
«Ich erinnere mich nicht, das Messer gesehen zu haben»
Vor zwei Jahren tötete die Polizei am Bahnhof Morges Roger Nzoy. Die laufende Strafuntersuchung legt neue Widersprüche der Polizei offen. Die Opferfamilie zweifelt an der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft.
Von Carlos Hanimann, 11.07.2023
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Roger Nzoy steigt am 30. August 2021 kurz nach Mittag in einen Zug von Zürich nach Genf. Nur wenige Stunden später ist er tot – erschossen von einem Polizisten am Bahnhof Morges.
Zuvor war der 37-jährige Mann aus Zürich zwei Bahnarbeitern aufgefallen, weil er auf den Gleisen herumgeirrt war. Nzoy litt seit Monaten an psychischen Problemen, in den Wochen vor seinem Tod hatte er Ängste und fühlte sich verfolgt. Den Bahnarbeitern gelang es an diesem Montagabend allerdings zunächst, Nzoy zu beruhigen. Er setzte sich aufs Perron, während die Bahnarbeiter die Polizei um Hilfe riefen.
Doch als die Polizei eintrifft, eskaliert die Situation rasch.
Nzoy, der bis dahin niemanden bedroht hat, hält laut Darstellung der Polizei plötzlich ein Messer in der Hand und eilt auf einen Polizisten zu. Dieser schiesst. Dreimal. Roger Nzoy stirbt noch am Tatort.
Der Fall sorgte für viel Aufruhr und Empörung in der Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass das Opfer schwarz war. Schon wieder. Zum vierten Mal innert fünf Jahren war eine schwarze Person in den Händen der Waadtländer Polizei gestorben.
In zwei Fällen kam es bisher zu einem Gerichtsverfahren. Der Polizist, der 2016 in Bex den 27-jährigen Hervé Mandundu vor seiner Haustür erschossen hatte, wurde rechtskräftig freigesprochen: Er habe in Notwehr gehandelt, weil das Opfer ein Messer in der Hand hielt.
Auch im Fall des 39-jährigen Mike Ben Peter, der nach einer Polizeikontrolle durch sechs Lausanner Polizisten im Februar 2018 starb, erfolgten erstinstanzliche Freisprüche für alle Polizisten. Der Prozess, der Mitte Juni in Renens und Lausanne stattfand, erfuhr viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, da der brutale Polizeieinsatz an den Mord an George Floyd in den USA erinnerte.
Während der Hauptverhandlung gegen die sechs Polizisten geriet insbesondere der Staatsanwalt Laurent Maye in die Kritik. Die Privatklägerschaft warf ihm Untätigkeit und Parteilichkeit vor. Während der Strafuntersuchung hatte er kaum nach Zeugen gesucht und die beschuldigten Polizisten (nach der polizeilichen Einvernahme) nur noch einmal befragt. Überdies war unmittelbar nach dem Tod von Mike Ben Peter nicht verhindert worden, dass die Polizisten sich absprechen konnten. So fuhren die Polizisten zusammen zum Polizeiposten, wo sie mehrere Stunden gemeinsam verbrachten, ehe sie dann einzeln befragt wurden.
Auch in den Medien wurde Staatsanwalt Maye scharf kritisiert, weil er passiv und desinteressiert auftrat. Der «Tages-Anzeiger» bezeichnete den Ankläger als «Fremdkörper», der seine Arbeit nicht mache.
Laurent Maye ist der zweithöchste Staatsanwalt in der Waadt und leitet die Spezialabteilung, die unter anderem für Ermittlungen gegen mutmasslich fehlbare Polizistinnen zuständig ist. Umso befremdlicher war, dass der Staatsanwalt am letzten Prozesstag seine eigene Anklage fallen liess und Freisprüche für alle beschuldigten Polizisten forderte. Zur Urteilsverkündung erschien er dann gar nicht mehr, sondern schickte einen Stellvertreter.
