Abend in Kiew. Mit der Dunkelheit kommt die Leere.

Leben in Trümmern

Abend

Es ist Krieg, trotzdem versucht Fotograf Lesha, ein Stück Normalität beizubehalten. Sei es ein Kaffee bei einem Spaziergang. Sei es der Besuch, der am Internationalen Frauen­tag Pralinés mitbringt.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 16.03.2022

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Kürzlich hatte ich einen seltsamen Traum. Von Putin. Ich sitze neben ihm und frage ihn, warum er uns das alles antut. Als er antwortet, wird mir klar, dass seine eigene Propaganda für ihn zur Wahrheit geworden ist, wie auch für etwa 90 Prozent der Russen und Russinnen. Er kann und will nicht akzeptieren, dass er im Unrecht ist. Auf diesen Traum folgte ein weiterer, in dem Kiew besetzt wird, russische Plünderer durch die Stadt ziehen und auch in unsere Wohnung einzudringen versuchen. Ich erwache, als sie mich erstechen wollen.

In unserem Gebäude wohnen zwei ältere Damen, die eine ist 91, die andere um die 70. Wir bringen ihnen ab und zu Medikamente oder Essen. Am 8. März schauen sie bei uns vorbei – genauer bei Agata –, um mit ihr den Inter­nationalen Frauen­tag zu feiern. Sie bringen Pralinés mit: Sie heissen «Abend in Kiew», ein Klassiker. Wir sind sehr berührt und beschliessen, die Pralinés aufzuheben und erst zu essen, wenn der Krieg vorbei ist.

Feiern mit den Nachbarinnen am Internationalen Frauentag.
Pralinés «Abend in Kiew»: Ein Klassiker.

Auch unser Freund Roma besucht uns. Er ist vor ein paar Tagen nach Kiew zurück­gekehrt. Eigentlich sollte er bis zum Sommer in den USA arbeiten, erst gerade haben wir ihn verabschiedet. Als er sich aber nach seiner Ankunft in den USA hinlegen will, schaut er nochmals auf sein Handy. Und sieht, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Am nächsten Tag bucht er einen Flug nach Warschau. Dort organisiert er zusammen mit einigen Mitarbeitenden eines Hilfs­werks den Transport nach Kiew und fährt mit ihnen hierher.

Nach einem gemeinsamen Mittag­essen bei uns gehen wir spazieren. Wir sprechen lange über Kiew, wie wir uns der Stadt verbunden fühlen und warum wir so gerne hier leben. Während wir durch unser Quartier schlendern, fällt uns auf, dass die Ampeln wieder funktionieren. Die letzten zwei Wochen waren sie ausgefallen, was viele Unfälle zur Folge hatte. Auch freuen wir uns darüber, dass einige kleine Geschäfte wieder offen haben, wenn auch nur für ein paar Stunden am Tag. Wir bekommen sogar einen Kaffee in einem unserer Lieblings­cafés. Es ist natürlich nicht viel los, aber irgendwie gibt uns das alles Hoffnung.

In der Stadt ist wenig los …
… aber die Ampeln funktionieren wieder.
Am Abend wirkt Kiew wie eine Geisterstadt.

Gegen 18 Uhr kehre ich in unsere Wohnung zurück, die Strassen sind leer und verlassen. Tagsüber trifft man durchaus Menschen an, vor allem in der Nähe von Apotheken oder Lebens­mittel­läden. Aber die schliessen spätestens um 17 Uhr, und dann gehen alle rasch nach Hause, um vor der Ausgangs­sperre daheim zu sein. Es hat etwas Surreales, in dieser ansonsten so belebten Gegend ganz allein zu sein. Es fühlt sich an wie in einer Geister­stadt.

Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, fallen umso mehr auf. Vor einigen Tagen zum Beispiel kam uns eine weinende Frau entgegen. Sie will uns Schnee­glöckchen geben, die sie in den Händen hält. Dann bittet sie uns, die ukrainische National­hymne auswendig zu lernen und möglichst oft zu singen, wie ein Gebet. Sie erzählt uns auch, dass sie dem Inhalt dieser Hymne bis jetzt nicht viel Beachtung geschenkt hat, und macht uns auf die letzte Zeile aufmerksam, die ihr besonders bedeutsam erscheint: «Unsere Feinde werden vergehen wie der Tau im Sonnenlicht.»

Gepflückte Schnee­glöckchen.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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