Regen, Sonne, Wolken, Farben – was eigentlich nicht zusammengehört, ergibt einen wunderbaren Bogen. Juuso Westerlund/Institute

Mehr Grauzone

Den Begriff «non-binär» kennen die meisten aus der Gender-Debatte. Dabei birgt die Denkfigur für viele gesellschaftliche Bereiche ein Versprechen – wenn wir es zulassen.

Von Michael Ebmeyer, 10.06.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Stellen Sie sich kurz vor, Sie wären Oppositions­führerin im Deutschen Bundestag. Es ist Juni 2023, mit den aktuellen Zustimmungs­werten Ihrer Partei, der CDU, können Sie einigermassen zufrieden sein. Ein anderer Aspekt der Umfragen aber bereitet Sorgen: Die rechtsextreme AfD ist seit Monaten im Aufwind, inzwischen steht sie bei 18 Prozent.

Wie reagieren Sie?

Na klar, Sie twittern: «Mit jeder gegenderten Nachrichten­sendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur #AfD.» Denn Sie haben ja nur die Wahl, entweder diesen Satz in die Welt zu setzen oder keinen. Sie sind konservativ, Sie haben einen gut gepflegten Werte­kompass, und der funktioniert nach dem Schema «entweder-oder». Es gibt zwei Möglichkeiten, für eine müssen wir uns entscheiden. Alles andere wäre Gender-Gaga.

Stimmt doch gar nicht, sagen Sie? Da haben Sie natürlich recht. Und auch Friedrich Merz, der real amtierende CDU-Vorsitzende, würde zweifellos darauf pochen, dass er auf die Nachricht von den Umfragen sonst was hätte twittern können. In so einem Fall sind unsere Möglichkeiten ja nicht bloss binär. Sie sind beliebig vielfältig, sie sind – non-binär.

Ein ungewohnter Moment für dieses Wort. Von non-binär ist zwar seit Jahren viel die Rede, aber immer nur in einem bestimmten Zusammen­hang: eben beim Thema Gender. Dort bezeichnet non-binär Geschlechts­identitäten, die sich den Kategorien weiblich oder männlich nicht (oder nicht eindeutig oder nicht permanent) zuordnen lassen. Der Wunsch, non-binären Personen volle gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, inspiriert eine Emanzipations­bewegung, die in den letzten Jahren in Teilen der Welt ziemlich erfolgreich war.

Zugleich wurde sie für Traditionalisten aller Länder zum Lieblings­feindbild. Sobald sie trans hören, ist ihre Toleranz­schwelle überschritten. Gender Trouble kündigte Judith Butler in den Neunzigern in ihrem berühmten gleichnamigen Buch an, und sie sollte recht behalten. Das Thema Gender ist heute so gross wie nie und ein verlässlicher Aufreger. Wo sich das Non-binäre zu erkennen gibt oder gar etwas zu fordern wagt, kann jederzeit konservativer Krawall ausbrechen.

Zum Autor

Michael Ebmeyer lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. Er hat Romane und Sachbücher veröffentlicht. Ende Juni 2023 erscheint sein Essay «Nonbinär ist die Rettung. Ein Plädoyer für subversives Denken» in der Buchreihe «Update Gesellschaft».

Und ja, das Beispiel oben mit dem CDU-Vorsitzenden ist albern – aber auch nicht alberner als seine Rundmail und sein Tweet über «gegenderte Nachrichten­sendungen» (die es in den öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland übrigens nicht gibt) und überhaupt der Umgang vieler Konservativer mit dem Thema Gender. Sie verhalten sich, als würde eine Anerkennung non-binärer Geschlechts­identitäten den Untergang des Abend­landes bedeuten. Hinter dem Dauer­gepolter gegen den «Genderwahn» steht offenbar mehr als ein Unbehagen gegenüber trans Personen oder eine Sorge um sexuelle Normen. Das Problem scheint das Non-binäre als Denkfigur zu sein.

So sehr wir in etlichen Bereichen unseres Lebens Diversität oder Wahl­freiheit zu schätzen wissen (nicht nur, wenn es darum geht, was wir gerade twittern könnten), prägt doch eine binäre Ordnung unser Denken und die Art, wie wir uns in der Welt zurechtfinden. Dieses Schema beschränkt sich nicht auf die Zwei­teilung Frau/Mann. Lauter weitere Gegensatz­paare haben wir verinnerlicht: oben/unten, zugehörig/fremd, Chefinnen/Untergebene, Zivilisation/Natur. Und viele dieser Dichotomien lassen sich auf eine gemeinsame, ebenfalls binäre Grundlage zurückführen: auf das Prinzip von Herrschaft und Unterordnung.