Ausgerechnet dieser Staatsanwalt führt auch die Strafuntersuchung im Fall von Roger Nzoy.
Er soll den Polizisten vor Gericht bringen, der im Sommer 2021 drei Schüsse auf Nzoy abgab. Und auch in diesem Fall steht der Vorwurf der Kollusion im Raum.
Die juristische Aufarbeitung des Falls geht nur schleppend voran. Die Angehörigen zweifeln, dass ihrem Bruder Gerechtigkeit widerfahren wird. In Lausanne und Morges haben Aktivistinnen Plakate aufgehängt, um Zeugen zu finden. Wieder scheint es, als müsste die Öffentlichkeit die Arbeit der Strafverfolgungsbehörde machen.
Neue Aussagen des Schützen
Im Sommer 2021 eröffnete die Waadtländer Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen den Polizisten, der Roger Nzoy erschoss. In einer ersten polizeilichen Einvernahme gab der Polizist unmittelbar nach der Tat seinen Kollegen zu Protokoll, er habe um sein Leben gefürchtet. Schliesslich sei Nzoy mit einem Messer bewaffnet auf ihn zugerannt. Selbstverteidigung: Er habe keine Wahl gehabt, als zu schiessen.
Der Polizist, der zum Tatzeitpunkt noch keine dreissig Jahre alt war, ist seit letztem Frühling wieder voll im Dienst, wie die Republik weiss. Für ihn gilt, wie für alle Beteiligten, die Unschuldsvermutung.
Letzten Sommer lud Staatsanwalt Maye den Polizisten zur Einvernahme. Die Republik hat Kenntnis von den dort gemachten Aussagen.
Demnach gab der beschuldigte Polizist zwei erstaunliche Dinge zu Protokoll. Erstaunlich deswegen, weil die Aussagen den bisher bekannten Informationen über den Tathergang widersprechen und ein neues Licht auf die Ereignisse werfen.
Erstens: Der Polizist sagte aus, er habe nicht gewusst, dass es sich bei Nzoy um einen verwirrten Mann handelte. Die Basisinformation über Funk habe gelautet: Eine gefährdete Person befinde sich auf den Gleisen. Nichts habe darauf hingedeutet, dass er, der Polizist, selbst in Gefahr geraten könnte, sagte er. Vor Ort sei ihm dann aufgefallen, dass Nzoy ein «seltsames Verhalten» an den Tag lege, wie er gegenüber dem Staatsanwalt ausführte. Er habe ihn als «unruhig» wahrgenommen. Aber diese Information habe er vorgängig nicht über den Polizeifunk erhalten.
Allerdings schrieb die Polizei später in einer Medienmitteilung, Nzoy sei als «perturbé» angekündigt worden, als «verwirrt». Tatsächlich hatte der Bahnarbeiter, der die Polizei zu Hilfe rief, Nzoy für «verrückt» gehalten, wie er damals der Polizei sagte. «Meiner Meinung nach war er suizidal», sagte der Bahnarbeiter in der Einvernahme.
Warum also wusste der Polizist nichts davon? Und welchen Einfluss hatte diese fehlende Information auf seine Einschätzung der Lage? Das sind Fragen, die die laufende Untersuchung und später ein allfälliger Prozess werden klären müssen.
Zweitens: Der Polizist sagte gegenüber der Staatsanwaltschaft aus, er habe das Messer, mit dem Nzoy auf ihn losgegangen sei und das ihn um sein Leben habe fürchten lassen, selber gar nicht gesehen. Jedenfalls nicht, als er die ersten zwei Schüsse auf Nzoy abgab und dieser vornüberstürzte.
«Ich erinnere mich auch nicht, das Messer gesehen zu haben, als er davor auf mich zurannte», gab der Polizist dem Staatsanwalt zu Protokoll. Zuvor habe ihm ein bereits anwesender Kollege auf dem Perron mitgeteilt, dass ein Messer im Spiel sei. Er habe dann – aus Distanz – die «Sonne auf der Klinge glänzen» gesehen.
