Schweizer, führt das heute kaum noch zu öffentlicher Empörung. Es gehört einfach dazu. Aus SVP-Kreisen sind zudem so viele Einzelfälle von rechts­extremen Äusserungen dokumentiert, dass es schwerfällt, darin reinen Zufall zu sehen.

Sie übertreiben.
Überhaupt nicht. Und es sind nicht nur Neben­figuren, die solche Ungeheuerlichkeiten von sich geben, sondern es ist das Kader­personal der SVP, das die verbale Radikalisierung befeuert: Programm­verantwortliche und Parteileitungs­mitglieder wie Roger Köppel und Andreas Glarner. Sie zündeln und erhalten dabei Rücken­deckung von Partei­präsident Marco Chiesa. Denken Sie etwa an ihre Kampagne gegen den Gendertag an der Schule Stäfa. Oder ihre 1.-August-Aktion, wo es hiess: «Jagen Sie mit uns die schädliche Politik der Grünen und Linken in die Luft!»

Würden Sie von den anderen bürgerlichen Parteien erwarten, dass sie die Zusammenarbeit mit der SVP einstellen?
Am wichtigsten wäre, dass sie damit aufhören, ständig ihre Themen zu übernehmen. Denn das Gefährlichste an der SVP ist nicht, was sie selbst tut, sondern wie es ihr gelingt, den gesamten politischen Diskurs zu verschieben.

Wie meinen Sie das?
In vielen Bereichen machen FDP und Mitte-Partei nichts anderes als eine etwas «anständigere» SVP-Politik. Am Schluss nützt das nie der Kopie, sondern immer dem Original.

Apropos Anständigkeit: Die FDP hat ein Wahl­plakat veröffentlicht, auf dem Klima-Aktivisten eine Ambulanz blockieren. In der Realität ist das noch nie vorgekommen, das Plakat wurde mit künstlicher Intelligenz erstellt. Wie finden Sie das?
Man kann schon lange Foto­montagen erstellen, bei denen man auf den ersten Blick nicht sieht, dass die Bilder fingiert sind. Aber, und das ist neu und heikel: Heutzutage ist das extrem viel einfacher. Man kann in wenigen Sekunden Dutzende Bilder erstellen, die gewisse Stimmungen schaffen oder provokative Sujets beinhalten, die fotorealistisch etwas illustrieren, das es in der Realität gar nie gab. Und die vor allem nicht als Propaganda erkannt werden.

Das Gleiche gilt mit der KI zunehmend auch für Töne und Videos. Es ist möglich, Ihnen mit Ihrer eigenen Stimme Worte in den Mund zu legen, die Sie so nie gesagt haben. Wie wirkt sich das auf die Glaubwürdigkeit der Politik aus?
Es ist verheerend, schliesslich ist die Glaubwürdigkeit der Politiker sehr zentral für die Demokratie. Wenn man von jeder beliebigen Person Aussagen publizieren kann, die sie so nie gemacht hat, kommen wir dahin, wo Trump-Stratege Steve Bannon die US-Politik hinbewegen wollte: Flood the zone with shit. Was so viel heisst wie: den öffentlichen Raum mit Quatsch und Unsinn füllen. Dann sind wir an einem Punkt, an dem man als Bürgerin gar nichts mehr glaubt.

Funktioniert die Demokratie dann überhaupt noch?
Das ist die grosse Frage. Wir müssen daran arbeiten, dass wir gar nicht an diesen Punkt kommen. Darum kontaktierte ich lange, bevor das FDP-Plakat erschienen ist, die anderen Parteien und schlug ihnen einen Kodex vor. Wir sollten uns darüber einigen, wie wir künstliche Intelligenz in der politischen Kommunikation einsetzen.

Sollen Parteien in der Wahl­werbung grundsätzlich auf KI verzichten?
Unser Vorschlag ist, dass niemand KI einsetzt, um Fake News zu produzieren. Weder soll man einem Akteur oder einer Akteurin mit einem Bild etwas unterstellen, wie es die FDP mit den Klima­klebern getan hat. Noch soll man eine Tonaufnahme von SVP-Nationalrat Andreas Glarner fabrizieren, in der er zum Beispiel das Horst-Wessel-Lied singt (die Parteihymne der deutschen Nationalsozialisten, Anm. d. Redaktion).

