Die Fahnen weiterhin hoch: Die Fans der FPÖ halten die Treue (Wahlveranstaltung der FPÖ auf dem Viktor-Adler-Platz in Wien 2017). Christopher Glanzl

Österreichs blaues Opferfest

Nach dem Ibiza-Video ihres Parteiobmanns ist Österreichs FPÖ in der Krise. Würde man meinen. Für ihre Wähler glänzt sie derzeit in ihrer absoluten Paraderolle: der des ewigen Opfers.

Von Solmaz Khorsand, 23.05.2019

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Der Wallensteinplatz ist ein Traum für jeden Stadt­entwickler. Eine U-Bahn-Station von Wiens Innenstadt entfernt, ist er ein Bilderbuch­beispiel für urbane Durchmischung. Ein öffentlicher Raum, wo türkische Grossmütter mit ihren österreichischen Pendants die Parkbank teilen. Wo Kinder aus dem Gemeindebau mit jenen aus der Eigentums­wohnung um die Wette quietschen, wenn sie um die aus dem Boden schiessenden Wasser­fontänen laufen. Wo Väter im Eissalon ihren Espresso schlürfen, während die Mütter im Alt-Wiener Café nebenan durch internationale Zeitungen blättern.

Hier will Mario Präsenz zeigen. Ganz besonders an einem Tag wie diesem. Mit ein paar Mitstreitern steht er hinter einem Infostand. Er macht Wahlkampf für die FPÖ. Am Sonntag wird ein neues EU-Parlament gewählt. Und Mario will die Stellung halten. Mit Sakko, Hemd und Sonnen­brille steht der 19-jährige Maurer herausgeputzt da. Selbstbewusst, höflich, zugänglich. Er will sich von seiner besten, seiner professionellsten Seite zeigen. In Zeiten wie diesen schuldet er das seiner Partei.

Seit er sechzehn ist und wählen kann, gehört seine Stimme der FPÖ, den Blauen, wie die Partei in Österreich nach ihrer Parteifarbe genannt wird. Mario lässt die Blauen nicht hängen, egal was ihr Parteichef sagt, wenn er besoffen ist.

Sechzehn Stunden vorher haben die «Süddeutsche Zeitung» und der «Spiegel» heimlich gemachte Videoaufnahmen veröffentlicht, auf denen Heinz-Christian Strache, Österreichs Vizekanzler und FPÖ-Parteichef, sowie sein Parteikollege und Vertrauter Johann Gudenus zu sehen sind. Im Sommer 2017, ein paar Monate vor der Nationalrats­wahl, versprechen sie in einer Villa in Ibiza einer vermeintlichen russischen Investorin Staats­aufträge, wenn sie dafür sorgt, dass die FPÖ die Wahl gewinnt. Doch das Ganze war eine Falle, die Frau nur ein Lockvogel.

«Wir stehen zu Strache»: Auf dem Viktor-Adler-Platz in Wien 2017. Christopher Glanzl

Die beiden FPÖ-Politiker sind mittlerweile von all ihren politischen Funktionen zurückgetreten, ebenso die FPÖ-Minister. Ihr Koalitions­partner, die ÖVP, hat die Zusammen­arbeit beendet. Im September wird in Österreich neu gewählt.

Während ein Teil der Republik jubelt und nicht genug davon kriegen kann, Memes zu basteln, die die zwei Männer vor unterschiedlichen Kulissen verspotten, trauert ein anderer Teil:

die FPÖ-Anhänger.

Fleissig posten sie in den sozialen Medien Selfies mit Strache. Mit der Widmung «Danke HC», den Initialen seines Vornamens.

Auch Marios Facebook-Seite ist voll mit HC-Bildern. Zum Beweis holt er sein Handy hervor. «Wir stehen zu ihm. Jeder sagt mal Blödsinn, wenn er bsoffn ist», sagt er, «ich will mir mal die Partei­vorsitzende der Sozial­demokraten anschauen, was die sagt, wenn sie abgefüllt wird.»

Seine Kollegen lächeln bedrückt. Ein bisschen nervös sind sie. Mulmig war ihnen am Vormittag, als sie ihren Infostand am Wallenstein­platz, hier im 20. Bezirk, aufgestellt haben, eine Nacht nach dem grossen Ibizagate.

Wie würden die Leute reagieren? Mit wie viel Schadenfreude ihnen begegnen? Und wie professionell könnten sie sein, falls einer das Handy zückte und vor ihnen hämisch das Partylied «We’re Going to Ibiza» von den Vengaboys abspielte?

