«Bei Kultur geht es auch um die Überwindung von Angst»: Serhij Zhadan, aufgenommen im Jahr 2021. Hanna Hrabarska

«Wir wollen, dass die Welt unseren Schmerz, unser Gerechtigkeits­empfinden, unsere Wut versteht»

Serhij Zhadan hat den Friedenspreis des Deutschen Buch­handels erhalten. Ein Gespräch mit dem ukrainischen Autor und Musiker darüber, wie der Krieg sein Schaffen und die Sprache verändert.

Von Daniel Graf, 25.10.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Es ist der Mittwoch der Frankfurter Buchmesse, vier Tage bevor Serhij Zhadan in der Paulskirche den Friedens­preis des Deutschen Buch­handels bekommt. Seit Tagen schon ist sein Kalender voll durchgetaktet; gerade eben hat er einen Fernseh­termin absolviert. Nun sitzt der ukrainische Schrift­steller und Dichter in der Unseld-Villa im Frankfurter Nordend, wo gleich, wie immer am Frank­furter Buchmesse-Mittwoch, der Kritiker­empfang des Suhrkamp-Verlags beginnt und er vor den Vertreterinnen der deutsch­sprachigen Feuilletons lesen wird.

Zhadan hat Germanistik studiert, übersetzt auch aus dem Deutschen, aber Interviews gibt er derzeit nur auf Ukrainisch. Deshalb sitzt Claudia Dathe neben ihm, seine Übersetzerin, die in diesen Tagen bei zahlreichen Terminen auch seine Dolmetscherin ist. Die Techniker unterbrechen kurz ihren Sound­check für das Republik-Interview, bevor die Gäste kommen.

Herr Zhadan, Sie bekommen den Friedens­preis mitten im Krieg. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Wenn so ein Preis mitten im Krieg verliehen wird, dann hat das auch bestimmte Auswirkungen. Es ist etwas ganz anderes, als wenn ich den Preis im letzten Jahr bekommen hätte. Und es ist klar, dass wir heute nicht einfach über Literatur sprechen können, ohne die Situation im Land in Erwägung zu ziehen und ohne über den Krieg zu sprechen. Jeden Preis, jede Buch­ausgabe, jede Übersetzung, jeden Abend, der veranstaltet wird, nehmen wir wahr als Zeichen der Solidarität mit unserem Land. Das ist für uns sehr wichtig. Und wichtig ist auch, die Möglichkeit zu haben, über all die Fragen und Probleme zu sprechen, die uns bewegen.

Zur Person

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, ist Schriftsteller und Musiker. Er ist Autor zahlreicher Romane und Gedicht­bände; er schreibt auch Song­texte und ist Sänger in verschiedenen Bands. Am 23. Oktober 2022 erhielt er den Friedens­preis des Deutschen Buch­handels. Geehrt wird er «für sein heraus­ragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft», so die Preis­begründung. Seine Dankes­rede können Sie hier nachlesen. Zhadan lebt in Charkiw; am 26. Oktober 2022 tritt er in Zürich auf.

Was bedeutet es Ihnen, dass diese hohe Auszeichnung ein Preis aus Deutschland ist? Das Verhältnis Ukraine – Deutsch­land war in den vergangenen Monaten ja durchaus kompliziert.
Ich würde gerne über den Preis im Kontext des deutsch-ukrainischen Kultur­austausches sprechen. Der Austausch zwischen Deutschland und der Ukraine ist immer gut gewesen, die Beziehungen sind eigentlich eine Erfolgs­geschichte. Dieser Preis ist für mich eine gute Gelegenheit, der deutschen Gesellschaft Danke zu sagen. Und gleichzeitig aber auch dazu aufzurufen, weiter zusammen­zustehen. Denn die ukrainische Gesellschaft braucht die Unter­stützung heute mehr denn je. Der Krieg dauert an, wir können nicht auf ein schnelles Ende hoffen, es stehen uns schwere Monate bevor. Für uns in der Ukraine ist ganz klar: Wir können nicht aufgeben. Wir können uns auch nicht entspannen oder irgendwie locker­lassen. Es wäre sehr wünschenswert, dass all die Menschen, die uns in den letzten acht Monaten unterstützt haben, das auch weiter tun, damit wir die Sache zu Ende bringen können. Damit die Ukraine die Kontrolle über ihr Staats­territorium zurück­erlangen und es einen Neu­aufbau geben kann. Und damit wieder ziviles, friedliches Leben stattfinden kann.

