Und nie ein Ende in Sicht
Das Internet ist niemals leer, das Smartphone niemals still, es vibriert, klingelt, pingt und leuchtet ständig. Und wir gleiten immer tiefer hinein und hinab, auch wenn es uns den Schlaf, unser Leben, unsere Freiheit raubt. Wie ein Rausch, der nie aufhört – aber warum fühlt es sich an wie ein Kater? Serie «Im digitalen Rausch», Teil 4.
Von Anna Miller (Text) und Peter Hauser (Bilder), 17.06.2021
August 2020. Ein Montag, 15.37 Uhr, 78. Entsperrung, 4 Stunden 48 Minuten Bildschirmzeit, ich wünschte, ich könnte noch irgendwohin, wo mich niemand trackt, nicht einmal ich selbst.
Ich kann keine Bar mehr betreten, ohne dass ich einen QR-Code scannen muss und meinen ganzen Namen eingeben, mein Geburtsdatum, die Verweildauer. Ich kann keine Zeitungen mehr lesen, weil sie da nicht mehr liegen. Ich kann an den meisten Orten, an denen ich einkaufe, nicht mehr bar bezahlen, nur noch mit Karte. Wenn mir jemand für ein Treffen eine digitale Kalendereinladung schickt und ich auf Ablehnen drücke, ruft die Person manchmal verwirrt an und fragt, ob ich absagen wolle. Ich sage dann, nein, ich habe ja zugesagt, mündlich, am Telefon, ich habe nur abgelehnt, mir einen Termin eintragen zu lassen.
Ich treffe den Menschen, der bei einem grossen Schweizer Unternehmen für den Bereich Digitalisierung und Gesellschaft zuständig ist, zum Mittagessen und versuche ihm zu erklären, dass ich nicht das Internet abschaffen wolle, sondern dass es darum geht, soziologische und psychologische Fragen in die Debatte um die Digitalisierung einzuschliessen. Fragen danach, was mit der Seele eines Menschen passiert, was er braucht, damit es ihm gut geht, wie Gesellschaften zusammenhalten und wie man öffentliche Räume belebt.
Er sagt, er verstehe nicht ganz, was ich meine, Psychologie sei nicht wirklich Teil von dem, was sie tun. Vielleicht könne man da was Neues aufziehen, aber für den Bereich «digitale Selbstbestimmung» eigne sich das alles nicht. In diesem Bereich gehe es nur um Daten und die Herrschaft über die eigenen Informationen, der Bereich sei definitorisch schon voll.
Ständig vibriert, klingelt, pingt und leuchtet es. Smartphones ziehen uns in ihren Bann, von ihren Bildschirmen kommen wir nicht mehr los. Was macht die Always-on-Kultur mit uns? Zur Übersicht.
Teil 2
Kontrollverlust
Teil 3
Tausendmal berührt, tausendmal nichts gespürt
Sie lesen: Teil 4
Und nie ein Ende in Sicht
Teil 5
Das ewige Rauschen
Interview
«Je mehr Zeit wir vor Bildschirmen verbringen, desto psychisch instabiler werden wir»
Ich bestelle einen Schaukelstuhl und lasse mir das Paket in den fünften Stock liefern, der Stuhl ist hübsch, er schaukelt aber nicht richtig. Ich bestelle eine Retoure, sage den Termin aber wieder ab, weil ich keine Energie habe, das alles wieder einzupacken, eine Etikette auszudrucken, die Leute kommen zu lassen, den ganzen Dienstag zu Hause bleiben zu müssen, um den Abholtermin nicht zu verpassen, 30 Euro Rücksendegebühr zu bezahlen und einen neuen kommen zu lassen, wobei die Post mir neuerdings an einem Sonntag einen Link per SMS schickt und dazu schreibt: Bestätigen Sie den Termin innerhalb von 24 Stunden mit diesem Link, sonst stellen wir nicht zu.