Bis jetzt war alles zivilisiert. In Ruhe konnten sie ihre Zelte aufbauen, die Sitzbänke aufstellen, die Hüpfburg für die Kinder aufblasen, das Spanferkel anrichten.

Im Hintergrund wirken die FPÖ-Veteraninnen aus dem Bezirk. Es sind rüstige Mittsechzigerinnen, in karierten Hemden und knielangen Jeans­röcken, die sich um die Logistik des Fests kümmern, darauf achten, das alles dort ist, wo es sein soll, dass die Band was zu trinken bekommt, dass genug Sauer­kraut für das Spanferkel da ist. Seit Jahrzehnten haben diese Frauen jedes Auf und Ab in der Freiheitlichen Partei mitverfolgt. Jeden Skandal und jeden Einzelfall – und sie sind geblieben. Trotz allem. Oder gerade deshalb.

Das Video wollen sie nicht kommentieren und verweisen auf die «Obrigkeit», die soll die Anfragen beantworten. Sie verteilen nur blaue Kugelschreiber, Flyer und verkaufen selbst gebackenen Kuchen.

Untereinander fällt schon einmal ein Kommentar.

«Eine hat mich heute blöd angeredet», erzählt eine Veteranin, während sie einer Frau ein Stück ihres selbst gebackenen Kuchens schneidet. Regelrecht angekläfft sei sie wegen des Strache-Videos worden, führt sie aus.

Die Frau reisst die Augen auf: «A Frechheit! Und? Hast ihr eine aufglegt?», will sie wissen.

Die Veteranin schüttelt den Kopf. Nein, sie hat die Frau nicht geohrfeigt. «Natürlich nicht. Stell dir vor, das filmt einer?! Wie erkläre ich dann, dass die mich provoziert hat?»

Beide nicken.

Heute ist definitiv nicht der Tag, um sich provozieren zu lassen.

Zurück mit dem rechten Rand

Peinlich war das Ibiza-Video. Das findet auch Mario. «Man muss aber schon differenzieren und schauen, was der Strache geleistet hat», sagt er. «Er hat die Partei aufgebaut.»

Diesen Satz sagen viele hier. Daran halten sie sich fest, wenn sie auf ihren Smart­phones die TV-Sonder­sendungen streamen, in denen das Video in Dauerschleife gezeigt wird.

Nachahmer und Vorbild: Heinz-Christian Strache (links) trat bei den Nationalratswahlen 2008 für die FPÖ an, Jörg Haider war da schon mit dem BZÖ unterwegs. Dieter Nagl/AFP/Getty Images

2005 hat Strache die FPÖ als Partei­obmann übernommen. Keine leichte Aufgabe. Die Partei war am Boden. Der Grund: Jörg Haider. Er, die Lichtgestalt der Partei und der europäischen Rechts­populisten, hat sie in den Neunzigern mit seinen Anti-Ausländer-Wahl­kämpfen gross gemacht. Und 2002 auch wieder ganz klein.

Damals sprengte er als Kärntner Landes­hauptmann aus dem Off die erste Regierungs­koalition zwischen ÖVP und FPÖ. Drei Jahre später seine eigene Partei. Er gründete ein Bündnis und nahm alle Parteipromis mit. Haider, der früher noch die Waffen-SS gelobt und Verständnis gezeigt hatte für die «ordentliche Beschäftigungs­politik» im Dritten Reich, wollte plötzlich nichts mehr zu tun haben mit den allzu rechten Gesinnungsbrüdern.

Sie blieben zurück. Und mit ihnen Heinz-Christian Strache. Den Verrat an den eigenen Leuten hat er Haider, seinem politischen Ziehvater, nie verziehen. In den ersten TV-Konfrontationen nach dem Bruch entzog er ihm vor laufender Kamera das Du-Wort.

Haider war der Snob, Strache der Proll

Bei seiner ersten Nationalrats­wahl als Partei­obmann holte Strache 2006 magere 11 Prozent.

Doch er blieb zäh. Und wurde Wahl für Wahl an der Urne belohnt. Er schob die Partei vom rechten Rand noch mehr nach rechts, hievte Burschenschafter in die wichtigsten Positionen und entdeckte den Islam als neues taugliches Feindbild. Mit einem Holzkreuz stand er bei Wahlkämpfen auf der Bühne und inszenierte sich als Retter des christlichen Abendlandes.

Wie Haider tourte auch er spätnachts durch die Discos, feierte mit den Jungen, trank und rappte sogar, wenn ein Wahlkampf auszufechten war. Übereifrig gab er den jungen Rebellen – und vor allem den nahbaren Politiker.

