Briefing aus Bern

Kritik an Cassis’ Wortwahl zu Ukraine, die Linke greift die nächste Steuer­senkung an – und eine Ohrfeige für Mütter im Parlament

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (186).

Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 07.04.2022

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Synthetische Stimme
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Sechs Wochen nach Kriegs­beginn in der Ukraine steht Ignazio Cassis stark in der Kritik. Der Grund: Der Bundes­präsident wähle zu vorsichtige Worte für das Massaker in Butscha, einem Vorort von Kiew.

Am Sonntag­abend hatte sein Departement in einer Stellung­nahme auf Twitter von «Geschehnissen» gesprochen, sowie «alle Seiten» aufgefordert, das «humanitäre Völker­recht strikte einzuhalten und die Zivil­bevölkerung zu schützen». Empörte Reaktionen folgten umgehend. Cassis recht­fertigte sich am Montag in einem Interview: «Ganz sicher gab es eine krasse Verletzung des humanitären Völker­rechts.» Ob aber Kriegs­verbrechen vorlägen, sei ein rechtlicher Entscheid. Das müssten die Gerichte klären.

Cassis musste sich wegen seiner Äusserungen in der Aussen­politischen Kommission des Nationalrats erklären – und Jakob Kellen­berger, der ehemalige Spitzen­diplomat und frühere Präsident des Inter­nationalen Roten Kreuzes (IKRK), bezeichnete Cassis’ Verhalten als «Wischiwaschi-Politik».

Während Cassis also am Montag noch erklärte, dass Kriegs­verbrechen «kein Wort der Politik» sei, bewies seine Partei- und Bundesrats­kollegin Karin Keller-Sutter tags darauf genau das Gegenteil: «Zivilisten zu töten, ist ein Kriegs­verbrechen», sagte die Justiz­ministerin in die Fernseh­kameras: Die Bilder aus Butscha würden nahelegen, «dass es sich um Kriegs­verbrechen handeln könnte».

Gestern Mittwoch dann traf sich die Regierung nicht nur zur ordentlichen Bundesrats­sitzung – sondern schloss die Türen hinter sich für eine Klausur zu «spezifischen Aspekten der Ukraine». Dabei tauschte sich der Bundesrat über die Neutralität aus. Entschieden wurde nichts.

Interessant gewesen sein dürften die Diskussionen über einen Input von Guy Parmelin. Der SVP-Bundesrat, dessen Departement haupt­sächlich für die Bewilligung von Waffen­ausfuhren zuständig ist, wollte gemäss «Tages-Anzeiger» über «Kriegsmaterial­exporte nach Europa unter Berück­sichtigung der Neutralität» sprechen. In einer Informations­notiz sei Parmelin aber zum Schluss gekommen, dass es derzeit keinen grösseren Handlungs­bedarf gebe.

Parmelin muss sich derweil gegen Vorwürfe wehren, er sei bei der Umsetzung der Sanktionen gegen Russland zu passiv. Die SP hat eine Aufsichts­beschwerde gegen sein Departement eingereicht: Dieses solle die Sanktionen «umfassend und zeitnah» umsetzen. Das Staats­sekretariat für Wirtschaft solle enger mit den Kantonen zusammen­arbeiten und eine Taskforce einsetzen.

In der Aussen­politischen Kommission des Nationalrats wiederum führte der Verlauf des Kriegs in der Ukraine diese Woche zu einem bemerkens­wert knappen Abstimmungs­resultat: Die Kommission sprach sich mit 13 zu 12 Stimmen gegen einen Handels­stopp mit russischem Gas aus. Noch vor wenigen Wochen wäre ein solches Vorhaben chancenlos gewesen. Der nahe Krieg hat augen­scheinlich Auswirkungen auf die ideologischen Über­zeugungen von manchen Aussenpolitikerinnen.

Und damit zum Briefing aus Bern

Parteien: GLP und Grüne wollen in den Bundesrat, die SVP macht ein Angebot – und Regula Rytz tritt zurück

Worum es geht: Noch dauert es 20 Monate bis zu den Gesamt­erneuerungs­wahlen des Bundesrats. Doch schon heute werden Forderungen gestellt, wird provoziert und gezündelt.

Warum Sie das wissen müssen: Bei den Parlaments­wahlen 2019 waren die Grünen und die Grün­liberalen die grossen Sieger – und seither geht der Höhenflug für beide Parteien auf kantonaler Ebene weiter (wo sie in den letzten zwei­einhalb Jahren auf ein gewichtetes Plus von 2,7 respektive 2,9 Prozent­punkten kommen). Für GLP-Präsident Jürg Grossen wird eine Abkehr von der Zauber­formel damit eine «ernsthafte Option». Konkret: Künftig soll nur noch die wähler­stärkste SVP zwei Bundesräte stellen, die restlichen fünf Sitze sollen an SP, FDP, CVP, Grüne und Grünliberale gehen. Auch die Grünen stellen Ansprüche: «Selbst­verständlich gehören die Grünen in den Bundesrat», sagt die ehemalige Präsidentin Regula Rytz. «Sie haben die Stärke und die Bedeutung einer Regierungs­partei.» Selbst steht die 60-jährige Bernerin, die mit ihrer Kandidatur als Bundesrätin im Dezember 2019 scheiterte, nicht mehr zur Verfügung: Sie tritt im Mai aus dem Nationalrat zurück und übernimmt das Präsidium der Entwicklungs­organisation Helvetas. Auch die SVP nimmt bereits die Bundesrats­wahlen 2023 in den Blick – und macht der SP ein unmoralisches Angebot. Wenn Verkehrs­ministerin Simonetta Sommaruga im laufenden Jahr zurücktrete, sei die SVP bereit, sie mit einer Sozial­demokratin zu ersetzen, sagte Fraktionschef Thomas Aeschi. Wenig über­raschend will sich die SP nicht unter Druck setzen lassen.