Wer Zwischenraum hört, denkt gerne an Chaos und Verfall

Das Non-binäre – das, was sich der Entweder-oder-Einteilung entzieht – fällt uns oft gar nicht auf. Es läuft so mit im Leben, und solange es sich nur als «Vielfalt» bemerkbar macht, die unsere binären Routinen malerisch umrankt, aber sie nicht stört, gilt es nicht als unerfreulich. Bedrohlich wird das Non-binäre, sobald es dem Prinzip von Herrschaft und Unter­ordnung ins Gehege kommt. Dessen Verfechterinnen verfallen dann häufig ins Extrem: Sie werden ultrabinär.

Bleiben wir kurz noch bei der Gender­debatte, um den Macht­anspruch des binären Schemas genauer zu fassen. Das Binäre ist das Selbst­verständliche, zumindest will es das sein. Das Non-binäre ist das Nicht-Selbst­verständliche, das Nicht-Vorgesehene – das, was seinen Raum erst einfordern muss: den Raum zwischen entweder und oder. Dieser Zwischenraum ist für manche eine Zumutung. Das Non-binäre wird verleugnet, und wenn es sich nicht mehr verleugnen lässt, wird es gefürchtet und bekämpft. Es wird mit Chaos und Verfall assoziiert, weil es die Fundamente der herrschenden Ordnung bedroht.

So begründet sich der Hass auf trans Personen, so werden in Dutzenden von Staaten Gesetze zur Verfolgung queerer Menschen gerechtfertigt, und so nährt sich in Mitteleuropa eine rituelle Empörung, wenn zum Beispiel Dragqueens Kindern etwas vorlesen wollen.

Der Rauchbomben­angriff einer Neonazigruppe auf die beliebte «Drag Story Time» am Tanzhaus Zürich im vergangenen Oktober wirkt mittlerweile wie ein Fanal. Nachdem die Zürcher SVP auf die Attacke mit dem Vorschlag reagiert hatte, die Lesereihe einzustellen, griffen konservative Politiker auch ausserhalb der Schweiz die Anregung auf. Von «woker Früh­sexualisierung» fantasierte Martin Huber, Generalsekretär der CSU, als die Münchner Stadt­bibliothek im Mai eine «Draglesung für Kinder» ankündigte. Bayerns Wirtschafts­minister Hubert Aiwanger von den «Freien Wählern» twitterte «Kindeswohl­gefährdung».

Beunruhigend, oder?

Wie hemmungslos da Erwachsene ihre eigenen Assoziationen auf Vierjährige übertragen. Wenn für einen Huber oder einen Hubert das Sexuelle im Vordergrund steht, sobald Menschen, die er für männlich hält, sich schrill «weiblich» kleiden, scheint er überzeugt, dass Kinder im Vorschul­alter genauso ticken wie er.

Hinter dem Lamento über drag, trans und queer steht keine echte Sorge um junge Menschen, sondern eine machtpolitische Agenda. Die Ultrabinären machen aus den gut eingespielten Erregungs­ritualen beim Thema Gender ein Kostüm, um ihre Projekte von Herrschaft und Verfolgung zu bemänteln. Es ist kein Zufall, dass nun prominente SVP-Politiker ihre Besorgnis wegen der «Drag Story Time» und wegen des «Gender-Tags» an einer Zürcher Schule mit genauen Angaben zu Orten, Uhrzeiten sowie Namen und Telefonnummern von Veranstalterinnen posten. Wer würde schon damit rechnen, dass die dann Mord­drohungen erhalten?

Wohin wollen die Ultras?

Während um das Thema Gender ein Kulturkampf ausgerufen wird, scheinen in vielen Bereichen von Gesellschaft und Politik auch in – noch – demokratischen Ländern rigoros binäre Haltungen auf dem Vormarsch zu sein. In «postfaktischen» Wahl­kämpfen genügt ein schmissiges Wir-gegen-die, also die ganz plumpe Variante des binären Denkens, oft für den Triumph.

