Der Angriff

Drei Jahrzehnte nach Khomeinis Fatwa attackiert ein Mann Salman Rushdie bei einer Lesung mit einem Messer und bringt ihm lebens­gefährliche Verletzungen bei. Eine Einordnung.

Von Daniel Graf, 17.08.2022

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Synthetische Stimme
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Der Künstler, der den dogmatischen, hasserfüllten, mörderischen Fanatikern den Spiegel vorhält: Salman Rushdie. Copyright Werner Pawlok

Natürlich kann man jetzt «Die satanischen Verse» oder andere Romane von Salman Rushdie (wieder-)lesen; Rushdie lesen lohnt sich immer. Nur sollte man nicht denken, dass darin Erklärungen für das schreckliche Attentat vom vergangenen Freitag zu finden wären, das allem Anschein nach eine späte Reaktion auf die Fatwa von 1989 war, die das damalige iranische Oberhaupt Ayatollah Khomeini erlassen hatte. Denn es geht hier nicht um literarische Fragen (zumal fragwürdig ist, ob Khomeini Rushdies Buch je gelesen hat). Es geht um potenziell mörderischen religiösen Fanatismus.

Eigentlich hatte Salman Rushdie am Freitag in Chautauqua im US-Bundesstaat New York im Rahmen einer dortigen Veranstaltungs­reihe über die USA als Zufluchtsort für exilierte Autoren sprechen sollen. Während der Veranstaltung, vor 2500 Zuhörerinnen, wurde er von einem vermummten Mann angegriffen und lebens­gefährlich verletzt. Der Täter, der sich ein Ticket für den Anlass besorgt hatte, erklomm die Bühne und stach mit einem Messer viele Male auf Rushdie ein. Etwa 15 Menschen aus dem Publikum sollen dem Autor zu Hilfe geeilt sein, sodass der Angreifer überwältigt und in Polizei­gewahrsam genommen werden konnte. Rushdie wurde mit schweren Stichwunden am ganzen Körper und im Gesicht ins Spital geflogen und operiert.

Sein Literatur­agent Andrew Wylie teilte in der folgenden Nacht mit, der Autor sei nicht ansprechbar, werde wahrscheinlich ein Auge verlieren, Nerven­stränge im Arm seien durchtrennt, seine Leber beschädigt worden. Seit dem Wochenende, so heisst es aus dem Familien­kreis, könne Rushdie wieder sprechen und müsse nicht mehr künstlich beatmet werden.

Rushdie war bereits ein weltbekannter Autor, als er 1988 «Die satanischen Verse» veröffentlichte, jenen Roman, der ihm erbitterten Hass von Teilen der muslimischen Welt eintrug. Mit seinem Roman «Mitternachtskinder», im Original 1981 erschienen, hatte er den renommierten Booker Prize gewonnen; viele Jahre später, 2008, sollte das Buch sogar zum besten aller bis dahin ausgezeichneten Siegertitel gewählt werden. Auf die Veröffentlichung der «Satanischen Verse» aber folgten Blasphemie-Vorwürfe, Morddrohungen, Boykotte, aggressive Massen­proteste in Indien und Pakistan. Rushdies Geburtsland Indien verbot das Buch gleich im Herbst 1988.

Im Februar 1989 dann die höchste Eskalations­stufe: Der iranische Macht­haber Khomeini rief «alle stolzen Muslime in der Welt» zur Ermordung Rushdies auf, der mit seinem Buch den Islam, den Propheten und den Koran beleidigt habe. Khomeini starb wenig später, seine Fatwa blieb in Kraft und galt auch allen, die weltweit an der Veröffentlichung des Buches beteiligt waren. Rushdie musste untertauchen. Zehn Jahre lang lebte er im Untergrund, bis sich eine zwischen­zeitliche Entspannung abzeichnete. Nun deutet alles darauf hin, dass Khomeini und die radikalen Islamisten mehr als drei Jahrzehnte später doch noch einen Handlanger zur Vollstreckung ihres Mord­aufrufs gefunden haben.

