Auszeichnung mit Makel

Für ihr heraus­ragendes literarisches Werk erhält die französische Autorin Annie Ernaux diese Woche den Nobel­preis. Doch ihr politisches Engagement wirft heikle Fragen auf.

Von Daniel Graf, 06.12.2022, Update: 8.30 Uhr

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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In Annie Ernaux’ politischem Engagement fehlt das, was ihr literarisches Schaffen auszeichnet. Jean-Luc Bertini/Pasco & Co

Einen kurzen Moment lang sah es so aus, als hätte das Nobelpreis­komitee mit seiner Wahl einhellige Begeisterung ausgelöst. Schon in den vergangenen Jahren hatte Annie Ernaux immer wieder als Favoritin gegolten. Als bekannt wurde, dass die Auszeichnung in diesem Jahr tatsächlich an die französische Prosa­autorin gehen würde, herrschte zunächst allent­halben Jubel.

Zwar musste man bedauern, dass der eben­falls hoch gehandelte Salman Rushdie leer ausging, für dessen Auszeichnung es dieses Jahr auch dringlichen aktuellen Anlass gegeben hätte. Dennoch schien der Preis für Annie Ernaux folge­richtig.

Mit ihrer neuen Art des auto­biografischen Schreibens, der sogenannten Auto­fiktion, hat sie den wirkmächtigsten Trend der Gegenwarts­literatur bereits in den 70er- und 80er-Jahren begründet – selten wird die Popularisierung einer literarischen Strömung so massgeblich einer einzelnen Pionierin zugerechnet wie in diesem Fall. Ernaux gilt auch als Vorreiterin einer neuen klassen­bewussten Literatur. Sie leistet für die Erzähl­prosa, was Pierre Bourdieu soziologisch ausbuch­stabierte: die Analyse einer Gesellschaft der feinen Unter­schiede. Zudem ist Ernaux mit ihren schonungslos auto­biografischen Texten zu einer feministischen Ikone geworden und in der langen Liste französischer Literatur­nobelpreis­träger endlich die erste Frau.

Es sah also nach einer exzellenten Wahl aus. Allerdings war die vermeintliche Evidenz des Entscheides schon nach wenigen Stunden wieder infrage gestellt. Dann nämlich ging ein Artikel der «Jerusalem Post» um die Welt, der darauf hinwies, dass Annie Ernaux mehrere anti­israelische Petitionen und Boykott­aufrufe unterzeichnet hat, die der hoch umstrittenen BDS-Bewegung («Boycott, Divestment, Sanctions») nahe­stehen: einen Boykott­aufruf gegen das französisch-israelische Kultur­festival «Saison France-Israël» 2018; einen Aufruf zum Boykott des Euro­vision Song Contest in Tel Aviv 2019; einen Appell für die Haft­entlassung des libanesischen Links­terroristen Georges Abdallah und einen sogenannten «Brief gegen die Apartheid» in «Unter­stützung des palästinensischen Kampfes für die Dekolonisation».

Anders als in Frank­reich war dieses politische Engagement von Ernaux im deutsch­sprachigen Raum bis zum Artikel der «Jerusalem Post» offenbar so gut wie niemandem bekannt (auch dem Republik-Feuilleton nicht). Nun jedoch lag plötzlich ein dunkler Schatten auf der Nobelpreis­entscheidung und Annie Ernaux.

Seither wird heftig über Ernaux’ Haltung, nicht nur zu Israel, diskutiert; es stehen gar Antisemitismus-Vorwürfe im Raum. Hat das Nobel­komitee womöglich eine literarisch brillante, aber politisch und moralisch fragwürdig agierende Autorin gewählt?

«Klinische Schärfe»

Annie Ernaux, so hat die Jury ihre Wahl begründet, werde ausgezeichnet «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, die Entfremdungen und die kollektive Einbettung von persönlicher Erinnerung offenlegt». Das ist eine etwas inkonsistent formulierte, in der Sache aber absolut treffende Beschreibung: Die Erinnerung im Spannungs­feld von kollektiven und individuellen Prozessen ist über eine Schaffens­zeit von fünfzig Jahren hinweg das zentrale Moment im Werk der heute 82-Jährigen. Zwanzig aus der eigenen Bio­grafie geschöpfte Bücher sind auf diese Weise bisher entstanden – die meisten davon kurze, verdichtete Texte mit einer Seiten­zahl deutlich unterhalb der durch­schnittlichen Roman­länge.

