Leben in Trümmern

Charkiw

Fotograf Lesha unternimmt eine Reise in die Nähe der Front­linien des Krieges. Was er dort antrifft: Zerstörung, Dunkelheit – und Menschen, die trotz allem zu überleben versuchen.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 31.10.2022

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Vorgelesen von Jonas Gygax
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Die Orte in der Ostukraine versinken in der Dunkelheit.

Es geht uns so weit gut. Die letzten Wochen waren schwierig, darum habe ich mich auch länger nicht gemeldet. Zum Verrückt­werden. Die Ukraine und Kiew insbesondere werden wieder heftig angegriffen, es sind regelrechte Terror­attacken, die uns verunsichern und in Angst und Schrecken versetzen sollen. Sie zielen klar auf die zivile Infra­struktur ab, damit wir möglichst ohne Wasser- und Energie­versorgung durch den Winter müssen. Der Strom fehlt nun regelmässig für längere Zeit. Wir sind alle bemüht, weniger Strom zu brauchen.

Und wir schlafen aus Sicherheits­gründen auch wieder öfter im Wohnungs­eingang. Meine Freunde posten auf Instagram ihre Camping­gasflaschen mit der Bemerkung «ready for winter». Im Februar waren wir alle froh um unsere Rucksäcke und Isomatten, die wir in die Schutz­räume mitnehmen konnten, jetzt werden wohl auch andere Dinge unserer Outdoor-Ausrüstung nützlich.

Meinem Grossvater gelingt es immer mal wieder, mich anzurufen. Es geht ihnen zum Glück gut, und ich hoffe, ihr Dorf wird bald befreit. Ich habe gelesen, dass die Russen – genauer die Wagner-Gruppe – einen Verteidigungs­wall bauen innerhalb der seit 2014 besetzten Gebiete in Luhansk. Offenbar erwarten sie einen Gegen­angriff und rechnen damit, einen Teil der Gebiete im Osten aufgeben zu müssen. Das stimmt mich zuversichtlich. Denn das würde bedeuten, dass auch das Dorf meiner Grosseltern wieder an die Ukraine ginge. Ich bin ohnehin überzeugt, dass es unseren Truppen gelingen wird, alle ukrainischen Gebiete wieder zurück­zuerobern.

Schäden nach einem Bombenangriff im historischen Zentrum von Charkiw.
Nachts wird die Strassenbeleuchtung ausgeschaltet. Licht kommt nur von den Auto­scheinwerfern.
Ein zerstörtes medizinisches Zentrum in Kuryliwka, unweit der Frontlinie in der Region Charkiw.
Zerstörtes Wohngebäude im Norden des Quartiers Saltiwka in Charkiw.

Vor zwei Wochen war ich während zweier intensiver Tage in der Region von Charkiw unterwegs, zusammen mit meinem Freund Vlad und der Künstlerin Zhanna Kadyrova. Vlad arbeitet für Livyj Bereh, ein Kollektiv, das kurz nach dem Kriegs­beginn am 24. Februar angefangen hat, in den betroffenen Regionen Hilfs­güter zu verteilen, und nach dem Rückzug der russischen Truppen den Wieder­aufbau angetrieben hat, indem es Dächer und Haus­mauern flickte. Ich habe sie bereits ein paarmal begleitet und wollte hier davon erzählen, aber dann kam Putin mit seinen Drohnen dazwischen. Zhanna gestaltet Skulpturen, neuerdings verwendet sie dafür Kriegsabfall – Teile von zerstörten Gegen­ständen, Überreste von Bomben. Sie wollte in den neulich befreiten Dörfern rund um Charkiw dafür Material sammeln.

Wir kamen gegen Nachmittag nach Charkiw, wo wir übernachteten. Vor der Ausgangs­sperre hatten wir Zeit, uns ein paar Stunden umzusehen. Ich kenne Charkiw gut, vor allem das Stadt­zentrum, das ich früher oft besuchte. Und trotzdem habe ich es kaum wieder­erkannt. Auch die Stimmung ist ganz anders als in Kiew; wegen der konstanten Bomben­angriffe brennt kaum ein Licht nach Einbruch der Dunkelheit. Es ist stockfinster, die Wohnungen bleiben dunkel, die Strassen­lampen bleiben dunkel, die Ampeln ebenfalls. Ab und zu durchbrechen die Schein­werfer eines Autos die Dunkelheit.

Am nächsten Tag fuhren wir aus der Stadt raus in den Vorort von Saltiwka, eine Wohngegend nahe an der russischen Grenze. Als die Russen versucht haben, Charkiw zu besetzen und einzunehmen, lag Saltiwka dazwischen und wurde stark zerbombt. Der Ort ist auch jetzt noch unter regel­mässigem Beschuss und mutet sehr gespenstisch und postapokalyptisch an. Neben fast jedem Gebäude haben Bomben Löcher in den Boden gerissen, mindestens ein Wohnhaus wurde zerstört. Wir sahen Garagen mit verbrannten Autos, zerbombte Schulen und Kinder­gärten. Trotzdem leben noch Menschen dort. Es ist schwer zu sagen, wie viele, wir waren sehr früh am Morgen dort, sahen aber einige, die die mobilen Toiletten aufsuchten, und andere, die mit ihren Hunden unterwegs waren.

Optische Täuschung und doch Realität: Bei der russischen Rakete handelt es sich um einen Sticker, den man sich auf die Windschutz­scheibe kleben kann.

Danach fuhren wir in die vor kurzem befreite Gegend im Osten von Charkiw, näher an der aktuellen Front. Wir wurden vom Militär begleitet und herumgeführt. Ein Kommandant zeigte uns das Dorf, in dem er geboren wurde und in dem seine Grosseltern heute noch leben. Zufälliger­weise wurde seinem Bataillon diese Gegend zugewiesen, und er war selber an dessen Rück­eroberung beteiligt. Ich kann mir kaum vorstellen, wie das für ihn gewesen sein musste, seinen Geburtsort und seine Gross­eltern zu befreien. Die Menschen leben dort nun praktisch ohne jegliche Infra­struktur. Neben den Gebäuden sehen wir improvisierte Zelte, die Leute kochen draussen und sitzen zusammen, vielleicht auch, weil es im Moment draussen noch wärmer ist als drinnen.

Die Nähe zur Front war uns stets bewusst, die regel­mässigen Explosionen begleiteten uns ohne Unter­bruch. Und doch schien es irgendwie ruhiger und gelassener als in Kiew. Vielleicht weil der Krieg durch die Regel­mässigkeit so offensichtlich ist. In Kiew sind die Attacken zufälliger und unregel­mässiger und fühlen sich deshalb eher an wie Terrorismus.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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