Sätze wie böse Leuchtfische

Sie stellte Heidi auf den Kopf, schrieb über die Selbsthilfe­gruppe der Nasenbohrer: Die Wiederentdeckung der Basler Autorin Adelheid Duvanel ist das Ereignis dieser Büchersaison.

Von Daniel Graf, 29.06.2021

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Ihre schriftstellerische Solidarität gehört den Übersehenen, und auch sie selbst wurde übersehen: Adelheid Duvanel (im Café Atlantis in Basel, ca. 1960). Limmat-Verlag

Zum Beispiel «Das unheimliche Geschehen in jener Nacht», eine umgekehrte Heidi-Geschichte. An den Grossvater, den die Achtjährige erst einmal gesehen hat, erinnert sie sich nicht, und als er sie mit seinem Wagen zu Hause abholt, kommt dies für das Mädchen einer Entführung gleich.

Ich schaute auf die Strasse; das Auto schien sie in sich hineinzusaugen wie ein Staubsauger.

Bald hatten wir die Stadt verlassen. Der schwarze Himmel blähte sich wie ein Vorhang im Wind, und nun prasselte der Regen aufs trockene Land.

Das Wasser, so sieht es das Kind durch die Scheiben, spritzt «meterhoch». Bis das Mädchen irgendwann vor Angst­erschöpfung einschläft. Und dann:

Als ich die Augen öffnete, sah ich durchs Wagenfenster das Gesicht eines Clowns mit runden Augen und einem elastischen Mund. Der Grossvater öffnete die Autotür und sagte, dies sei die Grossmutter.

Gibt es, nach Kafka, eine zweite Stimme in der deutschsprachigen Literatur, bei der sich das radikal Anti-Idyllische mit einer so albtraumhaft-abgründigen Komik verbindet wie bei Adelheid Duvanel, der Basler Autorin, die vor 25 Jahren verstarb und bis vor kurzem eine beinah Vergessene war?

Einmal, so lässt Duvanel ihre Anti-Heidi weitererzählen, gibt es im Haus der Grosseltern eine Feier. In der alkohol­schwangeren Luft fliegen die Gesprächs­fetzen laut und unentwirrbar durcheinander; der «hünenhafte Grossvater» scheint zu schrumpfen, während «die winzige Grossmutter» auf den Stuhl steigt und rauschhaft Witze erzählt,

die Körper der anderen bogen sich und zuckten krampfhaft, und Gelächter spritzte aus ihren verzerrten Mündern; sie schienen von einer beängstigenden Krankheit befallen.

Die Ausgelassenheit der Feiernden wirkt auf das Mädchen zutiefst verstörend; fortan beäugt es die Grossmutter, die sich am nächsten Tag einfach so wieder «zurück­verwandelt» hat, ob an ihr «nicht eine Naht sichtbar sei»:

ich stellte mir vor, irgendwo könne sich die Grossmutter öffnen und hervor träte das Ungeheuer jener Nacht, um dann wieder in die Grossmutter hineinzukriechen, worauf sich die Naht schliesse. Ich dachte, dass von den Erwachsenen, ausser von Mutter, das Böseste zu erwarten war.

Es ist dieses Empfinden einer unhintergeh­baren Fremdheit, das Gefühl, «nirgendwo hinzugehören», das tief in alle Figuren Adelheid Duvanels eingelassen ist.

Und doch ist diese Geschichte auch eine untypische Duvanel-Erzählung, wegen ihres Umfangs. Fünf Seiten: Für Duvanel-Verhältnisse sind das geradezu monumentale Dimensionen. Und weil die Achtjährige an der oben zitierten Stelle noch eine halbe Seite länger durchhalten muss, steht auch die entscheidende Wendung noch aus. Das eigentliche Grauen hat noch gar nicht begonnen.

*

Für die deutschsprachige Literatur ist Adelheid Duvanel die Wieder­entdeckung des Jahres, und dies ist einem Band zu verdanken, den die Basler Literatur­wissenschaftlerin Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen mit dem Titel «Fern von hier» im Limmat-Verlag herausgegeben hat.