So darf der Reis Erdoğan weiter die Türkei zur Autokratie umbauen, weil er mit seiner Botschaft «Entweder ich oder die Sitten­losigkeit» eine knappe Mehrheit der Abstimmenden gewinnen konnte. Nach den Regional­wahlen in Spanien kündigt sich dort eine Reihe neuer Bündnisse zwischen einer post­faschistischen und einer neo­faschistischen Partei an, was für die baldigen Parlaments­wahlen Übles befürchten lässt. In Österreich zeichnet sich ein Blitz-Comeback der Ibiza-FPÖ ab, die von einem autoritären Staat nach dem Vorbild von Orbáns Ungarn träumt.

Andererseits deutet die Abwahl von Staats­chefs wie Trump und Brasiliens Präsident Bolsonaro, die mit vulgär-binären Parolen demokratische Systeme kaperten und verstümmelten, darauf hin, dass das zwanghafte Polarisieren doch an Reiz verliert. In der politischen Praxis wird der Mangel an Komplexität auf die Dauer überdeutlich, jedenfalls solange ein Mindest­mass an demokratischen Strukturen erhalten bleibt.

Deshalb richtet sich die Wut der Ultrabinären über kurz oder lang immer gegen diese Strukturen: Sie wollen nicht diskutieren, schon gar nicht Rechenschaft ablegen. Um sich an der Macht zu halten, brauchen sie den, mindestens gefühlten, Ausnahme­zustand (sowie die Illusion, sie seien die geeigneten Krisen­manager) – oder die Abschaffung freier Wahlen. Nur folgerichtig, dass Trump und Bolsonaro beide nach ihrer Niederlage Putsch­versuche anzettelten.

Die Umtriebe der Ultrabinären machen deutlich, was wir an der Demokratie haben. Im Kontrast zu autokratischen Modellen ist die Demokratie selbst gewisser­massen ein non-binäres Angebot. Zwar nur eingeschränkt, weil auch sie auf ihre Art dem Prinzip Herrschaft verpflichtet bleibt. Sie verlässt das binäre Schema nicht. Doch immerhin macht sie Grauzonen stark, sie feiert die Vielfalt innerhalb des Schemas – solange sie eben selbst nicht zu fragil wird.

Und so werden einerseits mit autoritären Gesten und Dominanz­gehabe, mit der Aussicht auf «klare Verhältnisse» oder auf ein Weiter-so wider besseres Wissen, in letzter Zeit auch in demokratischen Staaten Wahlen gewonnen, Diskurse vergiftet, zukunfts­sichernde Beschlüsse verwässert. Andererseits gewinnt gerade angesichts der grössten planetaren Bedrohung, der fortschreitenden Klima­katastrophe, eine non-binäre Bewegung an Kontur.

Die Gender­debatte, in der sich das Non-binäre Geltung verschafft, kann ein Modell sein, um das Prinzip von Herrschaft und Unter­ordnung umfassend infrage zu stellen. Ähnlich wie die Auflösung des strikten Geschlechter­dualismus letztlich dem Macht­apparat Patriarchat die Grundlage entzieht, hätte die Anerkennung des Non-binären das Potenzial, auch andere autoritäre Strukturen zu überwinden. (Eben das befürchten ja die Ultrabinären.)

Heisskleber

Angesichts der menschgemachten Erd­erhitzung härtet das binäre Schema zu einem gigantischen Mechanismus der Realitäts­verweigerung aus. Zwar einigen sich Regierungen auf «Klimaziele». Den nötigen Massnahmen, um die Katastrophe noch abzuwenden, werden dann aber (vermeintlich unabänderliche) Konsum­gewohnheiten entgegengesetzt, Profit­interessen und der unbeirrbare Glaube an ein Anrecht auf Ausbeutung.

Es ist zum Verzweifeln. Darum verlegen sich Klima-Aktivistinnen in immer mehr Ländern auf zivilen Ungehorsam. Ein spektakuläres Beispiel bot die Gruppe «Renovate Switzerland», als sie am Karfreitag 2023 mit festgeklebten Händen die Zufahrt zum Gotthard-Tunnel blockierte.

Deutlich unbesonnener als in der Schweiz fielen die staatlichen Reaktionen auf diese Proteste in Deutschland aus. Dort erregte Ende Mai eine von der General­staatsanwaltschaft München angeordnete bundesweite Razzia gegen Mitglieder der «Letzten Generation» Aufsehen, im Zuge derer das bayerische Landes­kriminalamt auch die Homepage der «Klimakleber» sperrte (oder, wie es im Ermittler­deutsch heisst, beschlagnahmte). Kurzzeitig enthielt das behördliche Banner auf der einkassierten Website sogar den Hinweis, die «Letzte Generation» sei eine kriminelle Vereinigung. Als könnte, zumindest wenn es um Leute geht, die dem Fetisch Auto die Stirn zu bieten wagen, die Polizei eigenmächtig diese Einordnung vornehmen.

