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Die vielen Farben der Revolution

Beschämend spät öffnet sich der Westen für die Kultur Osteuropas. Und lernt dabei einen alten Bekannten neu kennen: Der Ukrainer Kasimir Malewitsch liess sich von Stalin nicht verein­nahmen und wird heute von Putin­freunden gehasst.

Von Kia Vahland, 14.03.2023

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Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Mehr als drei Jahrzehnte ist das Ende des Kalten Krieges her. Und erst seit einem Jahr, aus Anlass eines realen Krieges Russlands gegen die Ukraine, entdecken auch im Westen viele, wie kulturell divers und eigensinnig die Gesellschaften Osteuropas und der ehemaligen Sowjet­union sind. Und wie falsch es war, ohne Zögern die russische Sicht auf sie zu übernehmen.

Es hat etwas Beschämendes, wie lange es gedauert hat, das althergebrachte russische Hegemonial­streben gegenüber Nachbar­völkern als solches zu erkennen und auch diesen Imperialismus Imperialismus zu nennen.

Beschämend ist das auch deshalb, weil gerade die Linke in Imperialismus­kritik geübt ist, jedenfalls, solange es um die USA oder um die kolonialistische Vergangenheit der europäischen Seemächte geht. Die Fähigkeit zu solcher Selbst­reflexion zeichnet Demokratien aus, rechtfertigt aber keine blinden Flecke der Wahrnehmung. Wladimir Putins Regime hatte sich schon seit mehreren Jahren auf offener Bühne radikalisiert und seinem Land einen bellizistischen Nationalismus verordnet.

Man musste und muss nur die Talkshows im russischen Staats­fernsehen oder die Massen­veranstaltungen in den Stadien verfolgen, um zu wissen, welche Kriegs­treiber hier am Werk sind. In der Fantasie der Propagandistinnen sind die Ukrainer wahlweise «Tiere» oder abtrünnige Russen, die für ihren Verrat mit Bomben und Raketen zu bestrafen sind. Manch einer sieht bereits die rote Fahne wieder über Berlin wehen – warum nicht gleich die russische – oder halluziniert, in 20 bis 30 Jahren würden die Türkei und Russland allein den europäischen Kontinent beherrschen, während Frankreich, Gross­britannien, Deutschland, Italien untergegangen seien (wohl mitgemeint: die Schweiz).

Diesem imperialen Drängen voraus­gegangen waren die Eroberungen des russischen Zaren­reichs im 19. Jahrhundert im Osten und Süden und in der Sowjet­union die Marginalisierung der kleineren Völker. Nicht einmal Kreml­chef Wladimir Iljitsch Lenin selbst konnte die Augen vor der Diskriminierung der Nicht­russen im eigenen Staats­gefüge verschliessen; im Dezember 1922 warnte er einmal davor, dass «wir selbst, sei es auch nur in Kleinigkeiten, in imperialistische Beziehungen zu den unter­drückten Völkerschaften hinein­schlittern und dadurch unsere ganze prinzipielle Aufrichtigkeit, unsere ganze prinzipielle Verteidigung des Kampfes gegen den Imperialismus völlig untergraben».

Der aktuelle Krieg ist angesichts dieser Vorgeschichte auch ein kultureller. Die russischen Besatzer plündern oder vernichten gezielt Museums­sammlungen, Bibliotheken und Archive, verfolgen die Bewahrerinnen ukrainischer Kultur, lassen Kinder entführen, um sie in Russland umzuerziehen, wollen alles genuin Ukrainische aus der Welt schaffen.

Die Ukrainerinnen kämpfen derweil auch auf kulturellem Gebiet um internationale Anerkennung und darum, nicht länger als Unter­gruppe alles Russischen missverstanden zu werden. Sie schützen ihre eigenen Denkmäler mit Sand­säcken, lassen jene aus Sowjet­zeiten hingegen schleifen; ehren ihre Schrift­stellerinnen und Künstler und distanzieren sich von jenen russischen Intellektuellen der Vergangenheit, die mit Dominanz­gebaren aufgefallen sind.

Es ist Aufklärung, die sie dabei leisten, auch für uns Ausländerinnen. So hat die Kunstgeschichte immer von der «Russischen Avantgarde» gesprochen, wenn es um die moderne Kunst aus der Revolutions­zeit ging. Bei genauerem Hinsehen ist das nicht haltbar. Viele Beteiligte waren keine ethnischen Russinnen und verstanden sich nicht als solche. Nicht immer stand für sie die eigene Herkunft im Vorder­grund, schliesslich sahen sich die meisten Protagonisten der Avantgarden als Internationalisten. Doch in der Kunst, auch in der gegenstands­losen, lässt sich nie gänzlich von den eigenen Erfahrungen und sinnlichen Prägungen abstrahieren. Und das hat auch wohl niemand beabsichtigt, im Gegenteil.