Ernaux’ literarisches Verfahren lässt sich vielleicht am prägnantesten an dem Buch «Die Jahre» ablesen, mit dessen Übersetzung von Sonja Finck 2017 auch die späte (Wieder-)Entdeckung von Annie Ernaux im deutsch­sprachigen Raum einsetzte.

Es beginnt und endet mit einer langen, eindringlichen Liste von Erinnerungs­partikeln: Versatz­stücke eines persönlichen Lebens­weges, vor allem aber auch Bruch­stücke aus der kollektiven Erinnerung. Filme, Songs, die typischen Redens­arten einer bestimmten Zeit; die Stars und Promis, die Alltags­gegenstände, Marken­namen und Produkte der jeweiligen Epoche werden ebenso aufgerufen wie welt­politische Ereignisse und die öffentlichen Reaktionen darauf.

«Die Jahre» ist eine «unpersönliche Auto­biografie». So nennt der Text es selbst mit einem scheinbar paradoxen Ausdruck. Das Zentral­wort im französischen Original ist das Pronomen on, das gar keine echte deutsche Entsprechung hat, weil es zwischen «man» und «wir» oszilliert. Das Individuelle und das Typische: Beides ist bei Ernaux unauf­löslich ineinander verschränkt. Die ureigene, literarisch stilisierte Lebens­geschichte, die sich über die verschiedenen Bücher hinweg mosaik­artig zusammen­setzt, ist bei Ernaux immer zugleich auch eine repräsentative, sie spiegelt kollektive und über­zeitliche Erfahrungen, die das hohe identifikatorische Poten­zial ihrer Texte ausmachen – was mit Sicher­heit eine wesentliche Erklärung für den internationalen Erfolg dieser Prosa ist.

Die Herkunft aus einer sogenannt bildungs­fernen Arbeiter­familie; die Hürden und Möglich­keiten des sozialen Aufstiegs; die nach wie vor wirksamen klassistischen Ausschluss­mechanismen; die – einmal auch titelgebende – Scham der Bildungs­aufsteigerin, die sich von ihrer sozialen Herkunft entfremdet hat und der zugleich der Habitus der höheren Klassen fremd bleibt: All das hat Annie Ernaux mit der sprich­wörtlich gewordenen «klinischen Schärfe» literarisch eingefangen. Ihr Ton dabei: nüchtern, unsentimental, ja geradezu unerbittlich gegen­über sich selbst, zum Teil auch schonungslos gegen die eigenen Angehörigen.

Ihr vor kurzem auf Deutsch erschienenes Buch «Das andere Mädchen» handelt von einem beschwiegenen inner­familiären Trauma, von dem Annie, die Erzählerin, als 10-Jährige nur durch Zufall erfährt: Vor ihr hatten ihre Eltern bereits eine Tochter, die mit sechs Jahren an Diphtherie verstorben war. Ausgehend von einer Hand­voll Fotos schreibt Ernaux’ auto­fiktionale Erzählerin Jahr­zehnte später einen Brief an die Schwester, die nie eine sein konnte, weil sie «als Tote in mein Leben» kam, und sie erkundet ihr eigenes, lebenslang konflikt­haftes Verhältnis zur Mutter.

Deren Lebens­geschichte wiederum erzählt das Buch «Eine Frau», «Der Platz» die des Vaters; beide Bücher setzen ein mit dem Tod und münden in eine Sozial­studie der elterlichen Biografien. «Keine Erinnerungs­poesie, kein spöttisches Auftrumpfen», so beschreibt die Erzähl­stimme ihren selbst­gegebenen Auftrag; viel­mehr dominiert der «sachliche Tonfall», mit dem sie früher den Eltern in Briefen von Neuig­keiten berichtet habe.

