Wo Schleiereulen eine Stimme bekommen: «Die verlorenen Zaubersprüche» von Robert Macfarlane. Jackie Morris

Nachhilfe für den Weihnachts­mann

Ihre Geschenkeliste sieht noch karg aus? Ihr Wunschzettel auch? Zeit für ein paar besondere Buch­empfehlungen! Ein Inspirations-Parcours.

Von Daniel Graf, 06.12.2021

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Station 1: «D-D-D-D-Dohle!»

Hier gilt: laut lesen, bitte. Und schauen! Dieses Buch ist zum Hören und Sehen, «mit Eulen­ohren» und «mit Eichen­augen».

Die Amsel am Eingang zu diesem prächtig illustrierten Band verkündet es: «Hier findest du Beschwörungen und Bann­sprüche, Anrufungen und Schutz­zauber, Zungen­brecher, Segen, Wiegen­lieder und Psalmen.» Aber Vorsicht: Wenn Robert Macfarlane Rauch­schwalbe, Schleier­eule und Brachvogel in Versform eine Stimme gibt, Daniela Seel virtuos ins Deutsche übersetzt und die Illustratorin Jackie Morris daraus einen der schönsten Bände des Jahres macht, erheben «Die verlorenen Zauber­sprüche» doch immer auch Einspruch.

Denn es sind ja weniger die «Zaubersprüche» der Dichtung als vielmehr die der Natur, das Melodien­repertoire und die Rufe der Vögel, die verloren zu gehen drohen, schon viel zu oft verloren sind. Nennen wir das Phänomen ruhig beim Namen: Arten­sterben. Diese Verse sind ein einziges beschwörendes Aufbegehren dagegen.

Macfarlane und Morris malen keine Dystopie, sondern wählen genau die umgekehrte Strategie: wachrütteln durch Schönheit. Als wäre die Dohle, die «Ruhzerrütterin» und «Schloss­rüttlerin», ihr Wappentier. Dieser Beschwörungs- und Benennungs­zauber ist nicht ins Metaphysische geraunt, sondern ganz und gar irdisch, gegenwarts­gesättigt.

Und so gibt es am Ende für die Leserin ein abschliessendes Rätsel und zugleich einen Schlüssel dazu. Der führt dann gewisser­massen durch die Hintertür: runter vom Sofa und raus in die Welt.

Station 2: Von der Schwierigkeit, «ich» zu sagen

Ein ganz anderes, ungelöstes Rätsel: Warum hat dieser grossartige Roman von Lena Gorelik nicht noch viel mehr Aufmerksamkeit erhalten?

«Wer wir sind» ist ein ausser­gewöhnliches Stück autobiografisch inspirierter Literatur. Gorelik, 1981 in Sankt Petersburg geboren und 1992 mit ihren Eltern nach Süddeutschland gekommen, erzählt eine Familien­geschichte, aufgespannt zwischen ihrer Geburts­stadt und Ludwigsburg. Oder ist das Wort «Familien­geschichte» schon eine falsche Abbiegung?

Von vorne. «Ich» heisst auf Russisch Я, ausgesprochen wie ein deutsches Ja, «ein Buchstabe nur», der «letzte im Alphabet». So wurden wir, sagt die Ich-Erzählerin, auch erzogen: «Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet.» Ein Elternspruch, der jedes «ich will / ich mag / ich muss» durchkreuzte. «Die Ordnung der Buchstaben, die uns Kindern den Egoismus austrieb, in aller Seelenruhe.» Nun aber erzählt dieses Ich eine Geschichte, in der «ich» unweigerlich zum Hauptwort werden muss: das eigene Leben. Eine Geschichte, die ebenso unausweichlich auch die der Familie involviert; und deshalb stets die Gefahr im Blick hält, die Privat­sphäre der Liebsten zu verletzen.

Gorelik erzählt von einer Kindheit in Russland, von einem Nachwende-Leben in einem deutschen Flüchtlings­heim, vom Neuanfang einer Familie. Vom Erlernen einer fremden Sprache und der Freiheit, die in der Fähigkeit zu sprechen liegt.

Wie das Mädchen noch in Russland aus einem Brief der deutschen Behörden sein zweites deutsches Wort lernt: «leider». «Das ist wie Jiddisch», sagt die Schwester ihrer Grossmutter, die den Brief übersetzt. «Nur dass es bei uns ‹lejder› heisst.» (Die erste deutsche Vokabel war «Hände hoch» gewesen: «‹Chände choch› riefen wir, wenn wir Rote Armee gegen die Deutschen spielten»).

Wie die Eltern in Deutschland ihre jüdische Identität lieber verstecken, die schon in Russland oft genug bedeutet hat, ausgegrenzt zu werden. Wie sich das Mädchen für sein Zuhause im Flüchtlings­wohnheim schämt. Wie die Diplome der Eltern nicht anerkannt werden und die Mutter, eine Ingenieurin, sich nun als Putzkraft bewirbt. Wie Anita, die erste Ludwigs­burger Freundin der Familie, sich «ohne es direkt zu sagen» dann doch wünschte, «dass ich an Jesus glaube». Wie Lena, die Ich-Erzählerin, beginnt, sich «hinaus­zuschreiben aus alldem, der Unsicherheit, dem Fremdsein». Wie das einstige Mädchen nun den eigenen Kindern auf Deutsch beibringt, «die Stimme auch für sich selbst zu erheben».