Ich habe zweimal in meinem Leben, seit ich ein Smartphone habe, mehr als eine Woche am Stück nicht kommuniziert, ich habe es irgendwo weggeschlossen und bin verreist. Ich habe den Strom unterbrochen, keine SMS mehr geschrieben und keine E-Mails und keine Fotos gepostet, und das Interessante ist, dass ich nachts ganz andere Träume hatte. Das fing nach drei, vier Tagen an und hörte nicht mehr auf, ich hatte diese intensiven Träume, die mit meinen Liebesbeziehungen und meinen Ängsten zu tun haben und meinen grössten Ideen, die ich habe, wenn ich wach bin.
Es ist, als ob meine Gedanken und Gefühle besser reifen konnten, weil sie nicht immer nach ein paar Minuten schon nach draussen befördert wurden. Sondern endlich mal in mir drin blieben wie Früchte an einem Baum, die einfach hängen und warten und besonnt werden, bis sie reif sind und fallen können. Da drückt ja auch keiner alle paar Minuten drauf und schaut, ob sie schon weich sind, und wenn er das tun würde, würden sie wohl vor lauter Druck auf die Erde fallen und verfaulen, bevor sie überhaupt reif waren.
Ich träume jede Nacht, ich kann mich meistens detailliert an meine Träume erinnern, aber nie wieder habe ich so intensiv und tief geträumt wie damals.
In diesen Wochen habe ich gemerkt, dass eine ganz andere Tiefe in mir drin entsteht, wenn da nur mal sieben Tage Ruhe ist. Eine innere Ruhe, an die wir sonst gar nicht mehr rankommen.
Im Gegenteil, wir sind von früh bis spät online und merken gar nicht, dass die Liebe vor lauter Reden gar nicht wachsen kann, die Ideen gar nicht blühen können, der Geist sich gar nicht erholen kann, das Herz keine neuen Dinge fühlt. Die Musik besteht ja auch nicht nur aus Tönen, sondern genauso aus den Pausen zwischen den Tönen, sonst wäre alles nur ein unendlich langer Ton.
Gehen unsere Beziehungen kaputt, wissen wir nicht, was tun, wir können nicht drüber reden und müssten ein wenig Abstand haben, damit klarkommen. Wenn wir Glück haben, können wir eine Mama anrufen, und Mama sagt, jetzt warte doch mal zu, jetzt hört doch auf, per Whatsapp eure Beziehungen zu besprechen. Wenn wir Glück haben und wieder zu uns finden und uns ein wenig beruhigen können, hören wir auf und legen das Handy weg und die Dinge beruhigen sich und wir können Gedanken nachhängen oder träumen oder schlafen oder vergessen und die Antwort zeigt sich von selbst, wenn sich der Nebel der Dauerkommunikation lichtet.
2017 fällt die Roaming-Schranke in Europa. Nie wieder ohne Handy am Strand. Nie wieder Sonnenuntergang ohne Livestream. Nie wieder an einem Ort, an dem ich schulterzuckend sagen kann: Sorry, ich war leider nicht erreichbar, sorry, war einfach dort, und nicht auch noch hier.
Wir haben uns eine Welt geschaffen, in der die krasseste Form der Freiheit darin besteht, nichts zu tun und nichts zu wollen. Früher waren die Leute noch froh, wenn sie mal zwei Stunden nichts zu tun hatten. Heute ist genau diese Vorstellung unsere grösste Angst. Wir schaffen es nicht mehr, das Leben, das gerade ist, einfach auszuhalten. Wir halten uns selbst nicht mehr aus. Wir halten keinen Wind mehr aus, der einfach bläst, kein Kind, das einfach spielt, kein Essen, das einfach schmeckt, kein Fallenlassen in uns selbst, kein Stehenbleiben an einer Ampel, kein Hinhören, wenn jemand spricht.
Wir leben in einer Welt, in der Menschen, die ihre Fitnessvideos auf Instagram teilen, mehr Aufmerksamkeit geniessen als Kriegsreporter und mehr Geld verdienen als Chefärzte, die täglich Leben retten. Dann zucken wir mit den Achseln und sagen: Das ist halt der freie Markt. Das ist das Internet. Es bringt Wunder hervor, es verschiebt Denkmuster und ganze Planeten und krempelt Herrschaftsverhältnisse um. Soll sich der Arzt doch einen Instagram-Kanal zulegen.
