
Was tun mit den Bösesten der Bösen?
Sie haben getötet, vergewaltigt oder Brände gelegt. Dafür werden sie bestraft – und einige zusätzlich noch verwahrt. Manche für immer. Ist das gerecht? Die Autorin Susan Boos hat darüber ein Buch geschrieben.
Von Brigitte Hürlimann, 03.08.2022
Ihnen liegt etwas am Rechtsstaat? Uns auch. Deshalb berichten wir jeden Mittwoch über die kleinen Dramen und die grossen Fragen der Schweizer Justiz.
Lesen Sie 21 Tage zur Probe, und lernen Sie die Republik und das Justizbriefing kennen!
Wer eine schwere Straftat begeht und dabei erwischt wird, der landet vor Gericht (kleinere Delikte hingegen und damit die allermeisten Fälle werden von der Staatsanwaltschaft im Strafbefehlsverfahren abgehandelt). Kann dem Täter das Verbrechen hieb- und stichfest nachgewiesen werden und ist er zur Tatzeit zurechnungsfähig, so wird er schuldig gesprochen und verurteilt.
Das heisst, mit anderen Worten, die Richterinnen haben über Strafen und Massnahmen zu entscheiden. Das ist nicht das Gleiche, und es muss auch nicht zwingend beides verhängt werden. Als Strafe gilt in der Schweiz eine Busse, eine Geldstrafe und eine Freiheitsstrafe – oder die Kombination von allem – bedingt, unbedingt oder teilbedingt ausgesprochen.
Aber was ist eine Massnahme?
Was harmlos klingt, hat schwerwiegende Folgen für die Betroffenen, obwohl eine Massnahme in der Logik des Strafrechts nicht der Vergeltung dient – und deshalb auch bei Schuldunfähigen verhängt werden kann. Sie hat einen präventiven Zweck. Sprich: Es geht in erster Linie um die Sicherheit der Bevölkerung. Die schärfste aller Massnahmen ist die Verwahrung. Anders als bei der Freiheitsstrafe (mit Ausnahme der lebenslangen) hat sie kein definiertes Ende. Verwahrte Menschen bleiben so lange eingesperrt, bis die Behörden davon ausgehen, dass sie sich in der Freiheit bewähren, nicht rückfällig werden.
Bei der 2004 per Volksabstimmung eingeführten lebenslangen Verwahrung sind die Hürden für eine Entlassung noch höher; es müssen «neue wissenschaftliche Erkenntnisse» über die Behandelbarkeit der Täter vorliegen.
Susan Boos hat sich lange und intensiv mit der Verwahrung befasst und darüber ein Buch geschrieben: «Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens». Für ihre Recherche traf sich die 59-jährige St. Galler Journalistin und Autorin im In- und Ausland mit Tätern, Gefängnisdirektorinnen, Anwälten, Gerichtspsychiaterinnen und Angehörigen.
Die Meinungen über die Verwahrung fallen höchst unterschiedlich aus. Die Autorin aber zieht ein klares Fazit.
«Susan Boos, angenommen, wir würden hier und heute über die Abschaffung der Verwahrung abstimmen: Was stünde auf Ihrem Abstimmungszettel?»
Verdutzter Blick von gegenüber. Mit dieser Einstiegsfrage hat meine wortgewandte Gesprächspartnerin nicht gerechnet. Doch lange überlegen muss sie nicht. Ein Schluck Wasser, dann folgt die Antwort, und sie fällt deutlich aus – keine Spur von Zweifel.
«Ja», sagt Susan Boos, «ich würde ein Ja auf den Abstimmungszettel schreiben. Ich würde die Initiative zur Abschaffung der Verwahrung annehmen.»
«Und warum?»
«Die Verwahrung ist eine Form des präventiven Strafens. Dahinter steckt die Befürchtung, jemand könnte in der Zukunft wieder etwas machen. Doch Präventivstrafen sind rechtsstaatlich bedenklich. Sie fransen immer aus. Sie öffnen Tür und Tor dafür, dass gesellschaftlich unerwünschte Menschen auf unbestimmte Zeit weggesperrt werden. Das zeigt uns die Geschichte. Früher waren es vielleicht Fahrende oder Menschen mit einem ‹liederlichen Lebenswandel›. Heute sind es andere, morgen stehen die nächsten im Fokus. Leute werden aus dem Verkehr gezogen. Davon sind mehr betroffen, als man gemeinhin denkt.»
Auch Mörder haben Anspruch auf eine Perspektive
Das sind unzweideutige und doch überraschende Bedenken einer Autorin, die sich für ihre Buchrecherche mit den schlimmsten Straftätern auseinandergesetzt hat; mit Killern, Serienvergewaltigern, Neonazis, Kinderschändern, Brandstiftern – lauter Männer, übrigens.
Mehrfach erwähnt Boos in ihrem Buch, dass es doch verständlich sei, wenn die Bevölkerung einen Täter wie den Vierfachmörder von Rupperswil nicht mehr in der Freiheit wissen wolle. Im Gespräch mit der Republik betont sie aber sogleich, auch Menschen wie der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik oder eben dieser Mörder aus dem Aargau hätten Anspruch auf eine Perspektive. Man dürfe ihnen nicht von vornherein sagen, dass die Türen endgültig verschlossen blieben. Das sei eine feige Art von Todesstrafe. Doch dazu später mehr.
