Am Gericht

«Strafrecht dient zu oft politischen Zwecken»

Staatsanwälte haben viel Macht: Sie entscheiden die meisten Strafverfahren selber und müssen ihre Entscheide nicht mal begründen. Staatsanwalt Christoph Ill über die rechtsstaatlich heikle Rolle seines Berufsstands.

Ein Interview von Dominique Strebel, 09.12.2020

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Staatsanwältinnen sind im Strafrecht die entscheidenden Player: Sie führen nicht nur die Straf­untersuchungen, sondern entscheiden 98 Prozent der Fälle gleich selbst. Sie stellen Verfahren ein oder erlassen einen Straf­befehl – eine Art Urteils­vorschlag, der dann zum Urteil mutiert, wenn ihn die Verurteilten akzeptieren. Nur wenn eine Verurteilte Einspruch erhebt, beugt sich ein Gericht über die Sache – oder in jenen Fällen, in denen die beantragten Sanktionen höher liegen als sechs Monate Freiheits­strafe oder 180 Tages­sätze Geldstrafe: Das ist die Obergrenze für Straf­befehle. Richter werden damit zu Nebenfiguren. Sie entscheiden weniger als zwei von hundert Straffällen.

Nur so könne die Flut der Straf­verfahren schnell und kosten­günstig bewältigt werden, argumentieren Politikerinnen, Richter und Staats­anwältinnen. Doch das Strafbefehls­verfahren hat einige Konstruktions­fehler: Staats­anwälte müssen Beschuldigte vor ihrem Entscheid nicht einvernehmen und ihre Straf­befehle nicht begründen. Auch lässt sich ihre Arbeit schlecht kontrollieren, weil Einstellungs­verfügungen nicht öffentlich aufgelegt und der Zugang zu Straf­befehlen in fast allen Kantonen stark erschwert ist. Alles muss schnell und kostengünstig gehen.

Obwohl Staats­anwältinnen in den allermeisten Straf­verfahren faktisch richten, sind sie in den meisten Kantonen nicht Teil der richterlichen Gewalt (Judikative), sondern der ausführenden (Exekutive). Und sie werden in den meisten Kantonen weder von den Parlamenten noch vom Volk gewählt, sondern vom Regierungs­rat. So hat der ständige Ausbau des Strafrechts Gewalten­teilung und Rechts­staat in Schieflage gebracht. (Besonders heikel ist die Rolle von Staats­anwälten, wenn Fehlverhalten von Polizistinnen untersucht werden soll. Einen Report dazu lesen Sie hier.)

Christoph Ill ist Erster Staats­anwalt des Kantons St. Gallen und kennt die Problematik von Grund auf – er führt seit dreissig Jahren Strafverfahren.

Zum Gesprächspartner

Christoph Ill (59) ist seit Oktober 2018 Erster Staats­anwalt des Kantons St. Gallen. Seit 1990 war er im Kanton St. Gallen als Untersuchungs­richter und später als Staats­anwalt tätig. Zudem ist er Co-Direktor der Staatsanwalts­akademie, die der Universität Luzern angegliedert ist. Im CAS Forensics (und an der Schweizer Journalisten­schule MAZ) unterrichtet er unter anderem Einvernahme­techniken. Christoph Ill ist parteilos.

Ort: Staatsanwaltschaft St. Gallen, St. Gallen
Zeit: 13. November 2020

Wie sieht der Alltag von Staats­anwälten aus? Kommen die ins Büro und wälzen Akten – oder düsen sie an den Tatort und jagen zusammen mit der Polizei Verbrecher?
Es gibt nicht den Staatsanwalt oder die Staats­anwältin. Die Aufgaben sind ganz unterschiedlich. Hat ein regionaler Staats­anwalt Pikett­dienst, sieht seine Woche ganz anders aus als jene einer Wirtschafts­staatsanwältin. Im Pikett­dienst kann es sein, dass am Montag­morgen ein Mord gemeldet wird, am Nachmittag ein schweres Sexual­delikt. Dann werden Einvernahmen, Haus­durchsuchungen und weitere Zwangs­massnahmen oder Gutachten etc. nötig. Eine Wirtschafts­staatsanwältin hingegen studiert je nachdem wochenlang im Büro Akten.

Am Ende einer Strafuntersuchung fällen Staats­anwälte meist auch gleich das Urteil.
Aber nicht bei den oben erwähnten schweren Fällen wie Mord, schweres Sexual- oder Wirtschaftsdelikt.

