Spärlich beleuchtetes Kiew.

Leben in Trümmern

Gegensätze

Lesha verreist, unter anderem nach Zürich. Und hat Mühe mit dem Besuch im Frieden. Zurück in Kiew holt ihn die Realität ein.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 02.12.2022

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Mein letztes persönliches Update ist eine Weile her. Aber mit gutem Grund: Ich war auf Reisen. Vor etwa zwei Monaten habe ich mich beim Kultur­ministerium um eine Ausreise­bewilligung beworben. Die gibt es für Kultur­schaffende, wenn sie Verpflichtungen im Ausland haben. Meine Bilder waren Teil einer kleinen Ausstellung in Hamburg und damit der Anlass, eine solche Bewilligung zu beantragen. Bis einen Tag vor der geplanten Ausreise wusste ich allerdings nicht, ob diese genehmigt würde.

Als es tatsächlich klappte, konnte ich es zuerst gar nicht glauben. Die Reise musste dann sehr schnell organisiert werden. Ich stieg mehr oder weniger in den nächsten Nachtzug nach Warschau und reiste von dort weiter nach Berlin, wo ich erst mal ein paar Tage blieb. Es war nicht einfach, damit klar­zukommen, nun plötzlich in einem friedlichen Land zu sein, während der Krieg zu Hause weitergeht. Erst ein paar Tage zuvor hatte ich das Hilfs­netzwerk Livyj Bereh an die Front im Donbass begleitet (ein intensiver Trip, zu dem hier bald einmal ein persönliches Update folgt), und nun fand ich mich in Berlin wieder – eine Stadt, die ich vor vier, fünf Jahren oft besucht habe. Ich suchte meine liebsten Buch­läden auf, schlenderte durch bekannte Strassen, freute mich darüber, dass es dieses leckere Bánh-mì-Sandwich immer noch gibt. Alles wie früher, wie immer – und doch so anders.

Von Berlin ging es weiter nach Hamburg, dort blieb ich aber nur kurz. Im Gegensatz zu Berlin oder Zürich kenne ich da niemanden. Also verliess ich die Stadt bald Richtung Schweiz, auch um das Team der Republik zu besuchen. In Zürich anzukommen, war ein sehr surrealer Moment. Ich war das erste Mal hier, und der Gegensatz zu dem, was ich noch vor einer Woche im Donbass erlebt hatte, hätte nicht grösser sein können. Deshalb hatte ich wohl auch nicht so den Drang, Zürich oder die Schweiz zu erkunden, und ich konzentrierte mich auf meine Freunde und die Arbeit, die Haupt­gründe für meinen Besuch.

Sasha, bei dem ich wohnen konnte, ist ein sehr naher Freund. Ich habe ihn genau vor einem Jahr das letzte Mal gesehen, in Kiew. Er hatte sich damals überlegt, von Warschau wieder in die Ukraine zurück­zukehren, zog dann aber zu seiner Freundin Dominika, die in Zürich gerade doktoriert.

Auf gehts: Der Zug nach Berlin steht bereit.
Hamburg.
Friedliche Abendstimmung in Hamburg.

Es war toll, all die Leute von der Republik endlich richtig kennen­zulernen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Es war zwischen­durch auch sehr emotional; wenn ich auf bestimmte Bilder oder Aussagen angesprochen wurde, musste ich manchmal die Tränen zurück­halten. Das hat mir gezeigt, was meine Arbeit bewirkt und wie meine Erzählungen aufgenommen werden. Nach meinem Besuch bei den Soldaten an der Front oder wenn ich mit Freunden spreche, die beim Militär sind, stellt sich manchmal das Gefühl ein, dass das, was ich tue, nicht so wichtig ist im Vergleich zu dem, was sie tun. Zu erfahren, dass ich etwas dazu beitragen kann, dass die Menschen im Ausland verstehen, was bei uns passiert und wie sich das anfühlt, hat mich damit versöhnt.

Ich habe sehr wenige Fotos gemacht, während ich unterwegs war. Die Batterien meiner Kamera waren nach drei Wochen immer noch voll. Irgendwie erschien mir alles so perfekt und unumstösslich und darum unnötig, dass ich das nun auch noch festhalte.