Es lohnt ein zweiter Blick. Der Künstler Kasimir Malewitsch sprach zu Hause Ukrainisch, Polnisch und Russisch. Seine Eltern waren als polnische Katholiken nach Kiew geflohen, nachdem russische Truppen 1863 den Januar­aufstand in Polen nieder­geschlagen hatten. So kam er 1879 in der Ukraine zur Welt. Später studierte er an einer Kunst­schule in Moskau. In Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, erregte Malewitsch 1915 Aufsehen mit einer Ausstellung von Abstraktionen; oben in der für Ikonen vorgesehenen Zimmer­ecke prangte sein «Schwarzes Quadrat».

Damit setzte er eine ästhetische Revolution in Gang, noch bevor die politische begann. Und tatsächlich zeigten sich die Bolschewisten zu Beginn ihrer Herrschaft aufgeschlossen gegenüber den Künstlern um Malewitsch, die so leidenschaftlich von der Zukunft sprachen. Gleich nach ihrem Macht­antritt 1917 übertrugen sie dem Maler die Aufsicht über die Kunst­sammlungen des Kreml und andere Positionen im Kultur­apparat.

Kasimir Malewitsch: «Sportsmen» (1928-1932). Mariano Garcia/Alamy

Doch die Liebe hielt nicht. Malewitsch zog sich ins belarussische Witebsk zurück, wo er sich wohl freier fühlte als in den Metropolen. Als Stalin sich durchsetzte, hatte die Avantgarde bald ausgedient. Malewitsch verlor nach und nach seine Stellungen, versuchte vergeblich, nach Deutschland auszuwandern. 1930 wurde er fest­genommen und zwei Wochen lang verhört.

Schliesslich malte er nicht mehr abstrakt – aber auch nicht im propagandistischen Stil des sozialistischen Realismus. «Zukünftler» nannte er seine Figuren nun, kräftige Wesen mit schweren Körpern, von Arbeit gezeichnet. Frauen mit gebeugten Rücken; Bauern ohne Gesichter und Arme auf einem Feld – das, sei es Zufall oder nicht, gelb ist unter blauem Himmel, also die ukrainischen National­farben vorführt. Es scheint, als würden die Männer in diesem um 1932 fertig­gestellten Gemälde in Zwangs­jacken stecken: Malewitschs Kritik an der Zwangs­kollektivierung der Landwirtschaft ist nicht zu übersehen; vielleicht auch schon am Holodomor, der von Stalin erzwungenen Hunger­katastrophe.

Optimistisch dagegen wirkt Malewitschs zwischen 1928 und 1932 entstandenes Gemälde von vier Athleten. Bereit zum Wettkampf stehen sie auf gestreiftem Unter­grund vor niedrigem Horizont und scheinen, obschon so gut wie gesichtslos, die Betrachterinnen anzublicken. Der Sport galt in der jungen Sowjetunion wegen seines dynamischen Charakters als fortschrittlich, und auch Malewitsch zeigt die Männer als fröhlich-bunte Repräsentanten einer neuen Zeit.

Doch mit dem uniformierten Menschen­bild der Stalinzeit haben diese Figuren nichts gemein. Der eine kleidet sich in Schwarz-Rot, der nächste kombiniert wieder Gelb und Blau, der dritte kontrastiert Blau und Rot, der vierte schliesslich trägt einen ganzen Flicken­teppich an Farben zur Schau. Sie haben dieselbe Profession und ein gemeinsames Ziel, nicht aber dasselbe Wesen, denselben Geschmack, wohl auch nicht dieselbe Herkunft. Und sie bilden keine Hierarchie, so wie auch der Vielvölker­staat nicht gleich wieder in ein Oben und ein Unten hätte zerfallen müssen.

Einheit in Vielfalt, so lautet hier das Programm. Die sowjetische Realität war da schon längst eine andere. Zum Lautsprecher der verbrecherischen Stalin­zeit taugte Malewitschs Œuvre nicht. So stellte das Regime die Werke des polnisch­stämmigen Ukrainers nach seinem Tod 1935 bis zur Perestroika nicht mehr aus.

Und heute? Kann sich der putintreue Film­schauspieler Nikolai Burljajew in Russland mit dem Ausruf profilieren: «Die Zeit der ‹schwarzen Quadrate› ist vorbei.»

In der Ukraine aber wissen sie, was sie an Kasimir Malewitsch haben: nicht nur einen Landsmann, sondern auch einen Skeptiker gegenüber autoritären, gleich­machenden und grössen­wahnsinnigen Diktaturen.

Illustration: Alex Solman

Literatur

Evelyn Weiss (Hg.): «Kasimir Malewitsch». DuMont, Köln 1995. 271 Seiten (nur noch antiquarisch erhältlich).

Karl Schlögel: «Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt». C. H. Beck, München 2022. 912 Seiten, ca. 35 Franken.

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