Gut 250 Erzählungen hat Duvanel im Lauf ihres Lebens geschrieben, die meisten davon kommen mit ein bis drei Seiten aus. Doch was sie in diesen Miniaturen auf aller­engstem Raum an sprachlicher Wucht entwickelt, erinnert an Kafka oder Daniil Charms, und wenn es in der Literatur­geschichte immer gerecht zuginge, wäre Adelheid Duvanel nicht bis heute ein Geheim­tipp geblieben, sondern gälte sie längst als eine der grossen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Ihr gesamtes literarisches Schaffen hat Duvanel den gesellschaftlich Marginalisierten gewidmet: den Versehrten und Übersehenen, den Misshandelten und Verstossenen, den Eigen­brötlern und Aussenseiterinnen.

Ihre Figuren sind Welt-Fremde in einem existenziellen Sinn, tief geprägt von der Ahnung, «nur irrtümlicher­weise», «wie leihweise hier» zu sein.

Ihnen und ihren Überlebens­strategien gilt Duvanels schrift­stellerische Solidarität; sie äussert sich als poetische Aufmerksamkeit für die scheinbar erratischen Rituale und Rebellionen der Vereinsamten und Stigmatisierten.

Das ist überhaupt das Wunder dieser aufs Knappste verdichteten Prosa­miniaturen: dass Duvanel in wenigen Strichen eine ganze Lebens­geschichte konturiert – und heraus kommt kein Typus, keine Karikatur, sondern das tiefenscharfe Bild eines Charakters. Weil Duvanel für die Individualität der Figuren, die Einzigartigkeit des Geschehens, durch die Originalität ihrer Sprachbilder einsteht. Und zwar mit einem Register, das von einer das Groteske streifenden Lakonie bis zur hochgespannten Expressivität reicht, manchmal in einer einzigen Ouvertüre:

Noch vor einigen Monaten bemühte ich mich, gesellig zu sein. Ich lockte fremde Menschen in mein Haus; wie blutige Blumen leuchtete der Wein aus den Gläsern, die ich ihnen reichte.

Überhaupt die Anfangssätze.

«Kavalier» beginnt so:

Der magere Jochen möchte Isländer sein; er stellt sich vor, dass er dann das Recht hätte, zu schweigen und zu fischen.

Und «Mein Schweigen» so:

Ich heisse Mirjam, bin dreizehn Jahre alt und lebe im Erziehungsheim «Zuversicht». Die Erzieherinnen Schmidt, Schmidli und Schmidheini streiten verstohlen und hartnäckig wegen meiner Erziehung; es ist, als nähme eine der andern die Türfalle aus der Hand, aber ich zöge die Tür von innen mit aller Kraft zu (…)

Wie da nicht weiterlesen wollen?

*

Adelheid Duvanel, geborene Feigenwinter, kommt 1936 in Pratteln zur Welt. Die Mutter ist protestantisch, der Vater, Obergerichts­schreiber und später Strafgerichts­präsident in Liestal, streng katholisch. So werden auch Adelheid, die Älteste, und ihre drei Geschwister erzogen.

Als sie vierzehn ist, kommt sie in ein katholisches Mädchen­internat, eine traumatisierende Erfahrung. 1953 wird sie in der psychiatrischen Klinik mit Insulin­spritzen und Elektro­schocks behandelt.

Sie beginnt zu malen und zu schreiben. 1962 heiratet sie den Künstler Joseph (Joe) Duvanel, die gemeinsame Wohnung in Basel wird zu einem Zentrum der Basler Bohème. Ihre eigenen bildkünstlerischen Ambitionen aber stellt Adelheid Duvanel nach der Heirat zurück: Ihr Mann duldet die Konkurrenz nicht – so viel zum Frauenbild der damaligen Künstler­avantgarde. (Nach der Scheidung 1981 wird sie mit dem Malen und Zeichnen wieder anfangen, ein grosser Teil ihres künstlerischen Werks ist heute im Museum im Lagerhaus St. Gallen sowie im Schweizerischen Literatur­archiv aufbewahrt.)

Adelheid Duvanel: Ohne Titel (Selbstbild), 1990. Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut/ProLitteris 2020
Adelheid Duvanel: «Wirrer Traum», 1956. Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut/ProLitteris 2020

Ab den 80er-Jahren erfährt die Literatin Duvanel auch über die eigene Region hinaus Aufmerksamkeit, ihr Leben aber bleibt geprägt von traumatischen Ereignissen und zahllosen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken.