Ob Ermittlerinnen mit gewaltlos Protestierenden umgehen wie mit Terror­verdächtigen, ob CDU-Politiker nach dem Verfassungs­schutz rufen oder ob sich Bundes­kanzler Scholz den Aktivistinnen gegenüber im Ton vergreift («völlig bekloppt»): Staatliche Instanzen behandeln die «Letzte Generation» als eine Gegnerin nach binärem Schema. Dabei ist sie das eben nicht. Zwar werden ihre Appelle gerne als Wacht-auf!-Rhetorik gelesen, was auf einen binären Ansatz schliessen liesse: die Schlafenden/die Erwachten. Doch ist diese Lesart eine – meist gezielte – Fehldeutung. Denn was bewegt die «Letzte Generation», wie wohl alle Klimaschutz­gruppen? Die Bewahrung von Diversität. Im umfassendsten Sinn: die Bewahrung der Biodiversität.

An dieser Stelle kann die Antwort auf die Frage «Was ist eigentlich non-binär», die sonst oft abstrakt klingt, konkret lauten: Non-binär heisst, uns die Erde nicht untertan machen zu wollen, sondern sich zur Vielfalt des Lebens zu bekennen und in ihrem Interesse zu handeln.

Die «Letzte Generation» stellt nicht einmal revolutionäre Forderungen. Sie verlangt die Verbindlichkeit eines pro forma längst festgeklopften politischen Konsenses zum Erhalt der Ökosysteme: das 1,5-Grad-Ziel. Je aggressiver sich gegen solch massvolle Hartnäckigkeit die Wut von Auto­fahrern über Springer-Presse bis zur Deutschen Polizei­gewerkschaft ballt, desto deutlicher wird die non-binäre Ausrichtung der «Letzen Generation» – im Unterschied zu den verhängnisvollen Dichotomien, an denen sich ihre Gegnerinnen festgeklebt haben: Mensch/Natur, unsere Lebens­weise/unsere Lebens­grundlagen, Vollgas/Vollbremsung.

Bewegungen wie die «Letzte Generation», «Renovate Switzerland» oder «Fridays for Future» versuchen nicht, ein Interesse gegen ein anderes auszuspielen. Ihr Anliegen ist es, den Umgang mit den Biotopen aus der zerstörerischen Praxis des binären Schemas zu befreien. Mit jeder Hiobs­botschaft zur Erderhitzung wird klarer: Sie sind Stimmen der Vernunft, jenseits des binär orchestrierten Lärms.

Was die Zukunft bringt

Wobei neuerdings ja wieder infrage steht, ob uns wirklich die Akkumulation von «Extremwetter­ereignissen» und die daraus folgenden Verteilungs­kämpfe den zivilisatorischen Garaus machen werden. Eine weitere existenzielle Bedrohung zeichnet sich ab und könnte der Klima­katastrophe noch zuvorkommen. In ihrem Fall würde nicht der Mensch als Krone der Schöpfung das Verderben herbeiführen, sondern als Zauber­lehrling ohne Meister. Die «künstliche Intelligenz», die den Glauben an stabile Dichotomien schon im Namen trägt, zeigt erste Anwandlungen, sich ihrer Auftrag­geber und deren nerviger Spezies zu entledigen. Einen entsprechenden Warnruf, unterzeichnet von KI-Fachleuten aus aller Welt, veröffentlichte Ende Mai sogar das der Panikmache unverdächtige Center for AI Safety.

Fast könnte man also meinen, das binäre Schema sammle gerade verschiedene Gestalten an, in denen es uns um die Ohren fliegen kann. «Mesdames, Messieurs, Ihre Einsätze bitte»: Welcher unserer Lieblings­gegensätze wird uns zum Verhängnis, Mensch/Natur oder Mensch/Maschine?

Trans Personen und Gender-Aktivistinnen sind es jedenfalls nicht. Menschen, die sich auf Strassen festkleben, auch nicht. Binär ist die Katastrophe. Non-binär ist die Zukunft.

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