Dafür wurde er gefeiert. Während Chefs anderer Parteien gerade einmal höflichen Applaus bekommen, wenn sie eine Bühne betreten, wurde Strache – dank der entsprechenden Inszenierung – von seinen Anhängern immer wie ein Popstar empfangen.

Anfangs hat man Strache noch belächelt, als billige Kopie Haiders, den er in Rhetorik, Parolen und selbst im Kärntner Dialekt zu imitieren versuchte – er, der gebürtige Wiener. Strache war gröber, tölpelhafter und polternder als Haider. Ihm fehlte dessen Geschmeidigkeit. Und auch die Ironie. Dafür war er herzlicher.

Haider war der Snob. Er der Proll.

Das gefiel den Leuten.

Strache war einer von ihnen. Der ehemaliger Zahntechniker, der sich immer ein bisschen mehr anstrengen muss als seine studierten Burschen, die Rechts­anwälte und Notare aus den deutsch­nationalen Verbindungen. Der immer ein bisschen mehr auf die Schnauze fällt, wenn man in seiner Neonazi-Vergangenheit wühlt. Und der ein bisschen mehr dafür zahlen muss, wenn er vor laufender Kamera besoffen auf eine «schoafe» Russin reinfällt.

Strache, der strauchelnde Underdog. Das Image zieht bei Anhängern einer Partei, die ihre Wähler unentwegt adressiert als Aussen­seiter, verspottet vom System, in dem andere verhätschelt werden. Strache hat die Partei übernommen, als sie keiner wollte. Er hat sie in die Regierung gebracht. Und auf dem Zenit seiner Karriere als Vizekanzler der Republik wird er von all denen gestürzt, die es ihm nie gegönnt haben.

Er ist der Underdog der Underdogs.

Zum Glück wurde er nicht ermordet

Aufgebracht kommt eine alte Frau zum FPÖ-Stand am Wallenstein­platz. Im Schlepptau hat sie ihren Ehemann. Beide sind in ihren Siebzigern. Die Frau zittert vor Aufregung. «Eine Schweinerei ist das», sagt sie schnaufend. Der Sprint quer über die Piazza hat sie sichtlich erschöpft. Sie versucht sich zu beruhigen. Der Inhalt des Videos interessiert sie nicht. Sie fühlt sich nicht hintergangen, weil Strache, der sich immer schützend als Saubermann vor den kleinen Mann und die kleine Frau stellte, nun ohne Hemmungen bereit war, für ein paar Rubel die Republik an eine Russin zu verkaufen. Das stört sie nicht.

Sie stört, dass es so heimtückisch gefilmt wurde. Die drei jungen Männer hinter dem Stand nicken verständnisvoll. Die Frau fühlt sich sichtlich aufgehoben. Unter ihresgleichen kann sie sich in Rage reden über den gemeinen Hinterhalt. Dann hält sie kurz inne.

«Gut, dass ihm das passiert ist», sagt sie plötzlich. «Sonst hätten sie ihn umgebracht. So wie damals den Haider.» Bei einem Autounfall kam Jörg Haider 2008 ums Leben – mit 1,8 Promille im Blut. Bis heute zweifeln seine Anhänger an dieser «Version» der Geschichte.

Zum Glück sei dem HC dieses Schicksal erspart geblieben, findet die Frau. Zum Glück.

Die drei Männer nicken.

Zum Abschied hält der Mann der Frau seine Hände zu Fäusten geballt in die Höhe: «Wir drücken euch die Daumen», sagt er.

Geknicktes Posterchild der Rechtspopulisten

Die drei Jungs schauen ihnen dankbar nach. So viel Zuspruch hätten sie sich an diesem Tag nicht erwartet. Fast könnte man glauben, es sei nichts passiert. Die Sonne scheint, tätowierte Männer mit nackten Oberarmen trinken ihr Bier, die Band Sweetheart spielt Oldies, Roma-Frauen holen sich eine zweite Portion Gratis-Schweinefleisch, die Bezirksprominenz tuschelt an einem der Stehtische, und ein paar Meter weiter lassen Musliminnen ihre Kinder vor der Hüpfburg von FPÖ-Anhängerinnen schminken.

Ein ganz normales FPÖ-Bezirksfest in Wien.

Kurz nach 15 Uhr stellt sich eine junge Frau mit langen braunen Haaren, dunkelblauem Sakko und lehmfarbenen Ballerinas an einen Stehtisch vor der Bühne. Es ist Petra Steger, die Tochter des einstigen FPÖ-Parteichefs Norbert Steger. Abgekämpft sieht sie aus. Bis vor einer Stunde war die ehemalige Basketball­spielerin bei einem Parteifest im 16. Bezirk. Wenige seien gekommen, die Stimmung sei angespannt gewesen, heisst es aus ihrer Entourage.

