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Aber sicher neutral

Bundespräsident Cassis will in der Geschichte der Schweizer Neutralität ein neues Kapitel schreiben. Kommt das gut?

Von Dennis Bühler, Lukas Häuptli (Text) und Klawe Rzeczy (Illustration), 27.08.2022

Synthetische Stimme
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Liegt es im Wesen des Schweizers? Weder Ja zum einen noch Nein zum anderen. Irgendwo dazwischen, ähnlich im Abstand zu allem. Als gälte ein ungeschriebenes Gesetz der Nicht­positionierung. Die Schweizerin, neutral an sich?

Man könnte es meinen, wenn man die Bevölkerungs­befragungen anschaut, die das Center for Security Studies der ETH Zürich alljährlich durchführt. Selbst 1990 – unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges – waren fast 80 Prozent der Befragten dafür, dass die Schweiz ihre Neutralität beibehält. Der Wert stieg bis Anfang 2022 sogar auf beinahe 100 Prozent. Und nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sprachen sich noch immer fast 90 Prozent für die Schweizer Neutralität aus.

Auch Bundespräsident und Aussen­minister Ignazio Cassis will die Schweizer Neutralität fortführen – aber als kooperative Neutralität. Das schlägt er in einem Bericht vor, den der Gesamt­bundesrat am nächsten Mittwoch verabschieden soll.

Im Papier, über das die «Sonntags­Zeitung», die NZZ und der «SonntagsBlick» berichtet haben, legt Cassis fünf Neutralitäts­konzepte vor. Das der kooperativen Neutralität sei das «zielführendste».

Es sieht vor, dass die Schweiz in Zukunft enger mit der Europäischen Union und der Nato zusammen­arbeitet, namentlich in der Sanktions- und Sicherheits­politik. Auch soll es in Zukunft möglich sein, dass der Bundesrat anderen Staaten erlaubt, Rüstungs­güter aus der Schweiz in Kriegs­gebiete weiterzuleiten, zum Beispiel in die Ukraine. Das ist heute nicht erlaubt; entsprechende Gesuche aus Deutschland und Dänemark hat die Schweiz in den letzten Monaten abgelehnt.

Plötzlich war Neutralität wieder zentral

In der innenpolitischen Debatte der letzten Jahre war die Frage der Schweizer Neutralität kaum von Belang. Es galt die Überzeugung, dass diese einfach irgendwie «dauernd» sein müsse; den Ausdruck hatte der Bundesrat 1993 in seinen letzten Bericht zum Thema geschrieben. Was das genau hiess, unterschied sich von Fall zu Fall.

Doch dann, am 23. Mai und fast auf den Tag genau drei Monate nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, hielt der Bundes­präsident die Eröffnungsrede am Weltwirtschafts­forum in Davos. Es war – gemessen an Cassis’ üblicher rhetorischer Breiten­wirkung – eine bemerkenswerte Rede. Er machte auffallend oft Pausen und liess seinen Blick im Rund ruhen, als wolle er gewahr werden, dass auch wirklich alle den Pathos des Gesagten mitbekommen haben.

Er sagte unter anderem:

«Praktisch über Nacht hat ein Aggressions­krieg einen souveränen Staat in Trümmer gesetzt. (…) Ein Zeitalter der Hoffnung ist zu Ende gegangen.»

«Demokratie muss stärker sein als Gewalt­herrschaft. Völker­recht stärker als Unterwerfung. Recht stärker als Macht. Selbst­bestimmung stärker als Unterdrückung.»

«Diese kooperative Neutralität entspricht der Schweiz. Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Stärkung eigener und gemeinsamer Grundwerte einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Sicherung eigener und gemeinsamer Friedens­bemühungen einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheits­architektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann.»

Cassis in der «Zeitenwende», von der er sprach, das war plötzlich ein Cassis, der sich für Grund­werte und Grund­rechte einsetzte, für Multi­lateralismus und internationale Kooperation.