Es geht also, wie gesagt, hier nicht wirklich um Literatur. Sondern darum, dass das iranische Regime 33 Jahre lang Khomeinis menschen­feindliches Urteil nie offiziell widerrufen hat. Darum, dass infolge dieser Fatwa zu Beginn der 1990er-Jahre Rushdies japanischer Übersetzer Hitoshi Igarashi ermordet, sein italienischer Übersetzer Ettore Capriolo mit einem Messer angegriffen, auf seinen norwegischen Verleger William Nygaard geschossen wurde. Darum, dass 1993 in der türkischen Stadt Sivas ein aufgehetzter Mob gegen den türkischen Autor Aziz Nesin wütete, das Hotel in Brand steckte, in dem Nesin sich befand, und 37 Menschen ums Leben kamen. Zuvor hatte Nesin eine Übersetzung der «Satanischen Verse» angekündigt.

Es geht darum, dass ein Regime und seine theologische Elite 33 Jahre lang davon absahen, ein Urteil zurück­zunehmen, das bereits unendliches Leid gebracht hatte. Und darum, dass den bisherigen Indizien nach eine Menge dafür spricht, dass ein 24-jähriger amerikanischer Staatsbürger, dessen familiäre Wurzeln im Südlibanon liegen, nun den Mordaufruf von 1989 vollstrecken wollte – ein junger Mann also, der beim Erlass der Fatwa noch nicht einmal geboren war.

Es trifft deshalb den Kern der Sache, wenn der Journalist Yassin Musharbash auf Twitter schreibt:

Kleiner, aber wichtige Differenzierung:

@SalmanRushdie wurde nicht wegen seines Buches Die Satanischen Verse bedroht.

Sondern weil religiöse Fanatiker auf die intellektuelle Herausforderung durch Literatur mit Gewalt und Drohungen reagiert haben.

Vor diesem Hintergrund sind die Reaktionen des heutigen iranischen Regimes auf das Attentat umso verstörender. In einer offiziellen Stellung­nahme aus Teheran weist der Iran zwar jegliche Verbindung zu dem in Kalifornien geborenen mutmasslichen Täter zurück. Nasser Kanaani, Sprecher des Aussen­ministeriums, betonte aber auch, Rushdie habe mit seinem Werk die Muslime weltweit beleidigt, deshalb seien Rushdie selbst und seine Anhänger schuld an dem Anschlag. Im gleich­geschalteten iranischen Medien­system wird das Attentat auf Rushdie bejubelt. Der am Tatort gefasste mutmassliche Täter, dessen Social-Media-Profile laut überein­stimmenden Medien­berichten seine Verehrung für Khomeini und die schiitische Terror­organisation Hizbollah zum Ausdruck bringen, hat vor einem New Yorker Gericht auf «nicht schuldig» plädiert.

Fundamentalismus und Literatur

In einer oberflächlichen Lesart könnte man vielleicht auf den Gedanken kommen, die iranische Fatwa und die Verdammungen von Rushdies Buch zeigten in pervertierter Form, welch riesigen, geradezu existenziell wichtigen Stellenwert die Verantwortlichen der Literatur, dem geschriebenen Wort beimässen. In Wirklichkeit aber wird in religiös-fundamentalistischen Auffassungen von Literatur und Kunst all das, was von der Festlegung auf ein dogmatisch verordnetes Weltbild abweicht, jede Form von machtkritischem Diskurs und Pluralismus – also alles, was moderne Kunst ausmacht –, aggressiv bekämpft.

Menschenleben sind in dieser Sicht­weise kein Wert an sich, sondern werden einem vermeintlich höheren Zweck untergeordnet. Die Verklärung der eigenen Märtyrer und die Verdammung derer, die sie auslöschen sollen, hat dies gemeinsam: dass ein menschliches Leben nichts gilt, wenn es um etwas vermeintlich Grösseres geht. Dieser radikal instrumentelle Blick auf das individuelle Leben ist das Kennzeichen von menschen­feindlichen Ideologien, die alles der eigenen, verabsolutierten «Wahrheit» unterordnen.