Trotzdem: In mehr als 98 Prozent aller Straf­verfahren entscheiden heute Staats­anwältinnen und nicht Richter. Wie erklären Sie das?
Dafür sind unsere National- und Stände­räte verantwortlich. Sie haben in den letzten Jahren unglaublich viel Verhalten für strafbar erklärt. Wenn Sie zum Beispiel Ihren Hund nicht anmelden, gibt es ein Straf­verfahren. Wenn Sie Ihre Parkbusse nicht bezahlen, landet das auf dem Tisch der Staats­anwaltschaft. Wenn Sie im öffentlichen Verkehr keine Hygiene­maske tragen und verzeigt werden, gibt es ein Straf­verfahren. So erklärt sich die hohe Zahl von 98 Prozent aller Straf­verfahren, die Staats­anwälte entscheiden. Es sind nämlich zur Hauptsache Bagatell­fälle. Und im Ernst: Ich verstehe nicht, wieso all diese Bagatellen im Rahmen eines formellen Straf­verfahrens abgehandelt werden müssen. Werden Strafen inflationär, verlieren sie ihre Wirkung. Strafrecht sollte Ultima Ratio sein – das schärfste Mittel einer Gesellschaft.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Strafrecht dient viel zu oft politischen Zwecken. Taucht in der Gesellschaft ein neues Problem auf, ist es für Politikerinnen und Politiker attraktiv, einfach eine Strafnorm zu fordern. Andere Massnahmen sind aber oft deutlich erfolgreicher.

Welche denn?
Verbesserte Information und Prävention.

Sollte man Strafen im Bagatell­bereich also abschaffen?
Im Bagatellbereich kann man Strafen durch eine Art Lenkungs­abgaben ersetzen, wie Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer das schon vorgeschlagen hat. Das fände ich sinnvoll, auch wenn man die konkrete rechtliche Regelung wie etwa die Verfahrens­rechte noch im Detail abklären müsste.

Ist Corona ein Beispiel für unnötige Strafen im Bagatellbereich?
Ja und nein. Bei Corona sollte der Staat das Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern vor allem über Information und Appell an die persönliche Verantwortung steuern. Aber offenbar brauchen wir einen Befehl von oben, bis wir machen, was jeder bereits freiwillig vorkehren könnte: Maske tragen, Distanz halten, Hände waschen.

Wir warten also auf die Norm, bis wir unser Verhalten anpassen.
Ja, das hat die Einführung der Masken­pflicht im öffentlichen Verkehr gut gezeigt. Und dann muss der Staat entscheiden, was passiert, wenn die Norm nicht eingehalten wird. Bei der Masken­pflicht kann die Strafe zumindest als Denkanstoss wirken. Nach zwei, drei Strafen, über die auch Medien berichten, richten sich die meisten Leute danach. Flachen die Ansteckungs­zahlen aber ab, verliert eine solche Strafnorm an Legitimation. Dann ist von Polizei und Staats­anwältinnen viel Augen­mass gefragt.

Sind die Strafnormen zu Corona klar?
Nein. Die gesetzliche Grundlage ist kompliziert und widersprüchlich. Die Verordnungen wurden ja auch im Rekord­tempo erstellt und geändert. Zum Teil mussten wir die Verordnungen gestützt auf Aussagen von Bundes­räten an Medien­konferenzen auslegen.

Zurück zur Grundsatzfrage: In 98 Prozent der Straf­verfahren entscheiden nicht mehr Richterinnen, sondern Staats­anwälte. Ist das rechts­staatlich nicht bedenklich?
Diese Frage müssen Sie dem Gesetz­geber stellen, nicht mir. Aber klar ist: Es kostet weniger, wenn Staats­anwältinnen mittels Straf­befehlen selbst Entscheide fällen können und es nicht in allen Fällen Richter tun. Wenn Staats­anwälte alle Verfahren vor Gericht zur Anklage bringen würden, bräche das Justiz­system zusammen.

Hatten die Staatsanwälte schon immer eine so grosse Macht?
Nein. Im Kanton St. Gallen durften Staats­anwälte lange nur Freiheits­strafen bis maximal vier Wochen verhängen, später dann drei Monate. Erst seit der eidgenössischen Strafprozess­ordnung von 2011 haben wir die Kompetenz, Freiheits­strafen bis sechs Monate Gefängnis oder Geldstrafen bis 180 Tages­sätze auszusprechen. Dadurch hat natürlich die Zahl der Straf­verfahren, die wir eigenständig entscheiden können, massiv zugenommen.