Aufgrund des konsequent auto­fiktionalen Zugriffs bilden Erfahrungen aus spezifisch weiblicher Perspektive die zweite grosse Konstante im Werk von Ernaux. «Erinnerung eines Mädchens» handelt von sexualisierter Gewalt und Miso­gynie, «Das Ereignis» umkreist eine lange zurück­liegende Abtreibung. Aber Ernaux’ Bücher thematisieren auch weibliches Begehren und erzählen von der Rebellion gegen Gender­klischees und Konventionen. Mitte Januar erscheint «Der junge Mann» auf Deutsch, ein Buch, das auf nicht einmal 50 Seiten von der Beziehung einer älteren Frau mit einem deutlich jüngeren Mann erzählt, eine Erzählung über sexuelle Leiden­schaft und die sanktionierenden Moral­vorstellungen der Gesell­schaft – es geht bei Ernaux letztlich immer auch um soziale Normen und Zwänge.

Als écriture plate bezeichnet die Autorin selbst ihre literarische Technik, als «flaches Schreiben» also. Damit ist das Typologische ihrer Figuren­zeichnungen erfasst und ihre Zurück­haltung gegenüber jeder Form von sprachlicher Ausschmückung und rhetorischer Aufplusterei. Jedoch – das ist mit Blick auf die aktuelle Debatte wichtig – sollte man sich darunter keineswegs eine ober­flächliche, protokollhaft-tempo­reiche Schreib­weise vorstellen.

Die Tiefe liegt bei Ernaux in der Eindringlich­keit des soziologischen Blicks, in der präzisen Erfassung psychischer Vorgänge, in der Fähigkeit, ganze Lebens­themen in einer komprimierten Szene aufscheinen zu lassen. Und dann, wenn eine kurze Handlungs­sequenz vermeintlich schon alles anschaulich vor Augen geführt hat, kommt ein reflexiver, einordnender Satz des zurück­blickenden Ichs, in dem sich noch einmal alles verdichtet: «Er entriss mich meiner Generation, aber ich gehörte nicht zu seiner», heisst es etwa in «Der junge Mann» – ein typischer Ernaux-Satz, den man nicht als blosse selbst­interpretative Zusammen­fassung empfindet, sondern der den Fokus auf das gegen­wärtige Ich mit seiner erinnernden Selbst­durch­leuchtung lenkt.

Auch das ist zentral: Ernaux’ Schreiben hat immer eine selbst­referenzielle Dimension. Der Vorgang des Erinnerns mit all seinen Schwierig­keiten und Effekten wird selbst zum Thema. Und wo Ernaux etwa das eigene studentische Milieu um 68 herum in Erinnerung ruft, herrscht nicht Verklärung, sondern im Gegen­teil: eine reflexive, teilweise ironische Distanz zum theoretischen Denken, zum Habitus und zu den Gesetz­mässigkeiten in der eigenen Bubble von damals.

Nichts auf der Welt durfte uns fremd sein, weder das Schicksal der Ozeane noch der Mädchen­mord in Bruay-en-Artois, man musste zu allem eine Meinung haben, zu Allende in Chile, zu Kuba, Vietnam und zur Tschecho­slowakei. Man verglich die Systeme und suchte nach Vorbildern. Die Lesart der Welt war durch und durch politisch. Das wichtigste Wort war «Befreiung».

Jeder, ob intellektuell oder nicht, durfte sprechen und wurde gehört, solange er nur einer benachteiligten Gruppe angehörte. Als Frau, Homo­sexueller, Arbeiter­kind, Gefangener, Bauer oder Berg­arbeiter hatte man das Recht, «ich» zu sagen und von seinen Erfahrungen zu berichten. Man dachte am liebsten in Kollektiv­kategorien. Irgendwer schwang sich immer spontan zum Sprach­rohr der Unterdrückten, Prostituierten oder streikenden Arbeiter auf.

Aus: Annie Ernaux, «Die Jahre».

Frappierend ist nun vor dem Hinter­grund des aktuellen Streits um Ernaux, wie sehr in ihrem politischen Engagement all das abwesend scheint: selbst­reflexive Distanz; Skepsis gegenüber Gemein­plätzen und unhinterfragten Dogmen; selbst­ständiges Denken statt intellektueller Herden­trieb.