Ein anderer Friedens­preis, der Nobel­preis, ging dieses Jahr an Vertreterinnen und Institutionen aus der Ukraine, Russland und Belarus gemeinsam. Das stiess in der Ukraine auf Kritik und Irritation. Wie bewerten Sie das?
Für mich ist es schwer nachvollziehbar, wie das Nobelpreis­komitee zu dieser Entscheidung gekommen ist. Mir ist in erster Linie wichtig, dass die Ukraine ihren ersten Nobelpreis­träger hat. Ich glaube, dass die ukrainische Organisation, die hier ausgezeichnet wurde, den Preis sehr verdient hat. Und darauf würde ich mich jetzt auch konzentrieren.

Wie sieht derzeit Ihr Alltag in Charkiw aus – abgesehen von Ausnahme­wochen wie dieser?
Das kann man relativ einfach beschreiben. Es herrscht eine tägliche Routine, die in erster Linie aus Kommunikation und Hilfs­lieferungen besteht. Ich verteile Hilfsgüter, organisiere Treffen, treffe Absprachen. Das ist quasi meine reguläre Arbeit. Abends kehren wir alle in unsere Wohnungen zurück, denn ab 22 Uhr ist Sperrstunde. Nachts müssen wir den Beschuss aushalten und durchstehen, denn die Angriffe von russischer Seite finden in der Regel nachts statt. Es ist eine Art doppelte Realität, in der wir leben. Tagsüber ist Charkiw mehr oder weniger eine friedliche Stadt, es scheint die Sonne, es fahren Autos, die Leute sind unterwegs. Und abends dann ziehen sich alle in ihre Verstecke und Unter­künfte zurück, um nicht von dem Beschuss getroffen zu werden. Einerseits geht das normale Leben weiter, Geschäfte, Super­märkte sind geöffnet, der öffentliche Nah­verkehr fährt. Andererseits gibt es selbst im Zentrum von Kiew sehr viele zerstörte Gebäude. Die Stadt ist getroffen, ja, aber sie lebt weiter. Und sie hält an ihrem zivilen Leben fest.

Bei dem, was Sie eben beschrieben haben: Ist da literarisches Schreiben noch relevant?
Natürlich. Manchmal schreibe ich etwas, manchmal mache ich auch von den vorhin beschriebenen Arbeiten eine Pause, um zu Hause zu bleiben. Allerdings steht das Schreiben heute nicht oben auf der Prioritäten­liste, die ehren­amtliche Arbeit ist im Moment viel wichtiger, weil ich weiss, dass es eine Arbeit ist, die wir für die Zukunft tun müssen. Bei all dem halten wir die ganze Zeit das Kultur­leben weiter am Laufen: Kultur­veranstaltungen, Aktionen, Konzerte. In unserem Verständnis ist das auch ein Beitrag für die zukünftige Entwicklung. Es klingt vielleicht paradox, aber heute herrscht in der Front­stadt Charkiw ein intensiveres Kultur­leben als in Kiew. Nicht dass ich eine Konkurrenz zwischen Kiew oder Charkiw aufmachen will, es geht mir einfach nur darum, zu sagen, dass in den Gross­städten ein sehr aktives kulturelles Leben herrscht. Man darf nicht vergessen: Bei Kultur geht es auch um die Überwindung von Angst. Und darum, dass das zivile Leben den Sieg davonträgt.

Gibt es Verse oder bestimmte Geschichten aus der Literatur, die Sie in den vergangenen Monaten besonders begleitet haben?
Ja, natürlich. Wobei ich sagen muss, dass ich in den ersten zwei Monaten überhaupt nichts gelesen habe. Ich konnte mich einfach überhaupt nicht auf einen Text konzentrieren. Ab Mai, Juni hat sich die Situation geändert. Ich konnte wieder lesen und habe gemerkt, wie sehr es mir gefehlt hat. Ich bin einfach ein Mensch der Literatur. Allerdings habe ich nichts Neues gelesen, sondern meine Lieblings­autoren; das, was mir schon immer viel bedeutet hat. Beim Flug hierher war das zum Beispiel ein Buch von Bruno Schulz, ihn lese ich schon seit Monaten. Und diese Lektüren sind mir eine grosse Bereicherung.

Ihr neues Buch, «Himmel über Charkiw», besteht nicht aus literarischen Texten, sondern aus Social-Media-Beiträgen. Ihre Sprache darin ist anders, sie ist härter als in früheren Büchern. Es gibt kaum Zwischen­töne. Sondern eine Sprache, die auch dem Hass oder der Verachtung sehr stark Ausdruck verleiht. Bewirkt dieser Angriffs­krieg eine unvermeidliche Eskalation der Sprache auch bei denen, die sich verteidigen müssen gegen diesen Angriff?
Meiner Meinung nach ja. Und ich glaube, dass die Literatur über diesen Krieg einer ganz anderen Sprache bedarf. Sonst kann ein Schriftsteller überhaupt nichts erklären. Diese Sprache ist eben keine literarische Sprache. Da greift natürlich eine Spezifik von Social Media. Wir haben hier kein Tagebuch vor uns, bei dem man sich am Ende des Tages hinsetzt und seine Gedanken oder das Erlebte zu Papier bringt. Hier gibt es überhaupt keine Distanz zwischen der Realität und dem Geschriebenen; keine emotionale Distanz und auch keine räumliche. Ich habe viele dieser Posts geschrieben, als ich im Auto unterwegs war oder unter direktem Beschuss stand oder wenn wir uns irgendwo unterstellen, verstecken, zurück­ziehen mussten, weil russische Raketen flogen. Und es war wichtig, das festzuhalten und online zu stellen. Man kann natürlich viele Einwände haben gegen die stilistische Ausformulierung der Einträge. Aber als das Buch dann vorbereitet wurde, habe ich die Posts nicht korrigiert. Das kam mir unpassend vor und unangemessen für die Bedingungen, unter denen die Texte entstanden sind. Das ist wirklich ein sehr spezielles Buch.

Wie weit kann man diese Binnen­logik des Krieges überhaupt von aussen nachvollziehen?
Ich glaube, dass das schwer ist. Die Schwierigkeit ist weniger, das Material der Ereignisse zu durchdringen; das Problem ist das fehlende Gefühl, wie sich das anfühlt, da vor Ort zu sein und das alles durchzumachen. Natürlich sind alle Kriege in gewisser Weise universell, und auch die Gefühle, die die Menschen dabei durchleben, sind in gewisser Weise universell: Schmerz, Wut, Verzweiflung, Mut, Glauben. Natürlich haben wir ein grosses kontextuelles Wissen über den Krieg, haben viele Filme gesehen und Romane gelesen. Und es gibt bestimmte Gefühls­muster, deren sich Menschen in bestimmten Situationen bedienen: Wir unter­stützen die Helden, leiden mit den Opfern, verachten die Verräter. Trotzdem spielt sich die persönliche Erfahrung auf einer ganz anderen Ebene ab. Es ist eine andere Form von Empathie und auch eine andere Form von Hass. Das ist etwas, was von aussen eigentlich gar nicht nachvollzogen werden kann. Und natürlich ist diese Erfahrung keinesfalls positiv, sondern negativ und wahrscheinlich sogar traumatisch. Diese Art von Erfahrungen wünscht man niemandem.

Hanna Hrabarska

Sie sagen, man könnte gegen diese Social-Media-Beiträge womöglich stilistische Einwände haben. Vielleicht aber auch moralische Einwände: gegen die Härte dieser Sprache, gegen das drastische Vokabular zum Beispiel, mit dem in Ihren Posts die Russen bezeichnet werden. Gehört das zu den Dingen, die sich einem Verständnis von aussen entziehen?
Für uns in der Ukraine kommt es durchaus vor, dass wir auch die Reaktionen westlicher Intellektueller auf das, was Russland tut, nicht verstehen. Und wir wollen natürlich, dass die Welt unseren Schmerz, unser Gerechtigkeits­empfinden, unsere Wut versteht. Aber wir erwarten nicht, dass die Welt alles immer komplett nachvollziehen kann. Und ich verstehe auch, dass jeder eine eigene Sicht auf die Dinge hat, eine eigene Form von Empathie und Miterleben. Deswegen bin ich der Meinung, die Ukrainer müssen in ihren Gefühlen nicht nur ehrlich sein, sondern auch überzeugend. Wir müssen eine neue, universelle Sprache suchen, die mehr erklären kann und die überzeugend ist.