Im Interview mit der Republik sagte Salman Rushdie Ende 2019 einen für ihn typischen Satz: «Der Totalitarismus hat keinen Sinn für Humor.» Das war zu diesem Zeitpunkt konkret auf Donald Trump gemünzt, zugleich aber Ausdruck einer universellen Erfahrung, ganz so wie Rushdies literarische und intellektuelle Kritik nie auf eine bestimmte Kultur, Religion oder Weltregion festgelegt ist, sondern überall dort ansetzt, wo Illiberalismus, Anti­pluralismus und Dogmatismus herrschen. Den Humor, den Rushdie in seiner Sentenz nannte, hat er immer schon als Lackmus­test für totalitäres Denken und zugleich als eines der wichtigsten Gegengifte dazu begriffen. Doch lässt sich dieser Grund­gedanke ausweiten: Humor­losigkeit steht dann auch für die grundlegende Unfähigkeit, Abweichung zu integrieren – und einen Mindest­abstand zwischen der Welt und der eigenen Weltsicht herzustellen.

Zum Interview: «Die Mächtigen hassen es, wenn über sie gelacht wird»

Im November 2019 sprach Daniel Graf für die Republik mit Salman Rushdie über Trumps Amerika, seine persönlichen Erfahrungen mit Rassismus, die Kraft der Comedy und die besondere Bedeutung von Namen. Hier gehts zum Interview.

Rushdies gesamtes literarisches Schaffen arbeitet an dieser reflexiven Distanz: mit Humor, Selbst­ironie, mit hybriden, aus vielen Kulturen beeinflussten Schreib­weisen und unzähligen Formen literarischer Verfremdung. Rushdies Literatur schreibt aller Pauschalisierung und Verengung entgegen und weitet den Blick. Sie führt vor, was eine engagierte Haltung von Ideologie und dogmatischer Verhärtung unterscheidet.

Die Fatwa aber hat auch Salman Rushdies Leben immens geprägt. Nicht nur, weil er jahrelang im Untergrund leben und anfangs alle drei Tage seinen Aufenthalts­ort ändern musste (woran, wie er sagt, auch seine zweite Ehe zerbrach). Nicht nur, weil sein Leben von Geheim­agenten und Bodyguards bestimmt war und es Jahrzehnte dauerte, bis er und die Geheim­dienste die Bedrohung als nicht mehr akut betrachteten und er wieder ein Leben in grösst­möglicher Normalität führen konnte. In seiner Literatur, das wirkt nach dem Attentat von Freitag umso beeindruckender, hat er sich ohnehin niemals einengen lassen.

Und doch bestimmte die Fatwa auch in höchstem Masse seine öffentliche Wahrnehmung als Autor. Völlig zu Recht gilt Rushdie seit Jahren als geradezu prototypischer Intellektueller, der sich der aufklärerischen Kritik verschreibt. Und ein Vorbild ist er nicht zuletzt auch dafür, wie man sich, trotz aller Hetze gegen die eigene Person, nicht mit Hass und Ressentiment anfüllen lässt, sich nicht dem plumpen Mechanismus der Gegen­aggression unterwirft. Seine Essays und Reden, die öffentlichen Statements, das Engagement als public intellectual haben die Bedeutung Salman Rushdies weit über die des Autors von bislang 14 Romanen hinausgehoben.

Dennoch und gerade wegen der erdrückenden Präsenz eines Themas, das sich nicht ignorieren lässt, tun auch Rushdies Bewunderer gut daran, ihn nicht auf seine Rolle als Ikone der Meinungs- und Kunst­freiheit zu reduzieren – und darüber den Sprach­künstler und literarischen Virtuosen zu vergessen.

Also rein in die Texte. Rein, zum Beispiel, in «Die satanischen Verse». Man muss weiss Gott nicht literarische Theorie studieren, um zu sehen: Schon die allerersten Zeilen dieses Riesen­romans machen klar, dass hier keine Botschaften verkündet oder Pamphlete in Roman­form gepresst werden, sondern ein literarisches Spiel mit vielfachen Ebenen und permanenten ironischen Brechungen in Gang gesetzt wird. Da fallen die beiden Haupt­figuren, zwei Schauspieler übrigens, buchstäblich vom Himmel – Flugzeug­absturz. Und während sie so aus Mount-Everest-Höhe Richtung Erde, genauer gesagt auf London, zustürzen «wie Tabak­krümel aus einer zerbrochenen alten Zigarre», führen sie eine Unterhaltung wie diese:

«London, Bhai! Wir kommen! Diese Ärsche da unten werden keine Ahnung haben, was sie getroffen hat. Ein Meteor, ein Blitz oder die Strafe Gottes. Aus dem Nichts, Herzchen. Dharrraaammm! Wumm, na? Was für ein Auftritt, yaaar.»