Eine Freundin hat sich derweil dazu entschieden, nur noch Kuchen und Gemüsepfannen und Müesli zu posten, weil sie nicht mehr so viele Follower hat, seit sie eine Wurst gepostet hatte. Privat isst sie noch immer gleich viel Fleisch wie immer, doch online kuratiert sie ihr Essverhalten Bubble-getreu. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ein grosses Unternehmen sie anruft und fragt, ob sie nicht Werbung für ein Süssgetränk machen will, sie dafür mit einem Post mehr verdient als eine Frau an der Supermarktkasse in fünf Monaten. Dann muss sie sich in ihrem Leben nie eine dieser gelben Westen anziehen und zusammen mit alten Männern durch die Pariser Strassen ziehen und für ihre Rechte kämpfen, mit all den armen, alten Schweinen, die nicht verstanden haben, wie man sich virtuell zu einer Marke macht, die sich verkauft.
Es gibt Menschen in Asien, die so alt sind wie ich und in ihrem Leben noch nie einen physischen Körper berührt und dabei sexuelle Gefühle empfunden haben, weil Gummipuppen per Onlineshop und Dauerpornoschleife sie auf das reale Leben nicht vorbereiten konnten. Es gibt Menschen in Asien, die sich über Jahre nicht mehr aus ihren Zimmern trauen, weil ihnen alles zu viel wird, und Frauen, die dazu ausgebildet werden, vor diesen Zimmertüren zu sitzen und per Brief und Klopfen Kontakt aufzunehmen. Sie setzen sich auf die andere Seite der Tür und geben zu spüren, dass da jemand aus Fleisch und Blut sitzt, der Zeit hat und zuhören will. Resozialisierungsversuche.
Ich stehe derweil irgendwo im Westen unter einer Dusche und meine Gedanken kreisen um meinen letzten Post, obwohl mir gleichzeitig, irgendwo in meinem Gehirn, sehr klar ist, wie irrelevant ich als einzelner Mensch bin, bei acht Milliarden auf dieser Welt. Wie irrelevant ein einzelner Gedanke von mir ist.
Zur Debatte: Könnten Sie ohne Ihr Smartphone leben?
Wie stark prägt das Smartphone Ihren Alltag? Könnten Sie ohne leben? Und wenn Sie häufig online sind: Was macht das mit Ihnen? Hier gehts zur Debatte.
Ich sage meinen Freunden manchmal, dass ich weniger ans Handy gehe und die Nase voll von Whatsapp habe, um eine halbe Stunde später wieder Nachrichten zu schreiben, hey, wie gehts, hey, was machst du, hey, habe das und das gesehen, habe an dich gedacht, Grüsse!! Emojis verteilen geht immer, so was lässt sich zwischenschieben, hab dich lieb!! schaffs heute leider nicht!! ist schnell geschrieben. Diese Art der Zuneigung macht null Aufwand.
Dabei gibt es wohl kein Werbeplakat auf der Welt, das – als Verkörperung unserer Sehnsüchte – jemanden beim Starren in sein Smartphone zeigt. Die Leute lieben und umarmen sich auf diesen Plakaten immer, sie umarmen sich in Regenwäldern und in Zelten. Die Leute auf den Plakaten liegen an Stränden oder laufen durch Urwälder und feiern den schönsten Geburtstag, den sie je hatten, Gemeinschaft, Glückseligkeit und unberührte Natur, wo man auch hinschaut, «aufgenommen mit einem iPhone 10». Die paar letzten Leute, die noch Berge besteigen und ein Leben haben, die kriegen ein Plakat von Apple, das uns animiert, Geräte zu kaufen, mit denen wir die Berge dann durch einen Screen sehen. Bald kommt Virtual Reality, geil, bald müssen wir nicht mal mehr real hin, bald gucken wir in eine Brille und bleiben auf dem Sofa sitzen.
Was werden wir alle sagen, auf unserem Sterbebett? Woran werden wir zurückdenken? Woran werden wir uns erinnern?
Manchmal frage ich mich, ob in ein paar Jahren noch Menschen in Dörfern auf Bänken vor ihren Häusern sitzen und dem Leben zusehen, wie es passiert, und dabei nichts weiter tun als genau das. Wer da noch sitzen wird. Ob da überhaupt noch jemand sitzen wird. Und was mit uns passiert, wenn da keiner mehr ist.
