Leben in Trümmern

Wiederaufbau

Fotograf Lesha erzählt dies­mal nicht von sich, sondern lässt Freunde zu Wort kommen, die Dächer flicken, Lebens­mittel verteilen – und Autos für die Truppen organisieren.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 21.11.2022

Vorgelesen von Dominique Barth
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Viele Freiwillige arbeiten mit.
Sie reparieren, was zerstört ist, und helfen beim Aufräumen.

Eigen­initiative ist in der Ukraine ein bewährtes Mittel, seit dem Krieg noch viel mehr. Unmittelbar nach dem Angriff der Russen am 24. Februar wurden in den betroffenen Regionen Hilfs­netzwerke ins Leben gerufen, die dank vielen freiwilligen Köchinnen, Einkäufern, Fahrerinnen und Koordinatoren schnell und unkompliziert Leute mit Essen und Medikamenten versorgen konnten. Ich habe schon mehrmals davon erzählt, etwa hier.

Waren anfangs vor allem Nahrungs­mittel und medizinisches Material sehr gefragt, ging es nach dem Rück­zug der russischen Truppen aus der Region von Kiew sehr schnell um den Wieder­aufbau und die Unter­stützung der betroffenen Menschen. Bomben hatten ihre Häuser stark beschädigt, Löcher in ihre Gärten und Strassen gerissen, und die Soldaten haben mitgenommen, was sie konnten.

Meine Freunde Vlad und Ihor hatten sich schon in den ersten Kriegs­tagen mit anderen zum Netzwerk «Livyj Bereh» zusammen­geschlossen. Damit leisten sie unbürokratische Hilfe. Livyj Bereh bedeutet «linkes Ufer» und bezieht sich auf den moderneren Teil Kiews östlich des Dnipro und umfasst vor allem Wohn­gebiete; die rechte Seite liegt westlich des Flusses, mit dem historischen Kern und den belebteren Stadt­vierteln. In diesem Beitrag lasse ich meine Freunde zu Wort kommen:

Von den ersten Tagen des russischen Angriffs an haben wir (Vladyslav Sharapa, Ihor Okuniev, Volodymyr Pavlov) Freiwillige koordiniert, die auf der linken Seite von Kiew helfen. Viele unserer Freunde und andere Netz­werke waren bereits am rechten Fluss­ufer aktiv, die Situation links hingegen war unsicher und viele Menschen waren von der Hilfe abgeschnitten. Diese Lücke wollten wir schliessen.

Unsere Seite war auch darum weniger gut versorgt, weil viele der benötigten Güter über den Dnipro gebracht werden mussten. Während der ersten Wochen des Krieges waren manche Brücken gesperrt. Und die, die geöffnet blieben, waren verstopft. An manchen Tagen blieb uns nichts anderes übrig, als den Dnipro zu Fuss zu überqueren, um auf der anderen Seite etwas abzuholen.

Zu Beginn brachten wir Essen und Medikamente zu den Menschen, die diese Waren nicht selber besorgen konnten. Wir haben auch bei Evakuierungen aus den Vororten geholfen und Ausrüstung zu den Truppen an der Front gebracht.

Als die Russen die Belagerung von Kiew aufgaben und sich zurück­zogen, reisten wir in die Vororte und die Dörfer weiter ausserhalb. Wir wollten heraus­finden, wie wir den Menschen helfen können, die in den verwüsteten Gebieten geblieben waren. Wir stellten fest, dass neben Nahrungs­mitteln und Medizin auch Plastik sehr gefragt war – um die Fenster abzukleben, aber vor allem um die Einschlag­löcher in den Dächern abzudecken. Flickt man ein Dach, rettet man ein ganzes Haus.

So fing das an. Als Bau­meister weiss Vlad, wo man die nötigen Dinge herbekommt und wie man ein Dach schnell reparieren kann.

Zu dieser Zeit stiess auch Ksenia Kalmus zu Livyj Bereh. Mit ihr hatten wir schon ein paar Mal zusammen­gearbeitet, um über­regionale Hilfe zu organisieren, lokal war sie vor allem auf der rechten Seite Kiews tätig. Aber geben wir Ksenia selbst das Wort:

Als ich im Mai ausserhalb von Kiew unterwegs war, um Hilfs­güter zu verteilen, wurde mir schnell klar, dass ein schneller Wieder­aufbau dringender ist als weiteres Essen und Medizin. Leider habe ich keinerlei Erfahrung im Häuser­bau, wusste aber von Vlad, dass er sich da sehr gut auskennt. Wir haben uns also zusammen­getan, ich übernahm die organisatorischen Aufgaben, er die praktischen. Seither fahren wir regel­mässig zusammen in die zurück­eroberten, aber zerbombten Gebiete, um vor Ort den Bewohnern unsere Hilfe anzubieten und zu koordinieren.

Was zerstört ist …
… wird wieder ganz – …
… dank der Hilfe von Freunden.

Das machen wir nun schon seit Monaten, und je weiter sich die Russen zurück­ziehen, umso mehr neue Gebiete kommen dazu. Mittler­weile ist Livyj Bereh ein grosses Netz von Helferinnen, aber auch Betroffenen, die selber Hand anlegen können. Oft treffen wir auf Gemein­schaften, die zusammen aufräumen und die wir mit Material und Fach­kenntnis beim Wieder­aufbau unterstützen können.

Inzwischen flicken wir Dächer nicht mehr nur provisorisch mit Plastik, sondern richtig. Das wichtigste Material im Dachbau ist Dach­schiefer, eine Art Eternit. Diesen gibt es in der Ukraine in sehr guter Qualität, wir können ihn also aus dem Land selbst beziehen. Manchmal kommen auch Stahl­bleche zum Einsatz. Wenn wir Holz benötigen, finden wir meistens welches in der Region, so können wir auch die lokale Produktion unterstützen.

Anfangs haben vor allem Freunde, Verwandte und Bekannte sowie einige unserer Instagram-Follower Geld gespendet, damit wir die Materialien beschaffen konnten – inzwischen kommen die Beiträge aus der ganzen Welt. Das Geld fliesst direkt in die Material­beschaffung und den Transport.

Wir haben auch von Anfang an die Truppen an der Front unter­stützt. Zu Beginn brachten wir ihnen vor allem militärisches Equipment. Mittler­weile sind es auch warme Kleider, Schuhe, praktische Ausrüstung oder sogar Autos. Diese sind wichtig geworden, denn unsere Abwehr muss hinter der Front­linie möglichst mobil bleiben. Fahr­zeuge sind deshalb beliebte Ziele der Gegner.

Dank unserem Netz­werk gelingt es uns immer wieder, gebrauchte Autos aus europäischen Ländern zu kaufen und zu importieren. Anfangs kamen viele aus Deutsch­land, mittler­weile hat sich Norwegen als gute Quelle heraus­gestellt oder auch die Schweiz. Vielleicht weil in diesen Ländern Autos ausgemustert werden, die eigentlich noch fahr­tauglich sind.

Und an der Front ist ein altes Auto besser als keines.

Was in Kiew begonnen hat, weitet sich aus auf umliegende Gebiete.
Autos ermöglichen Mobilität hinter der Front.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Haupt­stadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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