Wie haben die anderen Parteien auf Ihren Vorschlag reagiert?
Die Gespräche laufen, ich kann deshalb noch nicht ins Detail gehen. Wir werden gemeinsam kommunizieren, wenn wir eine Lösung gefunden haben – noch in diesem Wahlkampf. Sagen kann ich einzig, dass sich die SVP relativ schnell aus den Gesprächen verabschiedet hat.

Die FDP ist dabei?
Ja. Und ich möchte der Fairness halber noch sagen, dass die FDP bei der Bekannt­machung ihres Klimakleber-Motivs explizit kommuniziert hat, dass es sich dabei um ihr erstes KI-generiertes Wahl­plakat handelte. Entsprechend berichteten alle Medien darüber und es hat eine Debatte stattgefunden. In diesem spezifischen Fall wurden wohl kaum Leute getäuscht. Aber sogar hier bleibt das falsche Bild unbewusst hängen.

Sie haben einen weiteren Vorschlag gemacht, der auf Kritik stiess: Sie wollen ein Gremium schaffen, das «während Abstimmungs­kampagnen zur Beurteilung zweifelhafter Aussagen in der öffentlichen Werbung angerufen werden kann». Was soll mit so einer Art politischer Lauterkeits­kommission erreicht werden?
Ich finde es falsch, dass im kommerziellen Bereich die Werbung lauter sein muss, während in der Politik gilt: anything goes. Für Produkt­werbung gibt es eine Lauterkeits­kommission: ein Zusammen­schluss von Akteurinnen der Werbe­branche, die sich auf einen Kodex geeinigt haben und Werbung prüfen und bewerten. So etwas Ähnliches sollte es auch für die politische Werbung geben. Nicht mit Sanktionen, Bussen oder Verboten. Aber es braucht eine neutrale Stelle, die man als Bürgerin oder Kampagnen­mitarbeiter anrufen kann, um eine Einschätzung darüber zu erhalten, ob eine Werbung lauter ist oder nicht.

Es ist doch die Aufgabe der vierten Gewalt, Politikern auf die Finger zu schauen, Fakten­checks durchzuführen und es bekannt zu machen, wenn Politikerinnen Unwahrheiten verbreiten.
Natürlich ist das eine Aufgabe der vierten Gewalt, die sie ja – unterschiedlich gründlich – auch wahrnimmt. Man kann das aber nicht wie einen Leistungs­auftrag an die Medien delegieren, ohne sie dafür finanziell zu entschädigen.

Wer soll denn bei politischer Werbung die Entscheidung treffen, ob etwas lauter war oder nicht?
Das habe ich in meinem Vorstoss ganz bewusst offen gelassen. Er basiert auf einem Vorstoss der früheren CVP-National­rätin Judith Stamm, die im Jahr 1999 die Gründung einer Kommission unter dem Vorsitz des Ständerats­präsidenten und der Nationalrats­präsidentin vorschlug. Das wäre für mich weiterhin eine Möglichkeit. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass ein spezielles Gremium gebildet wird, analog etwa zum Preis­überwacher. Ich bin offen für Vorschläge anderer Parteien.

Wie würde ein solches Gremium wohl über das heikle Thema der Nazi-Vergleiche urteilen: Wann sind Nazi-Vergleiche legitim?
Nazi-Vergleiche sind eigentlich immer problematisch, weil sie zur Banalisierung des Holocaust führen.

Zur Person

Vor zwölf Jahren wurde Balthasar Glättli in den Nationalrat gewählt. 2013 wurde er zum Fraktionschef ernannt, 2020 löste er Regula Rytz als Präsident der Grünen ab. Der 51-Jährige ist mit SP-Nationalrätin Min Li Marti verheiratet und wohnt mit ihr sowie einer fünfjährigen Tochter in der Stadt Zürich. Selbst Bundesrat werden möchte Glättli nicht, wie er mehrfach betont hat – sehr wohl aber träumt er davon, als Parteichef in die Annalen einzugehen, der den Grünen zum erstmaligen Einzug in die Landes­regierung verholfen hat.

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