Warum also lehnt Susan Boos die Verwahrung ab? Und was sind die Alternativen? Was tun mit den Bösesten der Bösen, wenn man sie nicht für immer und ewig einsperren soll?
Mit dieser Frage konfrontiert die Autorin sämtliche Fachleute, mit denen sie spricht, in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich und in den Niederlanden. Aus dem Strauss an Antworten und Meinungen, aber auch geprägt von den Begegnungen und Gesprächen mit Verwahrten, zieht Boos folgendes Fazit: Es sei «konsequenter, logischer und aufrichtiger», über schärfere Strafen für schlimme Delikte nachzudenken, als die Täter präventiv und perspektivenlos auf unbestimmte Zeit einzusperren – nachdem sie ihre Strafe ja bereits verbüsst haben.
Eine «moderne Form der Todesstrafe»
Prävention hat für die Autorin nicht nur etwas Unberechenbares und Unkontrollierbares – etwas, das «ausfranst» –, sondern auch etwas Endgültiges. «Ein bisschen Prävention geht so wenig wie ein bisschen tot», schreibt sie in ihrem Buch.
Über die Idee, dass es fairer und transparenter wäre, harte Strafen auszusprechen, anstatt die Leute präventiv und open end einzusperren, unterhält sich Boos mit dem Berner Strafrechtsprofessor Martino Mona. Der Interviewte sagt Erstaunliches. Zum Beispiel:
Der Präventionismus im hiesigen Strafrecht ist eine sterile und nur vordergründig weniger brutale Form des Handabhackens.
Die Verwahrung stellt eine moderne Form der Todesstrafe dar.
Die Todesstrafe wiederum ist das Nonplusultra der präventiven Strafe – eine konsequentere Prävention gibt es nicht.
Das künftige Verhalten der Menschen lässt sich weder bemessen noch voraussagen; auch nicht von Gerichtspsychiatern, die sich als eine Art von «modernen Wahrsagern» betätigen.
Präventiv Eingesperrte werden entmenschlicht.
«Susan Boos, Sie haben Bücher über Tschernobyl, Fukushima und die Atomwirtschaft in der Schweiz geschrieben. Wie sind Sie bloss auf die Verwahrung gekommen?»
Kein Verdutzen, dieses Mal.
Wir haben uns längst ins Feuer geredet, und beide kennen wir das Thema aus dem Effeff: die kontroversen Diskussionen unter Fachleuten und Politikerinnen, die Zustände in den hiesigen Strafanstalten. Zum Teil sind wir sogar den gleichen Verwahrten begegnet.
Sie sagt, sie habe sich schon früh mit Justiz und Gefängnissen auseinandergesetzt, «Überwachen und Strafen» des französischen Philosophen Michel Foucault habe sie geprägt. Mitte der Nullerjahre wurde sie Redaktionsleiterin der WOZ und begann die Briefe aus den Anstalten zu lesen, die regelmässig auf der Redaktion eintrafen. Nicht wenige der Absender waren Verwahrte. Die meisten verzweifelt.
Susan Boos schrieb zurück, traf die Briefeschreiber in den Gefängnissen, nahm an Strafprozessen teil.
Kein Ruhestand im Gefängnis
Einer der Verwahrten, den wir beide kennen und den Boos seit Jahren begleitet, ist Beat Meier. Wegen sexueller Handlungen mit seinen Stiefsöhnen (eine Tat, die er bestreitet) und weil er einschlägig vorbestraft ist, wird Meier 2003 vom Zürcher Obergericht zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Doch im Gefängnis sitzt der inzwischen betagte und gesundheitlich angeschlagene Mann schon seit über einem Vierteljahrhundert – er ist zusätzlich zur Strafe auch noch verwahrt worden.
Meier lässt sich im Gefängnis nicht therapieren (weil er seine Unschuld beteuert) und gilt deshalb als uneinsichtig und gefährlich. Aus rein präventiven Gründen bleibt er hinter Gittern, einem strengen Haftregime unterworfen – obwohl er seine Strafe um ein Vielfaches abgesessen hat.
Vergeblich hat Meier unter anderem darum gekämpft, wenigstens nicht mehr arbeiten zu müssen, in den Ruhestand versetzt zu werden. Das Pensionsalter hat er längst überschritten. Doch das Bundesgericht lehnt sein Begehren 2013 ab. Das Arbeiten im Gefängnis habe eine andere Funktion als draussen, heisst es im Urteil. Es gehe um eine sinnvolle Tagesstruktur und um Beschäftigung. Das gelte auch für alte Insassen und sei doch nur zu ihrem Besten.
Dass in der Schweiz die Verwahrten gleich behandelt werden wie Straftäter und am gleichen Ort untergebracht sind – eben in Gefängnissen –, wird von Susan Boos und von manchen ihrer Gesprächspartnerinnen kritisiert.