Was ihn dazu bewegte? Am wahrscheinlichsten ist: Ihm und seinen Beraterinnen wurde im Verlauf des Frühlings bewusst, dass Sympathien und Antipathien im Krieg zwischen der Ukraine und Russland so klar verteilt sind, dass ein Beharren auf dem bisherigen Konzept der «dauernden Neutralität» ungeahnte Folge­schäden haben könnte – für die Schweiz, aber auch für ihn selbst. Immerhin muss er im Dezember 2023 wiedergewählt werden.

Offenbar war der Bundes­präsident gewillt, aus der neutralitäts­politischen Not eine persönliche Tugend zu machen: Er schuf ein Konzept (oder zumindest ein Label). Er erklärte, dass er in der Geschichte der Schweizer Neutralität ein neues Kapitel schreiben wolle, einen «Meilenstein für die Aussen- und Sicherheits­politik». Er wollte sich ein Denkmal setzen, zumindest ein kleines.

Die «kooperative Neutralität» – sie sollte Cassis’ Vermächtnis werden.

Zustimmung von vielen Seiten

Im Mai also hat Cassis das Label der kooperativen Neutralität lanciert, jetzt legt er dem Bundesrat den Bericht dazu vor. In den gut drei Monaten dazwischen hat sich kaum etwas getan. Zwar setzte Cassis eine verwaltungs­interne Arbeits- und eine verwaltungs­externe Experten­gruppe zum Thema ein. In dieser sassen allerdings kaum wirkliche Expertinnen. Mitglieder waren unter anderen ein ehemaliger Armee­chef, ein ehemaliger Bundesamts­direktor, ein ehemaliger IKRK-Direktor, ein ehemaliger Staatsrechts­professor und eine Frau aus dem Vorstand des deutschen Automobil­konzerns Mercedes-Benz.

Mercedes-Benz? Warum denn das? Sowohl das Vorstands­mitglied selbst, Renata Jungo Brüngger, als auch das Aussen­departement lassen die Frage unbeantwortet. Die Medienstelle des EDA hält lediglich fest: «Bei der Auswahl der Mitglieder der Experten­gruppe wurde darauf geachtet, Vertreterinnen und Vertreter aus möglichst verschiedenen Bereichen, in denen die Neutralität eine besondere Rolle spielt, zu berücksichtigen.» Und: «Mit Frau Jungo-Brüngger war einerseits eine zweite Stimme aus der Wirtschaft (neben Economie­suisse) und andererseits eine Perspektive aus dem Ausland auf die Schweiz vertreten.»

Mehrheitsfähig ist die kooperative Neutralität zweifellos – ausser bei der SVP, die mit einer Initiative die «immer­währende» Neutralität in der Verfassung verankern will. Doch dazu später.

Sonst aber: viel Zustimmung für Cassis, selbst von der SP, die aussenpolitisch selten mit ihm einig ist. «Kooperative Neutralität geht – zumindest rein begrifflich – in die richtige Richtung», sagt SP-Nationalrat Jon Pult der Republik. Sie erinnere an die «weitsichtige aktive Neutralität», welche die ehemalige SP-Aussen­ministerin Micheline Calmy-Rey vertreten habe.

Kritischer äussert sich Nicola Forster, Gründer des aussenpolitischen Thinktanks «Foraus» und Co-Präsident der GLP Zürich. «Was das Konzept der kooperativen Neutralität taugt, zeigt sich erst bei dessen Umsetzung», sagt er. Da würden sich zentrale Fragen stellen: Wie ist das Verhältnis der Schweiz zur Nato? An welche Staaten soll die Schweiz Waffen liefern? Und gegen welche Staaten soll sie Sanktionen verhängen? «Es ist absehbar, dass den grossen Worten dann kaum Taten folgen werden – und zwar links wie rechts», sagt Forster.

Zur Umsetzung der kooperativen Neutralität sind in der Tat verschiedene Gesetzes­änderungen nötig. Bereits jetzt ist absehbar, dass es diese im Klein-Klein der parlamentarischen Partei­politik nicht einfach haben werden.

Sanktionen gegen China?

Zur grossen Pièce de Résistance für Ignazio Cassis und seine kooperative Neutralität wird aber China werden. Die Grossmacht begeht unter ihrem Staatschef Xi Jinping regelmässig Menschenrechts­verletzungen, etwa in Hongkong, Tibet oder Xinjiang.

Weil dort Uiguren in Lagern leben und Zwangsarbeit verrichten müssen, hat die Europäische Union im März 2021 Sanktionen gegen China verhängt (worauf die Grossmacht umgehend mit Gegen­sanktionen reagierte). Der Bundesrat aber hat bis jetzt offen gelassen, ob er die Sanktionen gegen China übernimmt und damit mit der EU kooperiert.

Die Frage, wie neutral sich die Schweiz gegenüber China verhalten soll, ist noch brisanter geworden, seit US-Parlamentarierin Nancy Pelosi Taiwan besucht hat. In der Folge führte China Anfang August militärische Manöver vor der Insel durch und unterstrich damit, dass es Taiwan zum eigenen Territorium zählt. Genau das aber bestreitet – selten explizit, häufig implizit – die westliche Welt.

Warum also soll der Bundesrat auf Sanktionen gegen China verzichten? Warum die kooperative Neutralität schon wieder fallen lassen?

Weil man sich damit, sagt die wirtschaftsnahe Schweiz, selbst Schaden zufügen würde. Bei den Wirtschafts­beziehungen, den Exporten, der Volks­wirtschaft.

2014 trat ein Freihandelsabkommen in Kraft, seither steigen die Ausfuhren aus der Schweiz nach China Jahr für Jahr. Der Wert der Exporte nahm von rund 16 auf rund 30 Milliarden Franken zu, wie aus der Aussenhandels­statistik des Bundes hervorgeht. Am meisten profitierten die Pharma-, die Uhren- und die Maschinen­industrie.

Stefan Brupbacher, Direktor von Swissmem, dem Verband der Schweizer Maschinen- und Tech-Industrie, sagt denn gegenüber der Republik auch: «Sieben Prozent der Exporte der Schweizer Maschinen­industrie gehen nach China. Für bestimmte Unter­branchen, etwa für die Werkzeug­maschinen-Branche, ist China sogar einer der wichtigsten Absatzmärkte.» Keine Überraschung, dass er sich dezidiert gegen Sanktionen ausspricht: «Diese würden in China nichts bewirken, sondern einzig der Schweiz selber schaden.»

Zögerliche Kehrtwende

Anders als jetzt bei China stellte sich die Frage, wie sich die Schweiz positioniert, im Jahr 2014 kaum. Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte, machte der Bundesrat, was er in aussen­politisch heiklen Fällen am liebsten tut: so gut wie nichts.

Statt die von den USA und der EU verhängten Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, traf er lediglich Massnahmen, damit die Sanktionen nicht über die Schweiz umgangen werden konnten. Diese Passivität nutzte natürlich auch der Schweizer Wirtschaft. Zwar gingen die Ausfuhren nach Russland im Jahr 2015 um etwa 20 Prozent zurück; EU-Staaten aber mussten deutlich grössere Einbussen hinnehmen.

Als Wladimir Putin seine Truppen dann am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschieren liess, reagierte der Bundesrat zunächst so, als handle es sich um aussen­politischen Courant normal. Wie acht Jahre zuvor berief sich die bürgerliche Mehrheit des Bundesrats als Erstes auf die strikte Neutralität der Schweiz. Namentlich Wirtschafts­minister Guy Parmelin sowie Aussen­minister und Bundes­präsident Ignazio Cassis rieten, die Sanktionen nicht zu übernehmen, sondern lediglich Massnahmen zur Verhinderung von deren Umgehung zu treffen. Doch der Druck der EU und der USA auf die Schweiz nahm innert Tagen so stark zu, dass der Bundesrat am 28. Februar eine komplette Kehrt­wende verkündete: Er übernahm sämtliche Sanktionen der EU gegen Russland.

«Ein in diesem Umfang einmaliger Schritt der Schweiz», kommentierte Cassis vor den Medien.

In den folgenden Wochen zeigte sich allerdings, dass mit der vollständigen Übernahme der EU-Sanktionen längst nicht alle Fragen geklärt waren. So teilte Cassis’ Aussen­departement im Juni mit, wegen der schweizerischen Neutralität keine Kriegs­verletzten aus der Ukraine aufnehmen zu können, um wenige Tage (und viel Kritik) später die gegenteilige Position zu vertreten. Und es bot an, im Rahmen eines Schutzmacht­mandats für die Ukraine die Interessen­vertretung in Russland zu übernehmen, was vom Kreml jedoch entrüstet abgelehnt wurde, weil die Schweiz in diesem Konflikt nicht mehr neutral sei.

Blochers Besuch

Drei Tage nachdem Cassis von einem «einmaligen Schritt» gesprochen hatte, erhielt er Besuch im Bundeshaus West, dem Sitz seines Aussen­departements.

Christoph Blocher war nach Bern gereist, um dem Aussen­minister und Bundes­präsidenten mitzuteilen, er werde mit massiver Gegenwehr zu rechnen haben. So erzählt es der Alt-Bundesrat der SVP der Republik. «Cassis hat mich gebeten, auf die Lancierung einer Volks­initiative zu verzichten, weil dies zu einer Zerreiss­probe führen könne wie bei der EWR-Abstimmung vor 30 Jahren», sagt Blocher. «Ich antwortete: Wenn wir ohne Zerreiss­probe das Falsche machen müssen, ziehe ich eine Zerreiss­probe vor.»

Knapp drei Monate später traf sich Christoph Blocher am 23. Mai mit Gleichgesinnten am Zürcher Haupt­bahnhof, um über die Formulierung seiner Volks­initiative zu diskutieren. Am selben Tag, als Ignazio Cassis am WEF in Davos erstmals von «kooperativer Neutralität» sprach.

Inzwischen liegt die Volks­initiative bei der Bundes­kanzlei zur Vorprüfung, noch dieses Jahr könnte die Unterschriften­sammlung starten. Das Ziel Blochers: die Rückkehr zur «integralen Neutralität».

In einem 17-seitigen Gutachten, das der 81-jährige SVP-Politiker beim Zürcher Staats­rechtler Andreas Glaser in Auftrag gab und das der Republik vorliegt, heisst es: Werde die Initiative angenommen, «dürften Bundesrat und Bundes­versammlung keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten mehr verhängen. Dies gälte sowohl für eigenständige Sanktionen als auch für die Übernahme der Sanktionen anderer Staaten.»

Glaser habe ihn gewarnt, seine Volks­initiative enge den Spielraum der Politik stark ein, erzählt Blocher. Worauf er geantwortet habe: «Genau das ist das Ziel!»

Die Handlungsmacht des Bundesrats müsse beschränkt werden, weil er sich im Kriegsfall viel zu sehr von der Aktualität, Druck­versuchen aus dem Ausland sowie der jeweiligen Stimmungs­lage in der Bevölkerung treiben lasse. «Kommt die Volks­initiative durch, können die Regierenden nicht mehr alles tun, was sie wollen», sagt Blocher. «Sie sind dann eventuell ‹zum Stillsitzen gezwungen›, wie die alten Eidgenossen sagten.»

Ich will es genauer wissen: Was Blochers Volks­initiative verlangt

Bis anhin definiert die Bundesverfassung die Neutralität inhaltlich nicht. Und sie erklärt sie auch weder zum Staatszweck noch zum verfassungs­rechtlich zwingenden Ziel der Schweizer Aussenpolitik. Entsprechend findet sich die Neutralität auch erst sehr weit hinten, in den Artikeln 173 und 185 (von insgesamt 197).

Dies will Christoph Blocher ändern – und die Neutralität zum eigenständigen Staats­zweck befördern, an den sämtliche Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden gebunden wären. Sein Initiativ­komitee, dem er selbst aus Alters­gründen nach eigenen Angaben allerdings gar nicht angehören will, schlägt die Ergänzung von Artikel 54 («Auswärtige Angelegenheiten») vor. Unter dem Titel «Schweizerische Neutralität» hiesse es im dann neuen Artikel 54a:

1. Die Schweiz ist immerwährend bewaffnet neutral.

2. Sie tritt keinem militärischen oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit für den Fall eines militärischen Angriffs auf die Schweiz oder dessen Vorbereitungs­handlungen.