Haarsträubende Einseitigkeit

Annie Ernaux, das gilt für ihr gesamtes Werk und Auftreten, ist eine politische Autorin, die mit der Kompromiss­losigkeit ihrer Literatur ein breites Publikum weit hinaus über die abgegrenzten Parzellen der sogenannten Hoch­literatur erreicht. Sie ist länder- und milieu­übergreifend zu einer Identifikations­figur geworden und zu einer Künstlerin, die sich dem Einsatz für die Marginalisierten und Unter­privilegierten verschreibt.

Man kann deshalb nicht einfach einen kategorischen Trenn­strich zwischen ihrem Werk und ihrem politischen Engagement ziehen. Wenn Ernaux Petitionen unter­zeichnet, dann zeigt bereits die Form der Unter­schrift den Status eines solchen Statements an: «Annie Ernaux, écrivaine» – Annie Ernaux, Schrift­stellerin. Ernaux unterschreibt als die international bekannte Literatin, die sie ist und als die sie wahr­genommen wird.

Und wer nun die Petitionen zu Israel, Palästina und dem Nahost-Konflikt liest, die sie, ohne sich weiter dazu zu äussern, unterstützt hat, wird womöglich mit Schrecken und Ernüchterung feststellen (so jedenfalls ging es mir): Vom «sachlichen Tonfall», dem sie sich in der Literatur verpflichtet fühlt, und von der sensiblen Beobachtungs­gabe, die ihre auto­biografischen Vermessungen kennzeichnet, ist in diesen Dokumenten herzlich wenig zu spüren. Vielmehr herrscht haar­sträubende Einseitig­keit. Hier ist nichts verdichtet – sondern bloss fahr­lässig verkürzt.

Die offenen Briefe und BDS-nahen Boykott­aufrufe, auf die der Artikel der «Jerusalem Post» aufmerksam gemacht hatte, sind nicht die einzigen, die Ernaux in diesem Zusammen­hang unterzeichnet hat. Auch eine Verteidigung der hoch umstrittenen algerisch-französischen Aktivistin Houria Bouteldja gehört dazu, die sich unter anderem zu dem Satz verstiegen hatte: «Man kann nicht unschuldig Israeli sein.» All diese Petitionen, die teilweise viele hundert Unter­zeichnerinnen haben, stehen im Kontext einer Strömung in der äussersten politischen Linken, deren Vertreter aus post­kolonialer Theorie und anti­rassistischem Engagement eine offenbar bedingungs­lose Solidarität mit den Palästinen­serinnen ableiten wollen.

Nun ist es vollkommen legitim und geboten, für die Rechte der Palästinenser einzutreten. Wer die Menschen­rechte hoch­hält, muss sie immer und überall verteidigen. Kritik, auch harsche (und vielleicht sogar überzogene), gegenüber konkreten staatlichen, militärischen oder polizeilichen Handlungen und gesellschaftlichen Verhält­nissen ist ein Grund­pfeiler der Demokratie. Selbst­verständlich ist solche Kritik auch mit Blick auf Israel notwendig, und sie wird, etwa mit Bezug auf Militär­einsätze, Massnahmen der Siedlungs­politik oder Verstösse gegen Gleichbehandlungs­grundsätze, international auch kontinuierlich geäussert.

Das Problem an den von Ernaux unterzeichneten Aufrufen, zumal in ihrer Summe, aber ist: Sie zeichnen von einem hoch­komplexen Konflikt ein völlig einseitiges und tendenziöses Bild – um es vorsichtig zu sagen. Kultiviert wird darin ein Schwarz-Weiss-Denken, in dem die einen die Täter, die anderen die Opfer sind.

Der Staat Israel kommt in dieser Darstellung ausschliesslich als Kolonial­macht und Apartheid­regime vor – ein Label, das man mit guten Gründen als Diffamierung betrachten kann. Zu palästinensischen Anschlägen oder Raketen auf Israel oder davon, dass radikal­islamistische Terror­organisationen wie die palästinensische Hamas oder die vom Iran finanzierte Hizbollah bis heute in einem gewaltsamen Konflikt mit dem Staat Israel sind und sein Existenz­recht bestreiten – darüber verlieren die Petitionen kein Wort.