Ein «Dorf der Supergefährlichen»
In Deutschland beispielsweise ist per Rechtsprechung das Abstandsgebot eingeführt worden. Das war 2004, als das Bundesverfassungsgericht befand, eine unbefristete Verwahrung sei zwar zulässig, aber die Art des Vollzugs müsse geändert werden. Das heisst: Verwahrte sind anders zu behandeln als Straftäter, die ihre Strafe verbüssen. Die beiden Insassengruppen sind zu trennen. Verwahrte dürfen weiterhin eingesperrt werden, sie haben jedoch Anspruch auf ein «möglichst normales Leben.»
Wie ein «möglichst normales Leben» für eingesperrte Menschen aussehen kann, beschreibt Susan Boos anhand eines Besuchs in der deutschen Anstalt Rosdorf, am Stadtrand von Göttingen in Niedersachsen gelegen. 45 Männer leben hier in kleinen Wohnungen, die mit Gemeinschaftsräumen, einer Gemeinschaftsküche, einem Fitnessraum und einem Garten ergänzt werden. Die Bewohner kaufen im anstaltseigenen Laden ein (es gibt sogar alkoholfreies Bier), können von einem grossen Freizeitangebot Gebrauch machen, sich tagsüber auf der Abteilung frei bewegen und auch unbeschränkt telefonieren.
Sie haben zudem Anspruch auf regelmässige Ausflüge in die Aussenwelt – begleitet, in aller Regel. Abends allerdings werden auch in dieser Anstalt die Türen der Insassenwohnungen von aussen geschlossen.
Noch einen Schritt weiter gehen die Niederländerinnen, die in der Nähe von Nijmegen ein «Dorf der Supergefährlichen» geschaffen haben, wie es Susan Boos in ihrem Buch nennt. Die Idee ist bestechend – und sie scheint zu funktionieren.
Die Autorin beschreibt, wie sie zu Fuss die Ortschaft Zeeland durchquert, beim Landgasthof links abbiegt, ein Zuckerrübenfeld entlanggeht und schliesslich am Ende einer Wiese und vor einem Wald stehen bleibt. Dort tauche «es» auf. «Von ferne glaubt man einen Logistikbetrieb vor sich. Ein Zaun, einige flache Gebäude und ein Parkplatz mit Autos. Hier wohnen die gefährlichsten Menschen der Niederlande.»
Wohlgemerkt: ohne Mauern, ohne Wachtürme, mit freier Sicht auf Wiesen und Felder. Oder auf den Sonnenuntergang.
Zum Zeitpunkt ihres Besuchs leben 93 Menschen im Spezialdorf, 3 von ihnen sind Frauen, und alle haben sie getötet, vergewaltigt oder Brände gelegt. Es gibt ein Pony, Schweine, Ziegen, Hühner, und manchmal watschelt sogar eine Entenfamilie mitten durchs Areal. Innerhalb des Zauns bewegen sich die allermeisten der Bewohner tagsüber frei, auch zusammen mit ihren Gästen. Bloss am Abend werden die Türen von aussen verriegelt.
Arbeiten ist erlaubt, aber keine Pflicht.
Doch das Erstaunlichste ist: Die Hälfte der Bewohner kommt wieder raus. Das «Dorf der Supergefährlichen» muss keine Endstation sein. Der Anstaltsdirektor erzählt von einem ehemaligen Bewohner (von Insassen mag er nicht sprechen), der heute an Polizeiakademien und an Schulen referiert.
Ernsthaft über Vergeltung sprechen
«Also, Susan Boos, nochmals: Wohin mit den Bösen?»
Man müsse ernsthaft über Vergeltung sprechen, schreibt die Autorin in ihrem Buch, «anstatt der Prävention alles zu opfern». Solche Überlegungen seien notwendig, auch wenn es wehtue und beklemmend sei, schärfere Strafen zu fordern.
Im Gespräch fügt Susan Boos an, dass auf jeden Fall der Vollzug der Verwahrung geändert werden müsse.
«Ich würde in der Schweiz ein Verwahrtendorf entwickeln, nach dem niederländischen Vorbild. Das Dorf wäre zwar abgeschottet und gesichert, würde innerhalb des Zauns aber so viel Normalität wie nur möglich zulassen.» Wichtig sei, sagt Boos, dass das Dorf für die Angehörigen gut erreichbar sei, Besuche nicht zusätzlich erschwert würden. «Die Insassen, mit denen ich gesprochen habe, wären froh, wenn in der Schweiz nur schon das Abstandsgebot eingehalten würde. Wenn sie freier telefonieren könnten, mehr Besuch empfangen, selbst kochen und Zugang zum Internet hätten – wenn auch kontrolliert. Es gibt keinen Grund, ihnen all dies zu verweigern.»
Susan Boos ist seit Anfang 2021 im Teilzeitpensum operative Präsidentin des Schweizer Presserats, der hiesigen Beschwerdeinstanz für medienethische Fragen. Brigitte Hürlimann ist Mitglied der Stiftung Schweizer Presserat, des strategischen Führungsorgans, das unter anderem die Präsidentin und die Presseratsmitglieder wählt sowie über das Budget wacht.
Illustration: Till Lauer