Zweifel an fairem Verfahren
Es ist nicht das erste Mal, dass die Aussagen der Polizei in diesem Fall mehr vernebeln als klären. Gleich nach dem Vorfall am Bahnhof Morges hatte die Polizei in einer Medienmitteilung behauptet, die Polizisten hätten Erste Hilfe geleistet. In Wirklichkeit aber standen sie mehrere Minuten tatenlos um das Opfer herum, ehe ein Passant dem Opfer zu Hilfe eilte.
Die Angehörigen von Nzoy zweifeln indes nicht nur an den Aussagen der beteiligten Polizisten, sondern auch am Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die gegen die Polizei ermitteln soll.
Nachdem die Polizisten im Juni 2022 einvernommen worden waren, kam die Opferfamilie rasch zur Einsicht, dass nicht nur der Schütze vor Gericht gebracht werden sollte, sondern auch die anderen Polizisten, die Nzoy minutenlang blutend am Boden liegen liessen. Auf Videos ist zu sehen, dass sie zwar auf dem reglosen Nzoy knien, ihn mit Handschellen fesseln und mit den Füssen herumschieben. Aber niemand scheint zu prüfen, ob er noch lebt, geschweige denn lebenserhaltende Massnahmen zu ergreifen.
Deshalb wollen die Angehörigen, dass die Strafuntersuchung ausgeweitet und nicht nur der Schütze angeklagt wird, sondern auch die anderen anwesenden Polizisten. Der Vorwurf: unterlassene Hilfeleistung.
Staatsanwalt Maye ging in einem Schreiben von Mitte Juli 2022 nicht materiell auf das Anliegen ein: Es sei zu früh, darüber zu entscheiden. Damit gelten die Polizisten – mit Ausnahme des Schützen – im Verfahren weiterhin als Auskunftspersonen.
Am gleichen Tag jedoch gewährte derselbe Staatsanwalt allen drei Polizisten Akteneinsicht, damit sie ihre eigenen Einvernahmen nachlesen können.
Der Anwalt der Angehörigen hat gegen diesen Entscheid rekurriert. Er argumentiert unter anderem mit der allfälligen Ausweitung des Verfahrens und möglicher Kollusionsgefahr, dass also die Polizisten sich absprechen könnten, wenn sie ihre Aussagen lesen könnten. Er erachtet dies als problematisch, sollten die Polizisten doch noch zu Beschuldigten im Verfahren werden.
Nun hat das Bundesgericht diesen Rekurs aber Mitte Juni abgelehnt.
Da die Polizisten bereits befragt worden seien – wenn auch als Auskunftspersonen und nicht als Beschuldigte –, könne «das Risiko der Kollusion ausgeschlossen werden». Das Bundesgericht findet es auch nicht ersichtlich, inwiefern die Akteneinsicht der Polizisten eine Ausweitung der Untersuchung gefährden könnte. Es äussert sich aber nicht zur Frage, ob die Ermittlungen auf weitere Polizisten ausgeweitet werden sollen. Die Privatklägerschaft beantragt deshalb erneut eine Ausweitung des Verfahrens. Nun wartet sie auf den Entscheid des Staatsanwalts.
Das Bundesgericht führt weiter aus, dass die Polizisten laut Strafprozessordnung ohnehin die Möglichkeit hätten, die gesamten Akten einzusehen, sollten sie im Laufe der Untersuchung von blossen Auskunftspersonen zu Beschuldigten werden. Allerdings wird den Beschuldigten das Einsichtsrecht in der Regel erst gewährt, nachdem sie als solche ausgesagt haben.
Die Polizisten erhalten nun gemäss Urteil des höchsten Gerichts Einsicht in die verlangten Akten. Die Opferfamilie befürchtet, dass sie sich nun besser absprechen können – und dass es dann auch in diesem Fall so läuft wie meistens, wenn Polizisten töten: Sie werden kaum oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen.