Aus der Redaktion

Beim Bügeln, im Zug, im Bett – oder gar nicht

Wo sich Verlegerinnen die Republik vorlesen lassen. Und was alles im Hintergrund geschieht, damit Buchstaben eine Stimme bekommen.

Von Lucia Herrmann, 28.12.2022

Vorgelesen von Regula Imboden
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Auf diesen Moment hat Christian F. gewartet. Es ist kurz vor Mittag, und endlich kann er auf «Hören» drücken. Das hätte er zwar schon früher tun können. Theoretisch. Aber sein Hörerlebnis wäre ein ganz anderes gewesen. Er kann sie nämlich nicht leiden, diese synthetische Stimme, die seit März in der App die Texte vorliest. Seit einigen Wochen hat sie aber nur noch bis Mittag etwas zu sagen. Dann übernehmen jeweils Menschen. Und das, was er nun hört, das empfindet er als «wahre Ohren­weide». Die Republik vorgelesen von echten Menschen.

Nicht nur schön anzuhören, praktisch sei es auch: «Ich bin tagsüber oft zu Fuss unterwegs, jetzt kann ich die Republik-Artikel über meine Ohrstöpsel reinziehen», schreibt er. Und er ist nicht der Einzige, der uns auf die Frage «Wo hören Sie die Republik?» bereitwillig Auskunft gegeben hat. Zu Ihren Alltags­geschichten gleich mehr.

Aber lassen Sie uns kurz etwas Grund­sätzliches klären: Warum müssen sich Verleger wie Christian F. morgens jeweils in Geduld üben?

Vom Magazin in die Ohrstöpsel

Es ist kurz vor neun Uhr, als Miriam Japp an der Sihlhallen­strasse ankommt. Sie schiebt ihr Velo durchs Tor, quetscht es zwischen die anderen Räder in den überfüllten Ständer und betritt das kleine, unscheinbare Gebäude im Hinterhof. Im Erdgeschoss einmal den kurzen Gang entlang und sie ist da, wo sie gebraucht wird. Oder genauer: ihr Talent, Texte vorzulesen. Japp ist Sprecherin und gehört zum neuen Sprecher­pool der Republik. Und hier, wo bis vor wenigen Jahren noch Hotelgäste nächtigten, ein Kabäuschen mit grauen Wänden, ist nun das Tonstudio.

Ich will es genauer wissen: Wem gehören die Stimmen?

Der Sprecherinnen­pool der Republik setzt sich aus acht Personen zusammen, vier Frauen und vier Männern: Dominique Barth, Danny Exnar, Egon Fässler, Jonas Gygax, Regula Imboden, Miriam Japp, Magdalena Neuhaus und Jonas Rüegg Caputo.

Die acht wechseln sich untereinander ab. Wer welchen Beitrag liest, hängt nicht vom Inhalt der Texte ab, sondern lediglich vom Publikations­datum. Mit anderen Worten: Eine Sprecherin ist für bestimmte Tage im Monat zuständig und liest dann alle an diesem Tag publizierten Beiträge ein. Da die Sprecher Profis in ihrem Fach sind, gelten sie als Generalisten und sind nicht auf eine Rubrik spezialisiert.

Miriam Japp setzt sich, vor ihr auf dem Bildschirm öffnet sie den Republik-Beitrag, den sie gleich vorlesen wird, und das Audio­programm, das dabei ihre Stimme aufzeichnet. Jetzt noch die Kopfhörer aufsetzen, einen Schluck Wasser trinken, das Mikrofon justieren, einmal mit ein paar Worten testen, ob die Lautstärke stimmt oder noch am Regler nach­gepegelt werden muss – und dann gehts los.

Den Text hat sie bereits am Vorabend erhalten und quergelesen. Sie weiss, worum es geht. Sie kennt die Dramaturgie der Geschichte, weiss, wo die Pointen liegen, an welchen Stellen der Autor ausschweift und wo sie als Vorleserin im Tempo dranbleiben muss, damit es beim Zuhören später nicht langweilig oder holperig klingt. Sie hat sich uneindeutige Eigen­namen und Fremd­wörter rausgeschrieben und vielleicht sogar eine kleine Nach­forschung unternommen, um definitiv zu klären, wie ein bestimmter Begriff korrekt ausgesprochen wird.

Und trotzdem kann es sein, dass sich Miriam Japp verspricht. Dass ihr ein Wort nicht so über die Lippen kommt, wie sie es möchte. Dass sie im Lesefluss eine falsche Zeitform anwendet, die so nicht im Text steht. Oder dass sie den falschen Nebensatz betont. Das ist die eigentliche Kunst: den passenden Sprach­rhythmus zu finden. Also zu verstehen, was die Autorin erzählen will und wie. Oft wird das erst beim lauten Lesen klar. Deshalb hört Japp beim Einlesen ihrer eigenen Stimme aufmerksam zu und unterbricht, wenn es sich falsch anhört. Dann spult sie zurück, startet die Aufnahme erneut und «überspricht» die Stelle.