Die 1964 geborene Tochter, ebenfalls mit Namen Adelheid, wird drogenabhängig und erkrankt 1985 an Aids, im gleichen Jahr kommt Duvanels Enkelin Blanca Adela zur Welt. Ende 1986 stirbt Joseph Duvanel durch Suizid. Adelheid Duvanel nimmt zeitweise ihre Tochter und Enkelin bei sich auf und ist damit auch den Erpressungen der Drogen­dealer ausgesetzt.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1996 kommt Adelheid Duvanel unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben: In einer eisigen Sommer­nacht erfriert sie, unter Medikamenten­einfluss, im Wald.

Warum dieser biografische Abriss?

Weil es offensichtlich ist, wie sehr die Prosa von Adelheid Duvanel auch aus eigenen Erfahrungen gespeist worden ist.

Wenn sie von Stigmatisierung und Marginalisierung schreibt. Wenn sie alleinerziehende Mütter in prekären Verhältnissen porträtiert, deren grösster Triumph es ist, irgendwie durchzukommen. Wenn sie den Alltag von Sucht­kranken schildert. Oder das Macht­gefälle in Erziehungs­heimen und psychiatrischen Praxen thematisiert, wo hinter einer Mauer der Sprach­losigkeit die Bilderflut in den Patientinnen brandet.

Und doch sind diese Texte denkbar weit entfernt von einem dokumentarischen Realismus. Vielmehr wird darin das innere Verhältnis der Figuren zur Welt in Sprach­bilder überführt:

Über die braune Haut des Flusses zittern Kälteschauer, und er zieht sich zusammen wie eine kranke Schlange.

Die Nacht fährt langsam davon wie ein Lift, und der Morgen ist ein leerer Liftschacht.

Naturvorgänge werden Duvanels Figuren zum Spiegel ihrer Seelennot. Und die Dämonen sind an keinen Schlaf­zustand gebunden:

Ich schlafe nicht mehr sofort ein, sondern liege zwei, drei Stunden wach; die Gedanken springen mich an wie böse Leuchtfische (…)

Wer sonst in der Schweizer, in der deutschsprachigen, überhaupt in der Literatur der letzten vierzig Jahre hat kraftvollere, unverbrauchtere Bilder für eine innere Bedrängnis gefunden?

Und dann wieder: metaphernfreie, schlackenlose Sätze von bodenloser Traurigkeit.

Seit einem Jahr war sie krank; zum Geburtstag hatten ihr die Schulkameradinnen einen Rollstuhl gekauft (…)

*

Es ist keineswegs so, dass die exzeptionelle Qualität dieser Prosa von niemandem erkannt worden wäre.

Auf Vermittlung von Otto F. Walter und unter dem Lektorat von Klaus Siblewski debütiert Duvanel mit dem Band «Windgeschichten» 1980 im renommierten deutschen Luchterhand-Verlag, wo von da an all ihre Bücher erscheinen, das letzte von insgesamt sieben 1997 postum. In den 80er-Jahren erhält sie diverse Auszeichnungen, darunter 1984 den damals noch neuen, erst zum zweiten Mal vergebenen Kranichsteiner Literaturpreis, den im Jahr zuvor Rainald Goetz bekommen hat. Namhafte Fürsprecherinnen – etwa Ruth Klüger oder Beatrice und Peter von Matt – fand ihre Literatur auch über Duvanels Tod hinaus.

Ein breiteres Publikum aber erreichte Duvanel nie. Seit Mitte der Nuller­jahre geriet sie zunehmend in Vergessenheit, ihre Bücher waren nicht mehr lieferbar und wurden nicht neu aufgelegt. (Ein Umstand, der mit dazu geführt hat, dass die «Sämtlichen Erzählungen» – zusammen mit inspirierten Nachworten von Elsbeth Dangel-Pelloquin und Friederike Kretzen und inklusive Duvanels verstreut publizierter Texte – nun zuerst im Zürcher Limmat-Verlag erschienen sind und nicht bei Luchterhand, wo nach wie vor die Rechte an den Erzähl­bänden liegen. Die Verlagsgruppe Penguin Random House, zu der Luchterhand mittlerweile gehört, wird den Limmat-Band aber im November 2022 als Taschenbuch herausbringen.)