Die beiden landen – so viel zum Realismus in diesem Buch – sicher und unversehrt und werden fortan durch einen Text spazieren, der vor Figuren und Ereignissen, aber auch vor literarischen, religiösen und historischen Anspielungen nur so überquillt. Nichts geschieht hier ohne doppelten Boden, ohne satirische Verfremdungs­effekte. Und die Satire gilt buchstäblich allem und jeder, nicht zuletzt der Dichterinnen- und Satiriker­zunft selbst.

Es ist vor allem das zweite Kapitel des Romans, in dem ein Prophet namens Mahound auftaucht, an dem sich damals der Aufruhr in der muslimischen Welt entzündete. Wie der ganze Roman von Traum­sequenzen durchzogen ist, bildet auch dieses Kapitel den Traum einer der beiden Haupt­figuren ab, ist also von vornherein perspektivisch an die Figur gebunden. Innerhalb dieser Szene herrscht dann ein regelrechtes Gewusel an Stimmen, Interessen und Weltbildern. Rushdie schildert literarisch einen Wettstreit der Exegeten und religiösen Gruppierungen, die um die vorherrschende Wahrheit auf dem Markt der Welt­anschauungen feilschen. Alles in diesem Text ist an Perspektiven geknüpft, die fortwährend von einer anderen Position infrage gestellt werden. Weniger These ist kaum möglich.

Der zentrale Punkt aber, jenseits von Literatur­begriffen, Lese­gewohnheiten und Interpretations­kompetenz, ist der: Es liesse sich über Rushdies Roman trefflich streiten. Es könnte, je nach Perspektive und Interesse, mit guten oder schwachen Argumenten auch massive Kritik an diesem Roman geäussert, der Autor für sein Werk in aller verbalen Schärfe angegriffen werden. Aber genau das, den kritischen Diskurs, halten die religiösen Fanatiker ja nicht aus. Die Möglichkeit des Widerlegt­werdens, des ergebnis­offenen Streits mit der drohenden Erkenntnis, dass es andere Sichtweisen gibt, auch und gerade unter den Glaubens­schwestern, die die Verblendung und den eigenen Dogmatismus nicht teilen – all das wird geradezu panisch vermieden und durch nackte, archaische Gewalt ersetzt.

Es ist gut möglich, dass diejenigen unter den Fanatikern, die Rushdies Buch tatsächlich gelesen haben, sich von dem Buch infrage gestellt sahen – zu Recht. Denn genau das, die anti­pluralistische und aggressiv dogmatische Art des Umgangs mit theologischen Fragen, wird im Buch schon thematisiert und als Form des Macht­missbrauchs erkennbar.

Einer der bekanntesten Sätze aus Rushdies Werken, übrigens just aus dem zweiten Kapitel, lautet dann auch:

«Von allem Anfang an benützten die Menschen Gott, um das nicht zu Recht­fertigende zu rechtfertigen.»

Der Sohn von Salman Rushdie, Zafar, postete am Samstag ein «family statement». Darin heisst es, trotz der schweren Verletzungen, die das Leben seines Vaters verändern werden, sei «sein gewohnter kämpferischer und aufsässiger Sinn für Humor intakt». Alle, denen an einer freien, offenen Gesellschaft gelegen ist, werden hoffen, dass Rushdies Stimme, die das Attentat kurzzeitig zum Verstummen brachte, auch in Zukunft deutlich zu vernehmen sein wird. Sein Möchtegern-Mörder erkennt vielleicht irgendwann, dass auf ihn jetzt weder das Märtyrer­paradies noch die Hölle wartet, sondern tatsächlich etwas Grösseres; etwas, das den Menschen im Iran bis heute vorenthalten wird: die zivilisatorische Errungenschaft namens demokratischer Rechtsstaat.

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