Im sogenannten «Brief gegen die Apart­heid» heisst es gar: «Israël est la puissance colonisatrice. La Palestine est colonisée. Il ne s’agit pas d’un conflit, mais bien d’un apartheid.» Israel also sei die Kolonial­macht, Palästina werde kolonisiert; es handle sich nicht um einen Konflikt, sondern um Apartheid. Im Klar­text: Es gebe eigentlich gar keine Auseinander­setzung, nur die eine Seite, also Israel, sei halt ein Aggressor.

Ihr Ton als Autorin: Nüchtern und unsenti­mental. Ganz anders tönen die von Ernaux unterzeichneten Petitionen. Jean-Luc Bertini/Pasco & Co

In vielfacher Nennung werden die Reizwörter «Apartheid» und «Kolonialisierung» wieder­holt, ohne dass an irgendeiner Stelle die Begriffe historisch reflektiert, problematisiert würden oder nach der Angemessen­heit der Vergleiche gefragt würde, die damit in den Raum gestellt werden. Wie in der BDS-Bewegung weit­verbreitet, wird Israel in diesen Aufrufen mal explizit, mal implizit mit dem Südafrika der Apart­heid auf eine Stufe gestellt.

Dass jedoch durch solche Analogien fundamentale Unter­schiede unter­schlagen werden, hat die Politik­wissenschaftlerin Saba-Nur Cheema kürzlich im Rahmen eines insgesamt sehr erhellenden, aktuelle Streit­fragen vielstimmig diskutierenden Buches ausgeführt: «Im Süd­afrika der Apartheid durften Schwarze keine Liebes­beziehungen zu Weissen eingehen, keine Universitäten besuchen, kaum politische Mandate tragen, nur in bestimmten Gebieten wohnen etc.» Die weisse Vorherr­schaft der südafrikanischen Apart­heid, so kann man etwa bei Hanno Plass nachlesen, basierte auf einer rassistischen Einteilung der Bevölkerung in die Kategorien «weiss», «coloured», «indisch» und «schwarz», an die jeweils unter­schiedliche Rechte geknüpft waren; der ökonomische Erfolg der weissen Bevölkerung war auf der Ausbeutung der Arbeits­kraft von Schwarzen gegründet.

In Israel hingegen haben arabische Israelis dieselben Bürger­rechte wie jüdische, die arabische Minder­heit ist im Parlament (und bis vor kurzem als Partei in der Regierung) vertreten, es gibt wort­mächtige linke Kritik und Solidaritäts­initiativen von jüdischen Israelis – die Petitionen beziehen sich teilweise selbst darauf.

Eine Parallele zum süd­afrikanischen Apartheid­regime kann man zwar darin erblicken, dass die palästinensischen Bewohne­rinnen der besetzten Gebiete gegenüber den israelischen Siedlern rechtlich schlechter­gestellt sind, seit Jahr­zehnten unter der Besatzung und der damit einher­gehenden Militär­administration und mit systematischen Einschränkungen ihrer Bewegungs­freiheit leben müssen. Dieser Zustand wird umso untragbarer, je länger er andauert und je mehr die Aussichten auf eine Zweistaaten- oder eine andere Friedens­lösung schwinden.

Die Gleich­setzung Israels mit dem Südafrika der Apart­heid oder Apartheid­labels ohne jede Begriffs­reflexion sind dennoch hoch problematische Verkürzungen, deren propagandis­tischer Einsatz nur die Fronten weiter verhärtet. Innerhalb der europäischen Diskussion finden sie zudem vor einem gesellschaftlichen Hinter­grund statt, wo die jeweils neuen Eskalationen im Nahost-Konflikt regelmässig neue Wellen von Antisemitismus auslösen beziehungs­weise längst vorhandene Ressentiments zutage fördern.