So stellt sich bis heute die Frage: Warum ist Duvanel zeitlebens und darüber hinaus eine Autorin für ein Nischen­publikum geblieben?

Einer der Gründe liegt auf der Hand: In einem ganz auf Romane getrimmten Buchmarkt braucht es schon einen Klassikerstatus, um Prosa­miniaturen wirklich unter die Leute zu bringen – wenn es überhaupt je gelingt.

Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, dass die reservierte Haltung des hiesigen Lesepublikums gegenüber Adelheid Duvanel auch etwas mit den Themen und dem Personal ihrer Erzählungen zu tun gehabt haben könnte – und mit dem Geschlecht der Autorin.

Robert Walser, mit dem Duvanel aus naheliegenden Gründen immer wieder verglichen wird, galt jedenfalls längst als Klassiker, während Duvanel allenfalls eine Autorin der Happy Few war. Und wenn, so erinnert sich Klaus Siblewski im Gespräch mit der Republik, man auf Parallelen zwischen beider Schreiben aufmerksam machte, sei man in der Schweiz meist auf «eine Mauer von versteinerten Menschen» gestossen: «Im selben Atemzug mit dem grossen Robert Walser – das war nun das Letzte, was man behaupten durfte.»

*

Kein Erlösungsversprechen, das bei Duvanel nicht von ganz realen Albtraum­bildern überschrieben wird. Und wo sich die Lebens­wege der Versehrten kreuzen, dürfen sie am allerwenigsten auf Linderung hoffen.

Zum Beispiel Wotanek, «das Getüm» aus der gleichnamigen Erzählung.

«Bewegungstrottel» nannte ihn, später, seine Gattin Helga, eine wahre Eisheilige; am Hochzeitstag küsste sie ihn auf die Nasenspitze, worauf diese erfror.

Es ist das Gnadenlose von Duvanels verklärungs­freiem Blick: Wo sich zwei emotional Verhärmte begegnen, potenziert sich nur beider Einsamkeit. Keine Erlösung in Sicht.

Und doch hat die expressionistische Drastik von Duvanels Bildsprache ihr Gegen­gewicht in einem tragisch grundierten Witz, der ebenso viele Register kennt. Es ist dieselbe anarchistische Komik, mit der auch ihre Figuren und Erzählerinnen bevorzugt gegen Bevormundung und die Zumutungen ihres Lebens­alltags aufbegehren. Und mit der sie ihre metaphysische Obdachlosig­keit ironisieren.

Ich gehöre zur Selbsthilfegruppe der Nasenbohrer, aber eigentlich möchte ich von meinem Laster gar nicht loskommen (…)

Die Klinik wirbt mit Plakaten: «Kommen Sie zu uns! Werden Sie Patient! 1000 Psychiater erwarten Sie!»

Er hatte seinen Briefkasten mit «St. Meier» beschriftet, weshalb die Frau ihn für einen Heiligen hielt; sie las stets «Sankt Meier», obwohl er bloss Stefan hiess.

Und weil Duvanel auch hier alles Verklärende fernliegt, kann sich der aufklärerische Witz genauso gut auf die blinden Flecken der Figuren richten:

Arthur ass gerne Hasenbraten oder Geflügel, doch weiter reichte sein Interesse für Tiere nicht (…)

Man sollte sich nicht täuschen: Noch Duvanels eigensinnigste Figuren sind uns am Ende doch zu ähnlich, ihre Lebenswege verlaufen zu nah an unseren, um ihre Gefährdung in sicherer Distanz zum eigenen Leben zu wissen. Aber ihre Geschichten verweigern sich auch der entgegen­gesetzten Lesehaltung: sie stets nur egozentrisch als Spiegel der eigenen Erfahrungen zu betrachten.

Duvanels Erzählungen haben etwas unauflösbar Verstörendes, Inkommensurables. Nicht die kleinste Irritation ist, wie beglückend ihre Lektüre sein kann.

Zum Buch

Adelheid Duvanel: «Fern von hier. Sämtliche Erzählungen». Hrsg. von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen. Limmat-Verlag, Zürich 2021. 792 Seiten, ca. 44 Franken.

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