Hier am Wallenstein­platz sind es immerhin knapp hundert Leute. Hier lohnt es sich, Wahlkampf zu machen. Petra Steger kandidiert für einen Sitz im EU-Parlament.

Vier Abgeordnete stellt die FPÖ derzeit in Brüssel. Ihr Delegations­vorsitzender Harald Vilimsky ist auch Vizechef der ENF, der Parteien­familie von Europas Rechts­populisten, zu denen unter anderen Marine Le Pens Rassemblement national und Matteo Salvinis Lega Nord zählen.

Auch die Fraktion der Populisten hat das Ibiza-Video kalt erwischt. Die FPÖ war ihr Posterchild. Viermal in ihrer 64-jährigen Geschichte schaffte es die österreichische Partei mit den ewig gleichen Parolen in eine Regierung – einmal mit den Sozial­demokraten, dreimal mit der ÖVP –, und das auch schon zu Zeiten, als Viktor Orbán noch ein Liberaler war.

Traditioneller Abschluss der FPÖ-Wahlkampagnen: Stimmung auf dem Viktor-Adler-Platz (2017). Christopher Glanzl

Nun heisst es Abstand nehmen vom einstigen Muster­schüler. Le Pen kommentierte das Video auf einer Grosswahlkampf­veranstaltung von elf rechtspopulistischen Parteien nur schmallippig als einen «schwerwiegenden Fehler» von Strache, für den er ja die Konsequenzen gezogen habe. Trotz allen politischen Sicherheits­abstands liess sie sich einen Nachsatz nicht nehmen: seltsam, dass so ein zwei Jahre altes Video wenige Tage vor der EU-Wahl rauskomme.

Jetzt erst recht

Ominöse Machenschaften sieht auch Petra Steger hinter der Veröffentlichung des Videos. «Sie haben sich gefürchtet vor uns», sagt sie. «Sie haben uns in dieser Regierung verhindert, aber sie werden nicht verhindern, dass wir bei der EU-Wahl Erfolg haben werden.» Wer «sie» sind, sagt Steger bei ihrem Auftritt am Wallenstein­platz nicht.

Die Menge hört ihr gebannt zu.

Rasch wird klar: Dieses Video wird der FPÖ nicht schaden. Im Gegenteil. Das ist der Stoff, aus dem Phönix-aus-der-Asche-Mythen gesponnen werden. In solchen Momenten erwacht der blaue Korpsgeist.

Schon in seiner Rücktrittsrede sprach Strache von einem «politischen Attentat» und «einer geheim­dienstlichen Aktion», der er da zum Opfer gefallen war. Auf seiner Facebook-Seite legte er ein paar Tage später nach: «Wir werden die Hinter­männer des kriminell erstellten Videos und Dirty Campaignings ausfindig machen. (...) Ich habe ein reines Gewissen und will volle Aufklärung. Dafür kämpfe ich!»

Die Antwort seiner Anhänger liess nicht lange auf sich warten: «Jetzt erst recht!» Das ist die Rolle, in der sie ihren HC kennen und lieben: die des um sich tretenden Underdogs.

Die blaue Regierungs­mannschaft tut es ihm gleich. Als Herbert Kickl, der Chefstratege der FPÖ, auf sein Amt des Innen­ministers verzichten und das Ressort an die ÖVP abtreten sollte, um so die Koalition zu retten, stellte sich die Partei quer. Geht er, gehen alle. «Wir lassen uns nicht spalten», sagte Norbert Hofer, Straches Interims­nachfolger und bisheriger Verkehrs­minister. Die FPÖ weigert sich, Kickl zu «opfern», einen, der noch nie in Ibiza war, nur um einen «machtbesoffenen» Bundes­kanzler zu befriedigen.

Auf Facebook regnet es dafür blaue Herz-Emojis.

Endlich ist die alte FPÖ wieder da. Die aus dem Abseits zetert. Gegen die da oben, unten, rechts und links. Das ist die Rolle, die sie beherrscht wie keine andere Partei. In der sie zu Hochform aufläuft, nicht jene der geknickten Staatsmänner, die sich dauernd von ihren identitären Bekannten distanzieren müssen.

Jetzt kann die FPÖ wieder wild um sich treten. Verlacht von den Medien, isoliert von den anderen Parteien und verhöhnt vom Ausland, ist die FPÖ nun wieder in der Rolle, in der sie sich ihren Wählern seit Jahrzehnten am besten verkaufen konnte: in der des Opfers.

Der Wahlkampf hat begonnen.
Die FPÖ ist startklar.
Und ihre Wähler auch.

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