Binswanger

Die Anti-Gender-Paranoia ist inakzeptabel

Von der Türkei über Italien bis Spanien – überall mobilisieren rechte Kräfte gegen die LGBTQIA+-Community. Warum soll es da plötzlich ein Problem geben?

Von Daniel Binswanger, 03.06.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Es ist verblüffend, in welchem Mass rechts­populistische Fieber­schübe in globalen Wellen kommen. In mancherlei Hinsicht entspricht diese Wahrnehmung sicher nicht der realen Entwicklung, sondern sie ist ein Effekt der Aufmerksamkeits­ökonomie und natürlich auch der Tatsache, dass die entsprechenden politischen Kräfte sich gegenseitig imitieren. So entsteht dann die Konjunktur bestimmter Medien­berichte, die Dominanz von Narrativen, die plötzlich überall zu hören sind. Dennoch sind diese Fieber­schübe sehr real und haben reale Konsequenzen.

Jetzt scheint es wieder so weit: Radikale rechte Kräfte sind fast überall in der Offensive hinter dem Banner «Widerstand gegen Gender-Wahn». Dass auch die Schweiz in diese politische Dynamik geraten ist – Stichwort Stäfa –, braucht man nicht mehr gesondert zu betonen.

Eine erste Quelle dieser Entwicklung ist natürlich die amerikanische soft power, das heisst die Macht der USA, fast alles zum globalen Standard zu erheben, auch Dinge, die zerstörerisch sind: Hollywood-Blockbuster, Fast Food, politische Paranoia. Diese Export­artikel beeinflussen selbst ideologische Kräfte bis ins Mark, die sich offiziell zu einem radikalen Anti-Amerikanismus bekennen, aktuell zum Beispiel die Putin-Versteher.

Bei aller Verblüffung: Es kommt nicht völlig unerwartet, dass die aggressive Anti-Wokeness-Propaganda des republikanischen Präsidentschafts­anwärters Ron DeSantis heute rund um den Globus ihre Kreise zieht.

Doch auch im Einfluss­bereich der EU entstehen seltsame Parallel­bewegungen. Zum Beispiel in der Türkei. Der strongman Erdoğan kann von den vereinigten Oppositions­kräften letztlich nicht gefährdet werden. Nach seinem Triumph in der Stichwahl von letztem Sonntag hielt er eine aggressive Rede an seine Anhänger, in der er sich selbst nicht nur zu seinem «Jahrhundertsieg» gratulierte, sondern sich auch erneut in den schärfsten Tönen gegen seine vermeintlichen Feinde wandte, insbesondere die LGBTQIA+-Community, die er explizit als Gefahr für die «heiligen Werte der traditionellen Familie» darstellte.

In Italien gewann Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia am letzten Wochenende die Regional­wahlen. Die radikale Rechte ist südlich der Alpen weiterhin im Aufwind. Die heutige italienische Premier­ministerin trat schon im letzten Sommer in Spanien an einer Veranstaltung der rechtsradikalen Vox-Partei auf und brüllte ins Mikrofon: «Ja zur natürlichen Familie! Nein zur LGBT-Lobby!»

Im März, also im Vorfeld des Wahlkampfs für die Regional­wahlen, hat die Regierungs­mehrheit im Parlament die Adoptions­rechte von homosexuellen Paaren in Italien stark beschnitten und Leih­mutterschaft rigoros kriminalisiert. Und das nicht nur auf Staatsgebiet, sondern auch – was bisher legal gewesen ist und von den Behörden anerkannt wurde –, wenn italienische Bürgerinnen sich eine Leihmutter im Ausland suchen. Der Schutz nicht nur der «traditionellen», sondern auch der «natürlichen Familie» ist von Meloni zum zentralen politischen Kampf­feld empor­stilisiert worden.

Einen weiteren stupenden Erfolg gefeiert hat die bereits erwähnte Vox-Partei in Spanien, die bei den Regional­wahlen, welche ebenfalls am letzten Wochenende stattgefunden haben, ihren Stimmen­anteil auf 7,2 Prozent hat verdoppeln können. Damit erscheint die radikale Rechtsaussen­formation immer noch verhältnis­mässig klein. Sie könnte nun aber gross genug geworden sein, um dem momentan ebenfalls erfolgreichen, konservativen Partido Popular, der die Regional­wahlen gewonnen hat, nur dann eine Chance auf die Regierungs­mehrheit zu lassen, wenn er mit Vox koaliert.

Das wäre ein dramatischer Paradigmen­wechsel: Noch vor vier Jahren schien es kaum vorstellbar, dass der Partido Popular, die traditionsreiche Mitte-rechts-Partei, sich mit der radikalen Rechten einlassen würde – nicht in Spanien, nicht im Land der Franco-Erblast.

Heute ist das jedoch eine sehr plausible Hypothese, umso mehr, als auf Regional­ebene eine solche Koalition bereits existiert. Und ja, natürlich: Auch bei der radikalen Vox-Partei ist die Anti-LGBTQIA+-Propaganda schon seit Jahren ein zentrales Programm­element.