Staatsanwälte gehören nicht der richterlichen Gewalt an, sondern der Exekutive, und trotzdem richten sie in 98 Prozent der Fälle. Das widerspricht doch der Gewaltenteilung.
Richtig, wenn sie nur die administrative Unterstellung betrachten. Fachlich beaufsichtigt uns aber die Anklage­kammer des Kantons­gerichts. Sämtliche Verfahrens­handlungen und Verfügungen der Staats­anwaltschaft können mit Beschwerde angefochten werden und unterliegen so einer richterlichen Prüfung. Zudem kann die Anklage­kammer allgemeine Weisungen erlassen, beispiels­weise zum Akten­einsichts­recht nach rechts­kräftigem Strafverfahren.

Trotzdem: Sie wurden vom Regierungs­rat des Kantons St. Gallen gewählt. Sagt Ihnen der Justiz- und Sicherheits­direktor des Kantons St. Gallen auch, wo Sie Ihre Ressourcen einsetzen sollen – zum Beispiel, dass Sie mehr gegen Wirtschafts­kriminelle vorgehen sollen als gegen Drogen­delinquenten?
Diese Entscheide fällen die Mitglieder der Staatsanwalts­konferenz des Kantons St. Gallen – das sind die leitenden Staats­anwälte der regionalen Staats­anwaltschaften, der Jugend­anwaltschaft und ich als Erster Staats­anwalt. Wir setzen die Prioritäten, das tut nicht der Regierungsrat.

Und wie setzen Sie die Prioritäten?
Wir setzen die Ressourcen im Zweifel dort ein, wo die Sozial­schädlichkeit am grössten ist. Wir würden zum Beispiel einen Betrugs­fall, bei dem vor allem ältere Anleger geschädigt und um ihre Pension gebracht wurden, prioritär behandeln gegenüber einem Betrugs­fall, bei dem Anlage­profis Geld verloren haben. Angesichts des Strafverfolgungs­zwanges ist der Spielraum jedoch eng.

Wie prioritär sind Strafverfahren wegen Corona?
Das ist eine Diskussion, die wir intensiv führen. Bei Corona wurden plötzlich Verhaltens­weisen strafbar, die vorher erlaubt waren. Zuallererst hat aber die Polizei mit diesen Fällen zu tun. Und da war es mir ein Anliegen, dass die Polizei mit Augen­mass vorgeht – was sie auch tut. Landet dann ein Fall trotzdem bei uns, ist mir wichtig, dass sofort und schnell eine Strafe gefällt wird. Nur so hat die Strafe die erwünschte Wirkung zur Bekämpfung der Pandemie.

Wenn Staatsanwälte eine Strafe aussprechen, sind sie nicht verpflichtet, Beschuldigte vorgängig einzuvernehmen. Wie oft wird einvernommen?
Genaue Zahlen habe ich nicht, aber Einvernahmen sind auf die gesamte Menge der Strafbefehls­verfahren gesehen eher die Ausnahme.

Staatsanwältinnen schauen meist nur in die Polizei­akten und entscheiden am Bürotisch, ohne den Beschuldigten gesehen zu haben. Ist Ihnen wohl, so zu entscheiden?
Die meisten Fälle sind Bagatell­delikte, die durch eindeutige technische Aufzeichnungen klar belegt sind – etwa Geschwindigkeits­überschreitungen. In vielen Fällen wurden die Beschuldigten bereits von der Polizei einvernommen. Wieso soll ich bei klarem Sachverhalt nochmals vorladen? Damit sie mir nochmals das Gleiche erzählen? Das verstehen Beschuldigte oft nicht. Wie jener Bauer im Toggenburg, dem der Staats­anwalt – wie es das Gesetz vorsieht – zu Beginn der Einvernahme erklärte, er sei nicht verpflichtet, eine Aussage zu machen. Da fragte der Bauer erstaunt: «Wieso lässt du mich dann überhaupt kommen, du Tubel?»

Sind die Polizeiakten verlässlich?
Ja, in der Regel ist die Qualität gut.

Sie unterrichten auch Einvernahme­techniken. Geben Sie uns drei ultimative Tipps, um Leute zum Reden zu bringen.
Gegenfrage: Mit wem reden Sie gerne?

