Leben in Trümmern

Ferien

Lesha und Agata werden Kiew für ein paar Tage verlassen: Es geht auf eine Wander­tour in die Karpaten. Beim Packen der Rucksäcke kommen Erinnerungen an den Kriegs­beginn hoch. Leshas Freunde wiederum hadern mit der Zukunft.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 30.08.2022

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Synthetische Stimme
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Letzte laue Sommerabende.
Eines von vielen kaputten Fenstern.

Letzte Woche feierte die Ukraine den 31. Unabhängigkeits­tag. Natürlich hielt Russland ein paar Über­raschungen für uns bereit. Aus Sorge vor Angriffen haben sich viele Menschen aus Kiew zurück­gezogen und in Sicherheit gebracht, wie schon vor dem russischen Tag des Sieges am 9. Mai. Die Stadt war in diesen letzten Sommer­tagen wieder gespenstisch leer, die Stimmung angespannt. Ich hatte Albträume: Russische Flieger landeten mitten in Kiew, die Regierungs­gebäude wurden eingenommen und die Bomben wollten nicht aufhören, auf uns runterzufallen. Das hat sich zumindest in Kiew nicht bewahrheitet, anderswo in der Ukraine hingegen schon.

Der Sommer wird bald vorbei sein, und wir haben es immer noch nicht geschafft, mal für länger wegzufahren und so etwas wie Ferien zu machen. Nächste Woche können wir das nachholen. Für mich gibt es noch ein paar Dinge abzuschliessen, meine Frau Agata hat auch noch einen Job, danach wollen wir los, in die Karpaten, zum Wandern. Bei der Vorbereitung unseres Trips musste ich daran denken, wie wir vor einem halben Jahr bei Kriegs­ausbruch auch unsere Rucksäcke mit dem Notwendigsten gepackt hatten. Und wie froh wir um unsere Outdoor-Ausrüstung waren, als wir eineinhalb Monate lang auf unseren Isomatten im Wohnungs­eingang geschlafen haben. Vieles davon nehmen wir nun mit auf unseren Ausflug, und ich freue mich, dass die Sachen wieder für den vorgesehenen Zweck zum Einsatz kommen.

Unabhängigkeitstag.
Agata.
Sommerlicht.

Ich bin etwas wehmütig, dass der Sommer schon zu Ende geht. Im Juli war ich sehr beschäftigt mit einem grossen Foto­auftrag, den ich hier auch zwischen­durch erwähnt habe. Das Resultat gibt es nun in der September-Ausgabe des Magazins «Monocle» zu sehen. Sie haben die Ukraine besucht und ihr einen grossen Teil des Magazins gewidmet, vieles davon von mir bebildert. Vielleicht interessiert es ja die eine oder andere unserer Leserinnen, ich finde es gelungen und freue mich sehr über die Publikation.

Seit mein Grossvater nun auch ohne Hilfe der Nachbarn Video­anrufe tätigen kann, meldet er sich oft bei uns. So kann ich meine Gross­eltern endlich etwas besser unterstützen, immer noch nicht mit Taten, aber mit Worten und Hoffnung. Das hilft schon sehr, auch mir. Es geht ihnen zum Glück recht gut, sie erzählten mir zum Beispiel, dass sie letzte Woche sieben Kilo Gemüse einmachen konnten. Normaler­weise würden sie mir ihre selbst gemachten Leckereien schicken, nicht nur Gemüse, sie stellen auch ihren eigenen Honig her und machen Früchte ein.

Gerne lasse ich in dieser Kolumne auch wieder mal meine Freunde zu Wort kommen. Sie sind nicht alle gleich gesprächig.

Sevilya war eine von zwei meiner Lehrerinnen im Grafik­unterricht. Sie führen zusammen ein kleines Atelier, das Razom Studio in Kiew. Ein paar Monate nach Abschluss der Grafik­ausbildung haben sie mir angeboten, in ihrem Studio zu arbeiten. Das habe ich dann ungefähr ein Jahr gemacht, bis ich entschied, wieder mehr zu fotografieren. Ich zog dann in mein eigenes Studio, im gleichen Haus wie Razom. So sehe ich sie sehr oft. Sie ist zudem eine gute Freundin von Agata, sie war eine der Ersten, die sie kennenlernte, als sie zu mir nach Kiew gezogen ist.

Tolik und Vlad sind sehr enge Freunde von mir, wir unternehmen viel zusammen, wir bilden auch das Kernteam von UUA Velosport. Vlad arbeitete bis vor dem Krieg auch als Fotograf und teilt mit mir das Studio. Er fährt im Moment nicht mit uns mit, er hat gerade kein Velo. Dafür unternehme ich mit Tolik viele Velo­ausflüge, er ist übrigens auch der auf dem Bild mit der zerbombten Brücke. Tolik ist allerdings nicht sehr gesprächig.