Es scheint in einer ganzen Reihe von Ländern plötzlich kaum mehr ein dringenderes Problem zu geben, als die «Bedrohung der Familie» durch eine unbedingt zu verhindernde «Agitation» von Vertreterinnen der LGBTQIA+-Community zu unterbinden. Es wird so getan, als fordere die LGBTQIA+-Bewegung nicht das Grund­recht auf sexuelle Selbst­bestimmung, auf Nicht­diskriminierung und auf die Anerkennung der Diversität geschlechtlicher Identitäten, sondern als habe sie einen Feldzug gestartet, um die ganze Welt – und natürlich besonders die Jugend – zu einer queeren Sexualität zu bekehren. Es wird so getan, als sei eine Märchen-Lesestunde mit einer Dragqueen ein pädophiler Verführungs­versuch. Angesichts der realen Lebens- und Macht­verhältnisse in unseren Gesellschaften ist das delirierende politische Paranoia. Warum entfaltet sie globale Wirkungs­macht?

Eine erste Antwort dürfte wohl lauten: genau deshalb, weil sie von allen Realitäten so vollkommen entkoppelt ist. Die Türkei hat mit einer massiven Wirtschafts­krise zu kämpfen, wurde von einer fürchterlichen, schlecht bewältigten Erdbeben­katastrophe getroffen und beherbergt geschätzt 4 Millionen mehrheitlich syrische Flüchtlinge. Das Land wird von einem nur begrenzt als demokratisch zu bezeichnenden Regierungs­system beherrscht und zählt Tausende politische Gefangene. Die blutige Repression gegen die kurdische Minderheit dauert an bis heute.

Die politischen Realitäten in der Türkei von Recep Tayyip Erdoğan, das wird man so sagen dürfen, unterscheiden sich erheblich von der Situation in Italien, Spanien oder in der Schweiz. Dass die Anti-Gender-Stimmungs­mache dennoch so seltsame Konvergenzen der öffentlichen Debatten herbeiführt, lässt deshalb die Hoffnung keimen, dass es sich bis zu einem gewissen Grad um mediale Retorten-Strohfeuer handelt. Um einen neuen «sicheren Wert» der populistischen Rhetorik, inszenierte propagandistische Debatten, die aufflammen, international Schule machen und verrauchen, so wie sie gekommen sind.

Es gibt aber eine zweite Antwort, die weniger ermutigend ist. Die aktive Politisierung von Sexualität, die Mobilisierung gegen sexuelle Minderheiten hatte schon immer enorme politische Zerstörungs­kraft. Das zeigt ein Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Natürlich ist ein Teil der jetzt unter dem Schlagwort «Gender-Politik» diskutierten Fragen ein legitimes Thema der demokratischen Debatte. Die Gleichstellung der Geschlechter und die Auseinander­setzung mit Rollenbildern – um die es am berühmten Stäfner Gender-Tag ja eigentlich gehen sollte – sind seit den 1970er-Jahren ein häufig sehr zäher, aber zentraler gesellschaftlicher Prozess. Er ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, hat aber zu gewaltigen Veränderungen geführt. Diese Debatten werden weitergehen. Man kann eine Auseinander­setzung darüber führen, ob öffentliche Verwaltungen den Genderstern benutzen sollen/dürfen/müssen, selbst wenn es vermutlich weltbewegendere Themen gibt.

Der frontale Angriff auf bestimmte sexuelle Minderheiten ist jedoch etwas völlig anderes. Und das ist, was heute geschieht.

Eine gute Lektüre, um sich mit dem Spreng­potenzial dieser Form von Politik vertraut zu machen, ist zum Beispiel «Sexuality in Europe. A Twentieth-Century History» von Dagmar Herzog (Sexualität in Europa. Eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts). Herzog ist Historikerin an der City University of New York, spezialisiert auf die modernen Wandlungen der Sexual­moral, der Diskurse über Sexualität und der sexuellen Rollen­bilder und Verhaltens­weisen.

Herzog gibt eine von 1900 bis 2010 reichende Übersicht. Sie zeichnet zum Beispiel nach, gegen welche gewaltigen politischen und rechtlichen Widerstände noch in den 1990er-Jahren die allerfundamentalsten Forderungen der Nicht­diskriminierung von Homosexuellen auch im westlichen Europa erkämpft werden mussten (vom südlichen ganz zu schweigen). Und sie stellt dar, wie zentral eine die Diskriminierung auf die Spitze treibende Sexual­moral für die Nazi-Ideologie gewesen ist: Auf der einen Seite stand ein Hassdiskurs gegen eine als monströs und pervers geschilderte «jüdische» Sexualität, der einherging mit dem buchstäblichen Willen zur Ausrottung von Homo­sexuellen. Auf der anderen Seite stand die Bejahung der «arischen» Sexualität, die mit einer alles andere als selbst­verständlichen Freizügigkeit propagiert und gefeiert wurde.

Die Nazis griffen zur Politisierung der Sexualität mit der allerradikalsten Konsequenz: als Mittel zur genozidären Diskriminierung und zur gezielten Erotisierung der Überlegenheit der arischen Rasse. In dieser Bandbreite liegen die Möglichkeiten der sexuellen Identitäts­politik, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Auseinander­setzung zu radikalisieren.

Nein, wir stehen heute nicht an diesem Punkt. Aber die populistische Instrumentalisierung der Genderfrage ist brandgefährlich. Der LGBTQIA+-Diskurs von Wladimir Putin zeigt das mit unübertrefflicher Deutlichkeit. Als Teil der demokratischen Debatten ist er nicht akzeptabel.

Illustration: Alex Solman

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