«Wer wir sind» ist Autofiktion ohne jede Egozentrik. Ein Schreiben, das sich empathisch, mit grosser Klugheit und behutsam tastend Rechenschaft ablegt über sich selbst: «Ich schreibe uns auf, ich erzähle von mir».

Station 3: Zu lobendes Verschrobenes

Der Schweizer Vogel des Jahres ist übrigens der Steinkauz. Auch die Deutsch­schweizer Gegenwarts­literatur scheint das Kauzige zu lieben. Autorinnen wie Ariane Koch, Anaïs Meier oder Thomas Duarte haben in ihren Romanen wunderbar skurrile Figuren erschaffen, die mit konsequenter Verschrobenheit unsere sogenannte Normalität auf einmal ziemlich absurd erscheinen lassen.

Es gibt allerdings eine Form literarischer Verstiegenheit, die ganz anders funktioniert. Wie in den «Sprech­texten» von Katja Brunner, wo das augenöffnend Schrullige in die Wörter und Sätze selbst eingeschrieben ist.

Mit ihrem soeben erschienenen Band «Geister sind auch nur Menschen» lässt sich ein altes Missverständnis vielleicht korrigieren: Warum sollte man beim Verschenken von Büchern die sogenannten «schweren Themen» meiden? Fürs Erbauliche sind schliesslich andere Spezialistinnen zuständig als die Künste. Auf den indirekten Trost aber versteht sich die Literatur: Die «schweren Themen» werden eben ein bisschen leichter, wenn man ihnen nicht ohnmächtig gegenüber­steht, sondern mit aufrichtigem Verstehen. Und einem wenigstens ästhetischen Triumph, der den Zumutungen allerdings erst abzuringen ist.

Katja Brunner hat sich das Dunkelste vorgeknöpft: Krankheit, Tod, Trauer, Verlust. Und eigentlich schreibt sie an gegen das Verdrängen und Schön­färben. «Den Aggregats­zustand der eigenen Trauer zu ändern», heisst das Programm. Die Mittel: anarchischer Wortwitz, Entmystifizierung, empathische Schonungs­losigkeit. Wo «doch ein jedes Familien­mitgehängsel einen Schmerz mit sich herumträgt, der sein ureigenster ist».

Schon allein wegen solcher Wortgehängsel, wegen Sätzen voller «Liftknips­knöpfe», «Achselhaar­flaum» und «Fröhlichkeits­visagen», liegt in Katja Brunners Sprache etwas Befreiendes. Mit dem Grotesken, dem tiefgründig Absurden lehnt sie sich auf gegen den Schrecken, aber auch gegen das routiniert Teilnahms­lose. Die rituelle Erstarrung aufbrechen, das Phrasenhafte zum Teufel jagen. Bis etwas aus dem «sonst zugesperrten Wundgrund hervor­geschossen» kommt.

Sie merken: nicht für jedermann. Wer will, kann Brunners Buch ja mit einer Trigger­warnung versehen: Achtung, Realität.

Station 4: «Sachbuch» klingt viel zu sachlich

Es gibt Sachbücher, die muss man schon für ihre Grundidee lieben. Der Schrift­steller Thomas von Steinaecker zum Beispiel hat jüngst ein «Buch der gescheiterten Kunstwerke» vorgelegt, eine Hommage an all das Unvollendete und am Grössen­wahn Zerschellte, das in Hunderten Jahren Kunst-, Film-, Musik- und Literatur­geschichte so zusammen­kommt. Wobei die seitenlange Liste, die von Steinaecker am Ende anfügt, selbstredend unvollständig bleiben muss.

Oder Richard Ovenden. Der Direktor der Bodleian Library in Oxford hat unter dem Titel «Bedrohte Bücher» Schlüssel­ereignisse aus einer 3000-jährigen Geschichte zusammen­getragen: die der Angriffe auf Bibliotheken und Archive.

Hier aber soll jetzt von «Nostalgie» die Rede sein. So heisst ein brillanter Essay der französischen Philosophin Barbara Cassin, der nun auch auf Deutsch zu lesen ist (Übersetzung: Christine Pries). Und wer angesichts des Titels etwas nervös geworden ist, muss jetzt stark sein. Denn Cassin ist keines­wegs gewillt, über die Nostalgie bloss die Nase zu rümpfen.

Trotzdem Entwarnung: Cassins kultur­geschichtliche Reise ist meilenweit von einer sentimental journey entfernt. Die Frage, auf die sie mit stupender Belesenheit und grosser Inspiration zusteuert, lautet: Was ist Heimat? Wann sind wir wirklich zu Hause? Und politischer: Was hat es auf sich mit den Konzepten von «Vaterland» und «Mutter­sprache»? Was bedeutet Kosmopolitismus? Und was hat das alles mit Gastfreundschaft zu tun?