Wie es weitergeht: Das eidgenössische Parlament wird am 22. Oktober 2023 neu gewählt, allfällige zweite Wahlgänge für die Ständerats­sitze finden vier oder fünf Wochen später statt. Am 13. Dezember 2023 wählen dann 246 Parlamentarier sieben Bundes­rätinnen – aus welchen Parteien auch immer.

Medienförderung: Kommission will Teile des Pakets retten

Worum es geht: Die für Medien­politik zuständige Kommission des Nationalrats will die in den Parlaments­debatten unbestrittenen Teile des kürzlich gescheiterten Förder­pakets neu auflegen. Unterstützen will sie insbesondere die Nachrichten­agentur Keystone-SDA, den für medien­ethische Fragen zuständigen Presserat sowie Aus- und Weiterbildungs­institutionen wie die Journalisten­schule MAZ – alle drei Organisationen haben finanzielle Schwierigkeiten. Ganz knapp hat sich die Kommission zudem dafür ausge­sprochen, wegen der Pandemie auch 2022 zusätzliche Gelder an Print­medien auszuschütten; profitieren sollen nur Unter­nehmen, die keine Dividenden auszahlen.

Warum Sie das wissen müssen: Seit dem Nein der Stimm­bevölkerung am 13. Februar ist in der Medien­politik vieles ungewiss. Klarheit herrscht dank der am Wochenende publizierten Vox-Analyse jedoch über den Haupt­grund für die damalige Ablehnung: Die meisten Nein-Stimmenden erklärten ihren Entscheid damit, dass das Medien­paket zu einer ungerechten Verteilung der Gelder geführt hätte. Konkret: dass die grossen Medien­konzerne zu viel erhalten hätten. Tatsächlich wäre ein beträchtlicher Teil der Förder­gelder an die TX Group, an CH Media und die NZZ gegangen, die in den letzten Wochen allesamt sehr hohe Gewinne für das zurück­liegende Jahr auswiesen. Während dieser Befund nicht überrascht, weil die Gross­konzerne im Abstimmungs­kampf im Fokus standen, ist eine andere Erkenntnis der Vox-Analyse erstaunlich: Ausgerechnet in der Alters­gruppe der 18- bis 29-Jährigen – die immer wieder als News-depriviert bezeichnet wird – erreichte das Medien­paket eine Mehrheit.

Wie es weitergeht: In den nächsten Wochen beginnen die SVP, der Gewerbe­verband und die Jung­freisinnigen mit dem Sammeln von Unter­schriften für ihre Volks­initiative «200 Franken sind genug», mit der sie die Radio- und Fernseh­gebühren markant senken möchten. Den Befürwortern einer starken SRG sollte die Vox-Analyse zu denken geben: Denn obwohl das gebühren­finanzierte Medien­unternehmen vom Förder­paket gar nicht betroffen gewesen wäre, erklärt kein anderer Faktor den individuellen Abstimmungs­entscheid besser als die jeweilige Einstellung gegenüber der SRG. «Wer der SRG mindestens hohes Vertrauen schenkt, hat mehrheitlich Ja gestimmt», heisst es in der Analyse. Wer ihr jedoch nicht vertraue, habe klar Nein gestimmt.

Referendum gegen Abschaffung der Verrechnungs­steuer eingereicht

Worum es geht: Ein linkes Komitee will an das erfolg­reiche Referendum gegen die Abschaffung der Stempel­steuer anknüpfen: SP, Gewerkschaften und Grüne haben ihr Referendum gegen die teilweise Abschaffung der Verrechnungs­steuer eingereicht. Im Dezember hatte das Parlament die Reform beschlossen. Es will damit den Finanz­platz stärken und das Geschäft mit der Fremdkapital­finanzierung wieder in die Schweiz holen. Das Referendums­komitee sieht darin einen «Freipass zur Steuer­kriminalität für Vermögende aus dem In- und Ausland.»