3. Sie beteiligt sich nicht an militärischen Auseinander­setzungen zwischen Drittstaaten und trifft keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Uno sowie Massnahmen zwecks Verhinderung der Umgehung von Massnahmen anderer Staaten.

4. Sie nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Beseitigung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

Bis heute orientiert sich Blocher an der sogenannt integralen Neutralität, die im Zweiten Weltkrieg bedeutete, dass sich die Schweiz nicht an Wirtschafts­sanktionen gegen Kriegs­parteien beteiligt, sondern den Handel mit ihnen weiterführt.

Auch während des Kalten Krieges legte die Schweiz ihre Neutralität zuweilen opportunistisch aus. So weigerte sie sich, die Uno-Sanktionen gegen das südafrikanische Apartheid-Regime mitzutragen – und profitierte wirtschaftlich massiv, indem sie Gold- und Diamanten­handel betrieb und Kriegs­material lieferte. Einer der Profiteure: der damalige Unternehmer und SVP-Präsident Christoph Blocher. Dennoch behauptet dieser heute, er habe in Südafrika keine geschäftlichen Interessen verfolgt.

Hingegen gibt auch Blocher zu, dass Unternehmen wie seine EMS-Chemie stark von der Schweizer Neutralität profitierten. «Es ist von Vorteil, als Unparteiischer zu kommen, weil man mit allen ohne Macht­interessen geschäften kann», sagt er. «Kein Geschäfts­kunde braucht Angst zu haben, sich mit uns zu liieren. Ich habe keine Hemmung zu sagen, die Neutralität nütze der Schweizer Wirtschaft – aber ist das denn eine Schande?»

Kritik aus der Wissenschaft

1993 veröffentlichte der Bundesrat einen ausführlichen Bericht zur Zukunft der Neutralität. Angesichts der Heraus­forderungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, schrieb das Gremium unter Leitung des damaligen Bundes­präsidenten Adolf Ogi (SVP), dürfe «die Neutralität nicht als Haltung des Stillsitzens und des Abseits­stehens verstanden werden».

Bereits in diesem Bericht klingt an, was Ignazio Cassis heute als seine Erfindung wiedergibt: «Zur Wahrung der schweizerischen Interessen ist eine aktive aussen­politische Haltung der umfassenden Solidarität, der regionalen und weltweiten Kooperation und Partizipation notwendig», heisst es. Es erscheine deshalb zweckmässig, wenn die Schweiz «ihre bisherige, eher restriktive Haltung in Richtung vermehrter Kooperation mit anderen Staaten ändert».

Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen von Neutralität im Verlauf der Schweizer Geschichte erstaunt es nicht, dass Kritik an Cassis’ Konzept der kooperativen Neutralität von wissenschaftlicher Seite kommt. «Bei der Bestimmung der Neutralität gibt es kein Schema, das immer funktioniert», sagt uns Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. Die Bandbreite der Situationen, in denen sich die Schweiz neutralitäts­politisch positionieren müsse, sei gross. Deshalb solle sich die Schweiz nicht auf ein bestimmtes Neutralitäts­verständnis festlegen, sagt Diggelmann, geschweige denn eines in die Verfassung schreiben. «Ich halte es im Gegenteil für klug, dass sich die Schweiz Spielräume offenhält. Und dass sie sich bewusst ist, dass diese Spielräume immer wieder ändern.»

Neutralität: Ein Begriff, der immer wieder anders verstanden wird. Mal bedeutet er gleichen Abstand zu allem. Mal keinen zur einen Seite und viel zur anderen. Wahrscheinlich ist gerade diese Schwammigkeit der Grund dafür, dass in den Befragungen der ETH Zürich mindestens acht von zehn Personen die Fortführung der Schweizer Neutralität fordern. Immer. Immer und unabhängig davon, was in der Welt gerade passiert.

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