Wenn die Aufnahme fertig ist, geht sie weiter an die Audio­produktion. Dort hört sich Patrick Venetz alles noch einmal an. Er sucht nach Fehlern, überprüft, ob die Länge der Pausen stimmt, putzt störende Geräusche aus der Datei. Dann versieht er die Aufnahme mit einem vertonten Erkennungs­merkmal (dem Jingle), wandelt alles ins richtige Format um, beschriftet es, fügt ein Bild hinzu, lädt es an die richtige Stelle, verlinkt das Profil der Sprecherin und drückt auf «publizieren».

Das ist der Moment, in dem Verleger Christian F. mit gutem Gefühl die Kopfhörer in die Ohren stöpseln und loslaufen kann.

Wo Sie sich die Republik vorlesen lassen

Während Christian F. einen Spaziergang macht, steigt Susann G. in den Zug. Sie nimmt «Entsetzliches über die Polizeigewalt mit Gummischrot zur Kenntnis». Neben ihr, vor dem Fenster, zieht das Mittelland vorbei. Ein paar Stunden später sitzt Alessandra A. im Auto und freut sich, dass ihr ein vorgelesener Republik-Beitrag die Pendelzeit verkürzt. Das denkt auch Christine T., als sie sich auf ihr Velo schwingt und von der Arbeit heimwärts radelt.

Barbara E. trägt ungern Kopfhörer, deshalb hört sie die Republik nur zu Hause. Zum Beispiel, wenn sie alleine etwas isst. Oder wenn sie mal die Beine hochlegen und die Augen schliessen möchte. Als Franziska L.-S. Anfang Dezember mit einer Grippe im Bett lag, fand sie es sehr praktisch, dass ihr jemand das Lesen abnahm und sie bloss zuzuhören brauchte. Einen Artikel kann man übrigens auch gemeinsam hören, so wie Massimo M. und seine Frau, die zusammen hörend am Küchentisch sitzen.

Viele Verleger sind beim Zuhören in Bewegung. Sie verknüpfen das Angebot mit mehr oder weniger spassigen Betätigungen – wie kochen, frühstücken, abwaschen, malen, Wäsche auf- und abhängen, bügeln, putzen, aufräumen, joggen, stricken oder einkaufen.

Lesen, hören oder beides

Vielleicht erkennen Sie sich im Alltag der einen oder anderen Person wieder. Oder aber es geht Ihnen wie Rolf W., der mit dem ganzen Hörangebot rein gar nichts anfangen kann und schreibt: «Ich lese, und zwar 100 %.»

Unsere nicht repräsentative Mini-Umfrage nach knapp zwei Monaten «Vorgelesen» hat jedenfalls gezeigt: In der Republik-Community gibt es Audiofans (die wir im Haus sehr zugetan auch «Hörspatzen» nennen), reine Lesetypen («Leseratten») und Gelegenheits­hörerinnen.

Und interessanter­weise auch Verleger, die beide Angebote kombinieren, wie Tom G.:

Gerade in letzter Zeit habe ich mir immer häufiger die Republik vorlesen lassen und dabei den Text mitgelesen. Ich weiss, ganz objektiv gesehen macht das überhaupt keinen Sinn. Denn mein Lesetempo ist so deutlich langsamer. Gleichzeitig motiviert mich das aber, Texte zu lesen/hören, die ich nicht als reinen Text konsumiert hätte. Entweder, weil das Thema auf den ersten Blick sperrig wirkt oder die Lesezeit vielleicht zu lang. Am Ende bin ich aber fast immer froh, dass ich den Beitrag dann doch geöffnet habe. Insofern macht die gesprochene Republik die Beiträge für mich auf jeden Fall zugänglicher.

Wir freuen uns, dass das Angebot (jedenfalls für einige von Ihnen) bestehende Gewohnheiten ergänzt und neue Gewohnheiten schafft. Und wenn Sie sich bis jetzt noch nie einen Beitrag angehört haben, dann probieren Sie es zwischen den Jahren vielleicht einmal aus?

Für alle Audiofans, denen es wie Christian F. geht und die sich die tägliche Wartezeit verkürzen möchten: In den letzten Wochen haben unsere Sprecher zusätzlich eine Reihe von zeitlosen Republik-Geschichten für Sie eingesprochen. Die kuratierte Auswahl finden Sie auf der Seite «Vorgelesen».

Hören Sie rein, wann und wo auch immer es für Sie passt.

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