Lichtspiel in der Küche.

Leben in Trümmern

Erinnerungen

In den letzten Tagen haben Fotograf Lesha und seine Frau Agata viele Geschichten gehört. Schöne Geschichten, traurige Geschichten. Von furchtlosen Nachbarinnen, Schau­spielern und einer Dame mit einem sehr bestimmten Geschmack.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Oliver Fuchs (Übersetzung), 29.03.2022

Synthetische Stimme
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Die vergangene Woche hat uns mental ziemlich mitgenommen. Wir haben keine gesund­heitlichen Probleme, es gibt genug zu essen, aber ein Monat Krieg zehrt an der Kraft. Es war hart, aktiv und kommunikativ zu bleiben. An manchen Tagen fühlten wir uns einfach zu erschöpft dafür.

Wir fragen einander: Wann wird das alles aufhören? Werden wir jemals wieder die alten Probleme haben? Probleme wie: Wo sollen wir heute Abend essen? Wie schaffen wir es früher aus dem Bett, damit wir auf eine Biketour gehen können? Oder: Sollen wir heute Abend ausgehen oder besser morgen Sonntag früh raus in die Natur?

In den letzten Tagen haben wir es geschafft, bis zu 20 Familien und Einzel­personen mit Essen zu versorgen. Und wir konnten fast alle benötigten Medikamente auftreiben. Sogar für die Diabetike­rinnen, was ziemlich schwierig war. Aber alle diese Begegnungen mit betagten und einsamen Menschen hinter­lassen Spuren in dir. Jedes Mal, wenn du jemandem geholfen hast, fühlst du dich gut, aber gleich­zeitig auch erschöpft von all den Geschichten, die sie dir erzählt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie hart es sein muss, als Sozial­arbeiter zu arbeiten.

Man schützt sich, so gut es geht.
Begehrte Medikamente.
Schattenspiele.

Natürlich sind manche dieser Erfahrungen auch schön und inspirierend. Zum Beispiel jene mit unserer 91-jährigen Nachbarin Madinat (von der ich auch schon erzählt habe). Sie besucht uns ziemlich oft. Sie hat 17 Jahre lang selber für einen sozialen Dienst gearbeitet. Ihr jetziger Betreuer steckt aber in einem Stadtteil auf der anderen Seite des Dnipro fest, darum kommt nun jemand anderes bei ihr vorbei. Jemand, der sie nicht kennt.

Madinat bittet nämlich immer nach exakt derselben Sorte Äpfel, derselben Sorte Nudeln und so weiter. Bei uns hat sie Blau­beeren bestellt. Die seien gut für ihre Gesundheit, sagt sie. «Ich bin 91 Jahre alt», erklärte sie mir, «ich weiss doch, was ich will und was ich essen kann. Warum können sie mir nicht einfach genau das bringen, wonach ich sie bitte?» Wenn der soziale Dienst nicht genau das findet, was sie bestellt hat, dann bringen sie ihr Alternativen vorbei. Aber die mag sie nicht, und darum bringt sie die dann zu uns.

Sirenen und Bomben? Diese Bewohnerin bleibt gelassen.

Madinat brachte uns also Nudeln, Tee, Kondens­milch und Marmelade. Die Marmelade mochten wir. (Es war Erdbeer­marmelade – Madinat isst nur Himbeere.) Den Rest haben wir an eine andere bedürftige Frau abgegeben, die uns dafür zum Tee eingeladen hat. Die Sirenen und die Bomben scheinen sie überhaupt nicht zu kümmern. Und das, obwohl sie im obersten Stock ihres Wohn­blocks lebt. Ich denke, sie ist sich ziemlich sicher, dass Kiew verschont bleiben wird. Sie scheint überhaupt keine Angst zu haben. Ich denke, wir sollten uns alle ein Beispiel an ihr nehmen.

Ein anderes schönes Treffen war am Sonntag. Wir kamen in Kontakt mit einem alten Mann, der Essen brauchte. Beim Besuch stellte er sich als der bekannte Schauspieler Stanislaw Stankevich heraus, 93 Jahre alt und geistig noch völlig klar. Er lebt allein, kocht selbst und braucht keine Brille. 70 Jahre lang stand er im Iwan-Franko-Dramen­theater auf der Bühne. Noch bis ins vergangene Jahr hatte er dort Auftritte.

Stanislaw Stankevich ist 93 und erzählt Lesha aus seinem Leben als Schauspieler.
Kiew im Frühling …
… die Menschen trauen sich hinaus.

Er erzählte uns aus seiner Karriere und zeigte uns Fotos. Er schien sehr glücklich über unseren Besuch. Danach hat er mich angerufen. «Was hast du für ein Telefon?», hat er mich gefragt. «Hat es Internet?» Dort könne ich nach Informationen über ihn und seine Karriere suchen: «Vielleicht findest du einige meiner Filme.» Ich sagte ihm, das würde ich auf jeden Fall tun – und ich fragte ihn, was sein Lieblings­film sei. «Kotschubej», sagte er.

Was uns auch guttut, ist, wenn wir unsere Freunde treffen. Ganz besonders dann, wenn es keine geplante Begegnung ist, sondern wir uns einfach auf der Strasse in die Arme laufen. Das sind die kostbarsten aller Momente, denn derzeit sind nicht viele meiner Freunde in der Stadt.

Im normalen Leben laufen wir einander tagsüber ständig über den Weg. Wir leben und arbeiten in denselben Nachbar­schaften, gehen an dieselben Orte. Aber jetzt fühlen sich diese Begegnungen wertvoller an, weil sie dich für eine Sekunde den Krieg vergessen lassen. Vergangene Woche taten wir das oft. Es fühlt sich an, als würde in der Stadt das Leben wieder erwachen. Und wir sind glücklich darüber.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Haupt­stadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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