Insgesamt ist das in den Aufrufen gezeichnete Bild von der Wirklichkeit so radikal selektiv, dass es nicht verwundern kann, wenn Menschen darin eine Dämonisierung Israels erkennen.

Zu einem voll­ständigeren Bild in der aktuellen Debatte um Annie Ernaux gehört aber auch, was in der Bericht­erstattung dazu meist ausgeblendet wurde: dass zwei der Petitionen – der «Brief gegen die Apartheid» und das Statement zu Bouteldja – sich explizit gegen «Antisemitismus und sämtliche Formen des Hasses» positionieren und ihren Stand­punkt dagegen abgegrenzt verstanden wissen wollen.

Was heisst das alles für Annie Ernaux, ihr literarisches Werk und die Debatte im Vorfeld der Nobelpreis­verleihung?

Gefährliche Unschärfe

Hier ist zuallererst noch einmal fest­zuhalten: Antisemitische oder israel­feindliche Äusserungen von Annie Ernaux sind nicht bekannt. In ihrem Werk, da sind sich offenbar auch ihre Kritikerinnen einig, gibt es keinerlei Hinweise auf eine juden­feindliche Position. Eher im Gegen­teil. «Die Jahre» (orig. 2008), das Buch, das am Anfang ihrer Wieder­entdeckung im deutsch­sprachigen Raum stand, enthält mehrere Passagen, in denen das hart­näckige Verdrängen der Shoah nach 1945 kritisiert und angeprangert wird, dass die (französische) Gesell­schaft «dem Völker­mord an den Juden» jahrzehnte­lang «gleichgültig gegenüber­gestanden» hat:

Niemand sprach über die Konzentrations­lager, und wenn, dann nur in einem Neben­satz, irgendjemand hatte seine Eltern in Buchen­wald verloren, und dann folgte betretenes Schweigen. Das war zu einem privaten Unglück geworden.

So war weder von den jüdischen Kindern die Rede, die in Zügen nach Auschwitz transportiert worden waren, noch von den Hunger­toten, die jeden Morgen im Warschauer Ghetto von der Strasse gesammelt wurden, noch von den 10’000 Grad Celsius in Hiroshima.

Das alles ist punktuell und sprung­haft, eine Kritik an einer mangel­haften Erinnerungs­kultur, die selbst nicht allzu viel Tief­gang und historische Genauig­keit aufweist. Aber an das hartnäckige Vergessen und Verdrängen der Shoah zu erinnern, ist in Zeiten von Geschichts­vergessenheit und immer wieder aufkommender Schluss­strich­debatten nicht die unwichtigste Bot­schaft. Von Antisemiten sind da andere Töne zu hören.

Wer Annie Ernaux nicht vorschnell zur Antisemitin stempeln will, sollte jedenfalls selbst mehr argumentative Genauig­keit und sprachliches Problem­bewusstsein an den Tag legen als die genannten Petitionen – in dem prinzipiellen Bewusst­sein, dass auch ein ungerecht­fertigter Antisemitismus-Vorwurf eine verbale Aggression wäre.

Allerdings bleibt bestehen: Mit ihrem von ihr selbst nicht weiter kommentierten Unterschrifts­aktivismus hat sich Annie Ernaux in einen Bereich begeben, wo sich legitime Kritik, Israel-Feindlichkeit und Antisemitismus in fliessenden Übergängen vermischen und die Abgrenzung notorisch schwierig ist, auch was die jeweiligen Motive der einzelnen Unterzeichner betrifft. Wenn Ernaux ein Interesse daran hat, dieser gefährlichen Unschärfe Klar­heit über ihre Positionen und Beweg­gründe entgegen­zusetzen, täte sie gut daran, sich zu erklären. Die Nobelpreis­rede, die sie nun am 7. Dezember halten wird, wäre dafür die passende Gelegen­heit. Ihrem herausragenden literarischen Werk jeden­falls wäre zu wünschen, dass es nicht dauerhaft ins Zwielicht eines politisch und ethisch frag­würdigen Engagements gerät.

Wir haben die Kritik an Menschenrechts­verletzungen nachträglich um den Punkt «Verstösse gegen Gleichbehandlungs­grundsätze» ergänzt.

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