In den drei Wochen meiner Reise hat Russland die Ukraine weiterhin regelmässig bombardiert. Strom­ausfälle und Netzwerk­probleme, wie ich sie in Charkiw erlebt hatte, gehören nun auch in Kiew und anderen Städten zur Tages­ordnung. Meine Frau Agata hat mir erzählt, dass es auch in Kiews Strassen abends so dunkel ist, dass sie kaum einen Meter weit sehen kann. Und obwohl ich sehr glücklich und dankbar über diese Auszeit bin, wollte ich während der ganzen Zeit meiner Reise zu Hause sein. Für mich war es schlimmer, von aussen zu sehen, wie meine Heimat bombardiert wird, als selber dort zu sein. Ich verstehe nun, was die Ukrainerinnen durchmachen, die im Ausland sind.

Nach Zürich verbrachte ich noch eine Woche in Paris mit Sasha. Es war die internationale Kunst­messe Paris Photo, und eigentlich hätten meine Bilder auch da Teil einer Ausstellung sein sollen, diese wurde aber auf das nächste Jahr verschoben. Ich nahm die Gelegenheit dennoch wahr, die Messe zu besuchen und mich mit anderen Fotografen und Fotografinnen auszutauschen.

Die Rückreise führte mich wieder über Berlin, wo ich mir noch eine tragbare power station organisiert hatte. Irgendwann hatte ich realisiert, dass dies wahrscheinlich das sinnvollste Souvenir aus Europa sein könnte.

Am 15. November sass ich im Zug von Warschau nach Kiew. Es war ein Tag, an dem Russland die Ukraine heftig bombardierte. An der Grenze hatten wir schon ziemlich Verspätung, und dann erfuhr ich, dass eine Rakete im grenznahen Polen eingeschlagen hatte. Die Strom­versorgung war unterbrochen, und wir blieben für ein paar Stunden stecken.

In diesem Moment realisierte ich, dass ich wieder zu Hause war. Zurück in der Realität. Ich erinnerte mich an meinen letzten Tag in Zürich – ich fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend und fühlte mich plötzlich traurig. Nicht weil ich Zürich verlassen musste, sondern weil ich diesen Frieden und die Unbeschwertheit nicht mit mir zurück­nehmen konnte. Die Gewissheit und Freiheit, dem Alltag nachzugehen, sich über kleine Dinge zu freuen, ohne dabei stets mit dem nahen Einschlag der nächsten russischen Bombe rechnen zu müssen.

Kälteeinbruch in Kiew.
Brennende Lichter – dank Generatoren.
Steine aus zwei Welten: Dem Donbass (links) und der Schweiz (rechts).
Wann wohl die nächste Attacke kommt?

Es war kalt, als ich in Kiew ankam, und es schneite. Aber es gab Strom, und die Heizung lief. Die Stadt selbst ist nicht mehr beleuchtet, einige Cafés oder Läden arbeiten mit Generatoren. Die sind nun überall zu hören, der neue Sound der Ukraine. Während der ersten Woche nach meiner Rückkehr hatten wir in unserer Wohnung keine Strom­ausfälle, und ich überlegte schon, ob ich meine power station vielleicht dem Militär spenden sollte. Aber dann, am 23. November, hat uns Russland wieder bombardiert, stärker als je zuvor.

Ein landesweites Blackout war die Folge. Wir waren unterwegs, als die Sirenen losgingen, auf dem Heimweg hörten wir viele Explosionen. Kaum kamen wir zu Hause an, war der Strom weg. Am Abend stieg dann auch die Heizung aus. Immerhin hatten wir noch Wasser. Am nächsten Morgen waren es in unserer Wohnung noch 15 Grad. Doch wir hatten Glück, der Strom kam bald zurück und einen Tag später dann auch die Heizung. Ich habe Bekannte, die hatten gar nichts während zweier Tage. Keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser.

Während des Blackouts war ich auf dem Andreas­steig unterwegs, das ist die bekannteste und wohl auch touristischste Strasse von Kiew. Sie war voller Menschen. Ich erinnerte mich an die ersten Tage im März dieses Jahres und daran, wie leer dieselbe Strasse damals war. Man hatte kaum jemanden angetroffen, vielleicht ein paar Soldaten oder Polizisten. Und damals hatten wir Strom, Wasser und Heizung. Aber niemand wollte raus, und viele gingen ganz weg.

Aber heute, wo Russland wieder schlimmste Attacken lanciert, sind wir da, unbeeindruckt. Wir machen weiter und bleiben. Daran musste ich denken, als ich später durch die dunklen Strassen nach Hause ging. Wie sehr ich diese Stadt, die Ukraine und ihre Menschen deswegen liebe.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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