Sevilya, 29: «Glaube an die Menschlichkeit»

Ursprünglich komme ich von der Krim, von Kezlev, lebe aber schon lange in Kiew. Ich bin Grafikerin mit einem eigenen Studio in Kiew. Glücklicher­weise haben wir auch jetzt noch Aufträge, ich bin also recht beschäftigt. Natürlich hat sich vieles geändert seit dem Krieg, mir fällt schon auf, wie nicht nur die Themen ernster geworden sind, sondern wie alles sehr viel bewusster geworden ist.

Seit dem Beginn des Krieges beschäftigt mich das Schicksal der indigenen Völkergruppe der qırımlı, der Bewohner der Krim, die von Russland immer wieder unter Druck gesetzt werden. Wegen meiner Herkunft war mein Interesse für sie immer schon da, neuerdings fühle ich aber eine starke persönliche Verantwortung. Ich habe mir deshalb vorgenommen, in Zukunft einen Dialog rund um diese Völker­gruppe zu etablieren und zu fördern.

Hoffnung gibt mir mein Glaube an die Menschlichkeit, das Gute in uns allen. Dennoch kommt es mir manchmal vor, als blickte ich in eine sehr verschwommene Zukunft, in der dieser Krieg nur der Anfang eines noch grösseren Chaos auf der Welt ist. Ich hoffe es nicht.


Vladyslav, 26: «Suche eine Antwort, wie ich mich fühle»

Ich bin gebürtiger Kiewer und lebe immer noch hier. Vor dem Krieg war ich als Fotograf tätig, aber jetzt gelingt mir das nicht mehr so gut. Ich denke viel darüber nach, was ich gerne fotografieren würde, schaffe es dann aber doch nicht. Ich kann mir selber nicht recht erklären, warum das so ist. Vielleicht habe ich einfach nichts zu sagen? Wiederum überlege ich dann, vielleicht einfach alles zu dokumentieren. Jedenfalls beschäftigt mich die Situation dauernd und überall. Wenn ich unterwegs bin mit dem öffentlichen Verkehr, beobachte ich die Leute, ich versuche, ihnen in die Augen zu schauen, um etwas zu sehen, das mir verrät, wie es ihnen geht, was sie fühlen. Vielleicht suche ich in ihnen auch einfach Antworten darauf, wie ich mich selber fühle.

Ich fotografiere also nicht im Moment, bin aber trotzdem sehr beschäftigt. Das heisst, ich arbeite viel, und ich erkenne das schon als eine Form des Eskapismus. Was ich arbeite, darüber möchte ich aber nicht sprechen.

Obwohl der Krieg schmerzhaft und sichtbar ist, fühlt er sich für mich immer noch sehr unreal an, ja realitäts­fremd. Wer macht noch Krieg in einer aufgeklärten, zeitgenössischen Welt? Ich kann es immer noch nicht richtig fassen, wie das möglich ist. Für mich ist alles sehr surreal, ich bin noch nicht in dieser neuen Realität angekommen. Für mich ist es nur ein grosses Durch­einander, und es verwirrt mich zwischen­durch sehr. Vielleicht kann oder will ich die Realität einfach nicht akzeptieren, ich weiss es nicht. Ich habe auch heftige Träume, von Kindern, Erwachsenen, Tieren, unbesorgt und lebendig in einer hellen Welt. Die nicht sterben müssen ohne Grund. Darum fällt es mir wohl auch schwer, zu sagen, was mir Hoffnung gibt: alles und nichts.


Tolik, 28: «Einfach weiter­machen, weiterleben»

Ich komme ursprünglich aus Drohobytsch, das ist nahe von Lwiw im Westen der Ukraine, lebe aber schon sehr lange in Kiew.

Meinen Beruf als Grafiker kann ich zurzeit ausüben, das war mir vor dem Krieg sehr wichtig, hat aber auf meiner Prioritäten­liste deutlich an Wichtigkeit verloren. Auch darum arbeite ich jetzt weniger als früher und gehe anderen Dingen nach, die mich mehr erfüllen. So kann ich auch nicht sagen, was meine Zukunfts­pläne oder -hoffnungen sind. Einfach weiter­machen, weiterleben und versuchen, nicht auf dem Schlacht­feld zu sterben oder einem Bomben­anschlag zum Opfer zu fallen. Das ist leider seit Februar eine Option für meine Zukunft. Auch für die meiner Lieben, das macht mir wohl noch mehr Sorgen, sie verlieren zu können. Und trotzdem – der Konflikt mit Russland dauert schon so lange. Vielleicht können wir ihn jetzt beenden, denn unser Sieg ist nahe.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Haupt­stadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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