Ihr Schriftsteller­kollege Artem Chapeye, der an der Front kämpft, sagte vor kurzem in einem Gespräch, er habe anfangs die russischen Invasoren auch «Orks» genannt, wie es in der Ukraine eine verbreitete Rede­weise ist. Damit habe er aber aufgehört, weil er finde, es sei wichtig, die Russen als Menschen wahrzunehmen. Dann sei nämlich auch ihre Verantwortung grösser. Leuchtet Ihnen der Gedanke ein?
Das kommt mir klug vor, ja. Die Russen und wir, wir spiegeln einander in gewisser Weise wider. Wir haben mittlerweile eine sehr expressive Lexik entwickelt, in der wir sie beschreiben, aber umgekehrt trifft das auf sie natürlich auch zu. Für uns Ukrainer untereinander ist unser Vokabular verständlich, und die Russen verstehen ihres, aber es ist klar, dass das, was sich da als sprachliches und emotionales Feld entwickelt hat, von ausserhalb längst nicht für alle akzeptabel ist. Ich denke, die Ukrainer haben durchaus das Recht, zu verlangen, dass die Welt die Russen als Verbrecher bezeichnet, aber eben noch lange nicht das Recht, von der Welt zu erwarten, dass sie sie auch «Orks» nennen. Das ist ein spezieller ukrainischer, emotional aufgeladener und mit bestimmten Assoziationen verbundener Ausdruck. Und natürlich wird sich das wieder ändern. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sich Veränderungen vollziehen, die durch die zeitliche Distanz hervor­gerufen werden. Aber unter den heutigen Bedingungen, wo die Menschen tagtäglich mit dem Tod von Gefallenen, mit dem Tod von Zivilisten konfrontiert sind, können wir nicht von ihnen verlangen, dass sie sich in der Sprache gewisser Höflichkeits­floskeln oder einer bestimmten Normierung bedienen.

Wie viel Hoffnung setzen Sie auf oppositionelle Kräfte in Russland?
Ich habe da keinerlei Illusionen, keine Erwartungen. Ich muss betonen, ich bin kein Politik­wissenschaftler, auch kein Geo­politiker. Aber mir scheint, dass die Russen nicht für Demokratie und nicht für Frieden auf die Strasse gehen, sondern für Brot. Jetzt sehen wir Hundert­tausende Männer, die vor der Teil­mobilmachung fliehen. Sie wenden sich aber nicht gegen den Krieg als solchen, sondern sie wollen einfach nicht daran beteiligt sein.

Glauben Sie, dass diese Entwicklung der Ukraine dennoch helfen kann? Dass das Regime in Russland in Gefahr sein könnte?
Wie könnte uns das jetzt helfen? Das verstehe ich nicht. Nur, dass die Leute nicht eingezogen werden, das ist das Einzige. Sie flüchten jetzt vor einem Staat, den sie mit ihren eigenen Händen aufgebaut haben. Die Menschen in Russland haben acht Monate lang in diesem Krieg gesessen, und es war ihnen eigentlich alles recht. Ich habe leider keine Empathie für die russischen Deserteure, kann keine Empathie aufbringen. Eine andere Sache ist es mit Belarus und den Menschen, die vertrieben wurden, weil sie gegen das Regime protestiert haben. Sie haben demonstriert, sie sind auf die Strasse gegangen, sie haben versucht, etwas zu ändern. Und sie haben ihr Leben riskiert. Sie haben ihr Land verlassen, weil sie eine Niederlage erlitten haben. Die Russen haben keine Niederlage erlitten. Sie haben das Regime, das schon vorher da war und das sie auch in weiten Teilen unterstützt haben. Ich sehe überhaupt keine Veranlassung, sie als Opfer dieses Regimes anzusehen.

Wie hat der Krieg der vergangenen Monate Sie persönlich und Sie als «Menschen der Literatur» verändert?
Für mich hat sich sehr viel geändert. Meine Haltung, meine Wert­massstäbe. Meine Einstellung zu bestimmten Dingen hat sich grundlegend gewandelt. Ich bin ja jetzt auch nicht mehr ganz jung, und die Veränderungen sind für mich natürlich nicht gesund. Sie haben eine sehr starke emotionale Komponente. Meine Haltung gegenüber Dingen, die ich früher als angenehm empfunden habe, hat sich grundsätzlich verändert. Karriere, Wohlstand, materielles Auskommen – das hat alles überhaupt gar keine Bedeutung mehr. Es kann sein, dass du morgen nicht mehr aufstehst. Alles, was ich verdiene, versuche ich heute bestmöglich so einzusetzen, dass es nützt. Es ist viel wichtiger als früher, jemanden zu unterstützen, zu helfen und nützlich zu sein. Und man fängt natürlich auch an, die Zeit mehr zu schätzen.

Was gibt Ihnen in diesen Tagen Zuversicht und Hoffnung?
Die Ukrainer, mit denen ich jeden Tag in Kontakt bin. Weil ich sehe, sie haben Liebe und sie haben Kraft.

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