Übrigens: Mit dem Buchtitel kommt auch ein Deutsch­schweizer Wort nach Hause. Schliesslich verdankt sich der Begriff jenen Schweizer Söldnern, die im 17. Jahrhundert reihenweise die Waffen streckten und aus Heimweh desertierten, wenn in fernen Gefilden wie aus einem Hinter­halt der «Kuhreigen» erklang.

Merke: Im Zweifels­fall beim Verschenken aufs Singen verzichten. Erhöht womöglich auch die Gastfreundschaft.

Station 5: Gibt es so was wie Klima-Lyrik?

Im deutsch­sprachigen Feuilleton wurde zuletzt eifrig und ein wenig eigenartig über die Frage diskutiert, wo denn nun der grosse Klima-Roman sei und ob dieser anders aussehen könne, als Bernd Ulrich ihn sich vorstellt. Man hätte bei der Gelegenheit ja auch mal einen Seiten­blick auf die Lyrik werfen können.

Levin Westermann zum Beispiel. Der Bieler Autor hat diesen Sommer ein Lang­gedicht veröffentlicht, das im Sommer zu entstehen begann und im Wesentlichen auf sämtliche der vergangenen Sommer passt:

und ich lese in der zeitung
und die zeitung sagt: es brennt
sie sagt: der Amazonas brennt

Die Zeilen, sorry für die Metapher, brennen sich ebenfalls ein, als Refrain, als einer der Kehrverse dieses Lang­gedichts, das ein einziger grosser Dialog ist: mit der Lyrik­geschichte ebenso wie mit den Autorinnen neuer Klima-Bücher. Tages­aktuelles und die eigene Lesebiografie bilden ein grosses Palimpsest in diesem Buch mit dem Titel «farbe komma dunkel».

«und ich weiss / dass ich mitschuldig bin / im rattanstuhl / die hüfte schonend / ich weiss / dass das rohöl / von den fingern / dass es tropft / und dann / geht die sonne wieder unter / und dann / geht die sonne wieder auf»

Westermann gibt der Wut und dem Gefühl der Macht­losigkeit eine Stimme, ganz direkt und ungeschönt:

«ich denke immer wieder / what the fuck / und niemand will das wissen / der mensch will niemals wissen (…) / und ja das weiss ich ja / ich weiss es ja»

Und dann zieht dieser wuchtige Gesang plötzlich unmissverständlich eine Verbindung zwischen der Klima- und der Covid-Krise, wenn die Sprache auf die Tötung der dänischen Nerze kommt, wir erinnern uns: Herbst 2020.

nirgends stand da tod
immer nur gekeult
immer nur das kalte wort gekeult

Es ist derselbe instrumentelle Zugriff auf die Natur, mit dem der Mensch die «Umwelt» als blosses Ressourcen­lager missbraucht. Und schon fundamental danebenliegt, wenn er die eigene Lebenszone «Um-Welt» nennt, als liesse sich da eine Trennlinie ziehen. Die unauflösliche Verbundenheit von Mensch und Natur, die Denker wie Bruno Latour philosophisch ausbuchstabieren: In Lyrik wie dieser ist sie literarisch erfahrbar.

Station 6: Als Weihnachts­buch? Das «Weihnachts­buch»!

Warum thematisch in die Ferne schweifen, wenn das Gute … An diesem Punkt kommen wir sprichwörtlich ins Grübeln. Denn bei Weihnachts-Anthologien gilt für anspruchsvolle Leserinnen häufig eine Alarmstufe, so rot wie Rudolphs Rentierschnauze.

Das ist bei diesem Buch anders.

Der Literaturwissenschaftler Heinz Rölleke hat mit der Kennerschaft eines ganzen Forscher­lebens eine Text- und Lieder­sammlung zusammen­gestellt, die mit Fug und Recht von sich behaupten kann: Hier sind 2000 Jahre Kultur­geschichte des Weihnachts­festes kondensiert, von den Ursprüngen bis heute. Samt der Historie der Verkitschung und inklusive der satirischen Gegenwehr.

Wer durch diesen – wie immer bei der Anderen Bibliothek – hochwertig ausgestatteten Band stöbert, wird verwundert feststellen, mit wie viel Halbwissen über das in unseren Breiten­graden grösste aller Feste man bislang durch die Winter kam. Man staunt, wie all die Kindheits­worte plötzlich in ganz neue Konstellationen treten: Frau Holle, Baba Jaga, der heilige Martin. Und was genau hatte es noch mit den Raunächten auf sich?

Wer mag, kann all die profunden Einführungen aber auch einfach überspringen und direkt in die einzelnen Kapitel eintauchen: Lieder und Gedichte, Sagen und Satiren, jeweils thematisch und nach Entstehungs­zeit geordnet. Von vorchristlichen Zeugnissen bis zur Robert-Gernhardt-Farce. Deren Titel lautet: «Die Falle». Seien Sie also gewarnt!

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