Mit jemandem, der sich für mich interessiert, der sich in mich einfühlt, der Verständnis zeigt und dem ich vertraue, dass er nachvollziehen kann, was ich sage.
Ich habe diese Frage schon oft gestellt – auch Richtern aus Bhutan. Es ergeben sich immer die gleichen Kriterien: Die Befragerin muss vorurteilsfrei sein, empathisch, interessiert und sympathisch. Es geht nicht darum, Beschuldigte zu belehren, sondern darum, möglichst präzise rekonstruieren zu können, was wirklich passiert ist. Darum sind meine drei Tipps: Erstens zuhören, zweitens zuhören und drittens zuhören.

Zurück zu den Einvernahmen, die im Strafbefehls­verfahren ja oft fehlen. In der aktuellen Revision der Strafprozess­ordnung will der Bundesrat Gegensteuer geben. Gemäss seinem Entwurf müssen in Zukunft Staats­anwälte immer einvernehmen, wenn es um Freiheits­strafen ab vier Monaten oder Geld­strafen ab 120 Tages­sätzen geht. Was halten Sie davon?
Ich finde diesen Vorschlag gut. Vier Monate Freiheits­strafe oder eine Geld­strafe von 120 Tages­sätzen sind einschneidend. Da sollte eigentlich zwingend einvernommen werden. Aber die Politikerinnen sollten dann auch konsequent sein und uns mehr Stellen bewilligen. Denn mehr Einvernahmen bedeuten auch mehr Arbeit.

Wie viele zusätzliche Leute brauchen Sie?
Diese Frage muss ich mir nicht stellen. Denn aktuell erhalte ich eh nicht mehr Ressourcen. Erstaunlicherweise sind es gerade jene Politiker, die nach mehr Strafrecht rufen, die uns die nötigen Ressourcen für die Verfahrens­führung nicht bewilligen wollen.

Wenn Staatsanwältinnen eine Strafe aussprechen, müssen sie ihren Entscheid – den Straf­befehl – nicht einmal begründen. Finden Sie das richtig?
Das ist suboptimal. Aber der Gesetzgeber verlangt das halt nicht.

Aber wenn Strafbefehle nicht begründet werden, verstehen die Verurteilten oft gar nicht, warum sie bestraft werden.
Das ist ein Problem. Das wird in der Rechts­wissenschaft auch kritisiert. Aber wie gesagt: Wir Staats­anwälte haben die Regeln zum Strafbefehl nicht erfunden. Das war der Gesetzgeber.

Aber Sie könnten über das hinausgehen, was der Gesetz­geber verlangt.
Dafür müssten wir mehr Ressourcen haben.

Trotzdem: So wirken die Strafen kaum. Die Verurteilte wird nicht einvernommen, erhält einfach einen Brief mit der Strafe ohne Begründung. Viele verstehen nicht, dass sie vorbestraft sind, wenn der Strafbefehl rechtskräftig wird und Urteils­charakter bekommt.
Das ist nicht optimal. Aber gerade deshalb begründen wir im Kanton St. Gallen die Straf­befehle oft, obwohl wir von Gesetzes wegen gar nicht müssten. Das machen wir bei Freiheits­strafen in etwa der Hälfte aller Fälle. Zudem können die Beschuldigten natürlich Einsprache erheben und werden danach einvernommen, bevor es zum ordentlichen Strafprozess kommt.

Viele Kantone erschweren den Medien und der Öffentlichkeit die Kontrolle der Straf­befehle. Man muss vor Ort gehen, um sie einzusehen.
Transparenz ist mir wichtig, damit die Öffentlichkeit kontrollieren kann, ob die Staats­anwaltschaft das Recht korrekt anwendet.

Darum gilt im Kanton St. Gallen eine vorbildliche Praxis: Akkreditierte Journalisten erhalten eine Liste der Straf­befehle per Mail zugestellt und können einzelne Entscheide als PDF bestellen. Machen Sie damit gute Erfahrungen?
Grundsätzlich schon. Aber oft geht es den Medien nicht um die Justiz­kontrolle, sondern um Pranger und Klicks. Boulevard­medien funktionieren nach einem einfachen Schema: Sie kombinieren ein bestimmtes Delikt wie Pornografie mit einem prominenten Namen. Aber unsere Haltung ist: Wir müssen den Anspruch der Öffentlichkeit auf Information rechtlich korrekt gewähren. Was die Medien daraus machen, liegt nicht in unserer Verantwortung.

Illustration: Till Lauer

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Dominique Strebel ist Studien­leiter an der Schweizer Journalisten­schule MAZ, an der Christoph Ill auch unterrichtet.

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