Köppels Sturm

Vor einem halben Jahr griffen Neonazis eine Lesestunde für Kinder an. Jetzt nimmt Verleger Roger Köppel die «Drag Story Time» ins Visier. Und nennt dabei Ort und Zeit der Veranstaltung.

Von Daniel Ryser, 18.05.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Letzten Oktober blockierten vermummte Neonazis bei einer Kinder­lesestunde in Zürich den Eingang, zündeten Rauchbomben und versetzten damit Kinder und Eltern in Panik. Später posteten sie, Name und Gesicht zeigend, eine Art Bekenner­video. Die Angreifer schienen sich sicher zu fühlen. Tatsächlich lautete die Antwort der SVP im Zürcher Gemeinderat auf den medialen Wirbel, den der rechts­extreme Angriff ausgelöst hatte, man müsse die Lese­stunde abschaffen – nicht die Nazis.

Sechs Monate ist der Angriff der Neonazis auf die «Drag Story Time» her, eine beliebte Veranstaltung in Zürich, in der Dragqueens Kindern zwischen drei und acht Jahren Geschichten vorlesen. Veranstaltet wird die Lese­stunde seit fast fünf Jahren von Brandy Butler, bekannt aus «The Voice of Switzerland».

Bei der «Drag Story Time» sei es immer darum gegangen, Kindern einen sicheren Raum zu bieten, schrieb Butler kürzlich auf Instagram. «Aber das scheint immer schwieriger zu werden, weil Leute das Drag-Element der Veranstaltung vereinnahmen, weil queere Menschen leider noch immer ein leichtes Ziel sind.» Butler habe seither extrem viele Anfragen wegen der «Drag Story Time» bekommen. «Aber ich bin vorsichtig geworden, denn es braut sich ein Sturm zusammen. Ich kann es spüren.»

Das schrieb Butler Mitte April. Da war es noch ruhig. Der Sturm begann vergangene Woche.

In der Zürcher Seegemeinde Stäfa musste die Sekundar­schule einen «Gender-Tag» absagen, nachdem Mord­drohungen bei der Schule eingegangen waren. Mitverantwortlich für die Absage waren die beiden SVP-Politiker Andreas Glarner und Roger Köppel.

Glarner stellte die Einladung zum «Gender-Tag», an dem es um gesellschaftliche Rollen­bilder und Gleich­stellung gehen sollte, mit Namen und Telefon­nummer der zuständigen Schul­sozialarbeiterin auf Twitter. Köppel sprach in seinem Video­format «Weltwoche Daily» von «Gender­verrückten» und von «indoktrinierten Kindern», die als Waffen gegen die traditionelle Familie eingesetzt würden, und er fantasierte von «einer echten Ideologisierung und Versexisierung des Schul­unterrichts».

Die NZZ kommentierte daraufhin, es sei «ein gesellschaftliches Armuts­zeugnis», wenn eine Schule die Polizei aufbieten müsse, um den Unterricht durchführen zu können. «Noch alarmierender, wenn die Schule auf einen Projekttag verzichtet, weil die Drohungen überhand­nahmen.»

Die Eskalation sei kein Zufall, sagte Psychologe und Männer­aktivist Markus Theunert in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». «Die Rechte nutzt das Genderthema gezielt für ihren Kulturkampf.» Theunert stellte zudem eine Verbindung her von Glarners und Köppels Umtrieben zu den Mord­drohungen von Stäfa. «Es waren die SVP-Nationalräte Roger Köppel und Andreas Glarner, die ihre Follower in den sozialen Netz­werken gegen die Schule in Stäfa aufgehetzt haben», sagte er.

Die Morddrohungen seien nicht von den Politikern gekommen, wandten die Journalistinnen ein, und Theunert antwortete: «Haben Sie das Video von Roger Köppel gesehen? Ich will keine Kausalitäten herbei­reden, aber natürlich wird so etwas als Ermutigung verstanden. Und die Bereitschaft mancher Leute, sich blindwütig zu ereifern, ist riesig.»

Und nun, als nächste Station einer rechten Zensur­kultur gegen Veranstaltungen, die nicht ins enge ideologische Raster passen, wird die «Drag Story Time» attackiert, die am Samstag in Zürich-Oerlikon stattfindet. Der Sturm, den Brandy Butler Mitte April prophezeit hatte, tobt in den sozialen Netz­werken, in Chats von Rechts­extremen.

Und wieder machen die beiden SVP-Männer Roger Köppel und Andreas Glarner Stimmung.

Bemerkenswert: Bei seiner Attacke gegen den «Gender-Tag» in Stäfa bediente sich Roger Köppel desselben Vokabulars, das die Neonazis der «Jungen Tat» in ihrem Video benutzten, in dem sie den Angriff auf die Kinder­lesestunde rechtfertigten: «Gender» sei ein Angriff auf die traditionelle Familie. Dieselben Neonazis verehren Roger Köppel denn auch auf Twitter als «stabilsten Politiker der Schweiz», in Uster besuchten sie einen seiner Vorträge.

Am Montag dieser Woche schaltete Roger Köppel ein Video auf, in dem er sich gegen die «Drag Story Time» aussprach. «Was ist das jetzt schon wieder?», sagte er und spielte den Unwissenden. In den Händen hielt er die Einladung zur Kinder­lesestunde, dann bezeichnete er sie als «zwanghafte Sexualisierung aller Lebens­bereiche, jetzt müssen sich Dreijährige schon mit Dragqueens auseinander­setzen».

Und dann tat Köppel etwas für einen Journalisten Ungewöhnliches, angesichts der aufgeheizten Stimmung wirklich Irritierendes: Er nannte in seinem Videoblog zuerst den Veranstaltungs­ort, dann den Tag und dann, fast als würde er sein virtuelles Publikum konkret ansprechen wollen, dort vorbei­zuschauen, nannte er auch noch die Uhrzeit.

Mittlerweile sind offenbar bereits Drohungen gegen die Veranstaltung eingegangen. Die Lesestunde für Kinder wird mit Polizei­schutz stattfinden, bestätigt Medien­chefin Judith Hödl gegenüber der Republik.

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