Warum Sie das wissen müssen: Die Verrechnungs­steuer soll garantieren, dass es nicht zur Steuer­hinterziehung kommt. Sie beträgt 35 Prozent und wird auf Kapital­erträge wie Zinsen, Dividenden, Lotto­gewinne, und Versicherungs­erträge erhoben. Sobald die Kapital­erträge in der Steuer­erklärung deklariert werden, wird der Betrag zurück­erstattet. Ziel ist, dass Personen und Unter­nehmen ihr gesamtes Vermögen deklarieren. Mit der aktuellen Vorlage soll nur die Verrechnungs­steuer auf inländische Obligationen abgeschafft werden, nicht aber auf Bankkonto­zinsen und Dividenden. Der Bund rechnet mit einmaligen Steuer­ausfällen im Umfang von einer Milliarde Franken, länger­fristig mit 170 Millionen Franken pro Jahr. Diese würden durch die erhoffte Belebung des Finanz­marktes kompensiert, erklärt der Bundesrat. Die Gegner der Vorlage bezweifeln das. Zudem weisen sie darauf hin, dass die prognostizierten Minder­einnahmen auf dem aktuellen Tiefzins­niveau beruhen. Berechnungen mit höheren Zinsen ergeben Steuer­ausfälle von 600 bis 800 Millionen Franken pro Jahr.

Wie es weitergeht: Die Bundes­kanzlei muss nun die Unter­schriften prüfen. Voraus­sichtlich diesen Herbst kommt die Vorlage an die Urne.

GLP-Nationalrätin muss Mutterschafts­geld zurückzahlen

Worum es geht: Die grün­liberale National­rätin Kathrin Bertschy hat vor Bundes­gericht verloren. Sie muss das Mutterschafts­taggeld zurück­zahlen, das sie nach der Geburt ihrer Tochter 2018 von der Ausgleichs­kasse erhalten hat. Grund: Bertschy nahm während der März­session 2019 an Parlaments­sitzungen teil und erhielt dafür die volle Entschädigung als Parlamentarierin.

Warum Sie das wissen müssen: Der Fall Bertschy steht stell­vertretend für die Frage, inwiefern Politikerinnen nach der Geburt eines Kindes ihre politischen Rechte wahr­nehmen können. In den Augen des Bundes­gerichts hatte Bertschy mit der Wieder­aufnahme ihrer Parlaments­tätigkeit den Anspruch auf Mutterschafts­entschädigung verloren. Sie hatte verlangt, dass ihr Anspruch auf Taggelder für ihre privat­wirtschaftliche Tätigkeit nach der Session Ende März 2019 wieder auflebe. Es sei diskriminierend, dass Mütter ihren Urlaub am Stück nehmen müssten, während Väter die Taggelder tage- oder wochen­weise beziehen dürfen. Das Bundes­gericht verneinte auch diesen Punkt: Der Gesetz­geber habe den Anspruch der Mutter viel umfassender ausgestattet, um ihr die nötige Zeit einzuräumen, um sich in den ersten Monaten am Stück intensiv um ihr Neugeborenes kümmern zu können. In der Vergangenheit hatte Bertschy als Co-Präsidentin der Frauendach­organisation Alliance F mehrfach Diskriminierungen in der Recht­sprechung angeprangert. In ihrem eigenen Fall sieht sie sich «als Bürgerin faktisch entmündigt» und erkennt darin ein «Politikverbot».

Wie es weitergeht: Im Parlament sind mehrere Standes­initiativen hängig, die verlangen, dass Frauen ihre politischen Mandate während des Mutterschafts­urlaubs wahr­nehmen können, ohne den Anspruch auf Entschädigung zu verlieren. Die erste Hürde in den vorberatenden Kommissionen haben drei davon bereits genommen. Eine entsprechende Gesetzes­änderung ist in Vorbereitung.

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Die Aussen­politische Kommission des Nationalrats (APK) zeigt ihren Kollegen Roger Köppel wegen mutmasslicher Amtsgeheimnis­verletzung an: Mit 14 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen ist sie der Meinung, der SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger habe in einer seiner Video­kolumnen vor zwei Wochen Interna der Kommissions­sitzung verraten. Konkret hatte er im Zusammen­hang mit den Sanktionen gegen Russland – die er ablehnt – den Inhalt eines Dokuments aus den APK-Unterlagen veröffentlicht. Zudem beschäftigt sich auch die Bundes­anwaltschaft mit Köppel: Man treffe «die nötigen Abklärungen, ob eine straf­rechtliche Relevanz vorliegt», erklärt die Behörde. Damit sie überhaupt gegen Köppel vorgehen kann, müsste zuerst seine Immunität aufgehoben werden. Und darüber entscheiden die Immunitäts­kommission des National­rates und die Rechts­kommission des Stände­rates. Sollte sie sich für eine Aufhebung aussprechen und der SVP-Politiker anschliessend für schuldig befunden werden, könnte er eine Geldstrafe oder im Extremfall sogar Gefängnis kassieren. Die Höchst­strafe liegt bei drei Jahren. Der gesprächige Politiker, für den die Unschulds­vermutung gilt, könnte in diesem Fall wohl in aller Ruhe aus dem Näh­kästchen respektive der Kiste plaudern. Hinter Gittern passiert bestimmt so einiges, was Köppel in seinem Blatt verbraten könnte.

Illustration: Till Lauer

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