September 2020. Ein Freitag, 23.48 Uhr, 178. Entsperrung, 5 Stunden 22 Minuten Bildschirmzeit, und so viele Bücher noch nicht gelesen, aber so viele bestellt.
Was die Digitalisierung mit uns Menschen macht, mit unseren Gehirnen und mit unseren Herzen, darüber reden wir erst, wenn alle mit einem digitalen Burn-out in den Kliniken hocken, dann wirds nämlich teuer für den Staat, dann wirds ungemütlich. Dann können Leute digital detox als neuen, geilen Hype verkaufen und die Wirtschaft funktioniert weiter, dann wird Stille, gesperrtes Netz und die Freiheit der Unerreichbarkeit feilgeboten, auch eine Ware, die grosse Freiheit, nach der sich heute schon jeder sehnt.
Bis es so weit ist, schauen wir uns auf Netflix Dokus an von fettleibigen Menschen in Amerika und wie sie fett wurden, krankgezüchtet von den grossen Zuckerfabriken und den Konzernen, die mit dem billigen Zucker und dem All-you-can-eat-Buffet ihr Vermögen gemacht haben und die ganze Welt eroberten, schütteln unsere Köpfe und denken: Menschenskind, wie ist das nur möglich? Wie können Menschen nicht realisieren, dass sie gerade Dreck in sich hineinfressen, bis sie daran sterben, wie geht das bloss?
Dann suchen wir nach Monaten Schlaflosigkeit und mit irgendwelchen diffusen Angstsymptomen irgendeinen Arzt auf, den wir darüber belehren, dass seine Diagnose nicht mit derjenigen von Google übereinstimmt, zweifeln an seinen Aussagen und lassen uns Antidepressiva verschreiben, trinken Beruhigungstee und lassen das Handy auf laut. Oder wir schalten mal ab, fahren an Waldpartys und schmeissen dort ein paar Pillen, dann wird die Welt kurz sehr weich und sehr sanft, dann wiegen wir uns im Morgengrauen zurück in die Stadt, seliges Lächeln im Gesicht, einfach mal ausschlafen, auskatern, liegen bleiben, vergessen, was war und was noch sein wird. Ein Moment Schwerelosigkeit, eine Minute Pause vom Überdruss.
Und nie ein Ende in Sicht, weil das Internet im Gegensatz zu einem Buch oder einem Teller Pasta nicht leer wird, nicht aufhört, nicht sättigt. Es ist, als ob sich der Pastateller immer wieder füllt, immer wieder, und wir essen und essen, bis wir kotzen, und setzen uns immer wieder an den Tisch und essen weiter und kotzen und setzen uns wieder hin.
Wie gehts dir heute, Anna?, fragt Facebook. Ja, wie gehts mir eigentlich?
Ein permanenter Stress hat sich über mein Leben gelegt, als hätte er immer schon zu mir gehört. Er fühlt sich an wie eine zweite Haut, die ständig juckt. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich zu schwach bin oder das Dauerrauschen zu laut ist. Ob da eine Verbindung besteht zwischen den diffusen körperlichen und seelischen Beschwerden und den langen Tagen und Nächten vor dem Bildschirm.
Wenn ein Mensch dann sterbenskrank wird, ist das, weil er geraucht hat oder zu viel Alkohol getrunken. Nicht genug Achtsamkeit trainiert, schlechte Luft geatmet oder zu viel rotes Fleisch gegessen. Aber sicher fällt keiner um, weil er Hunderte Male am Tag die Luft angehalten hat beim Öffnen einer E-Mail. Oder kaum mehr schlafen konnte, weil er sich kaputt konsumiert hat, indem er stundenlang scrollt und Eindrücke in sich hineinfrisst und klickt, sich verwirren und aufputschen lässt und niemals runterfahren und nicht mehr abschalten kann und ängstlich wird und hofft, dass jemand einen sieht und anerkennt und likt und mag und kontaktiert und lobt und schön findet.
Ich könnte also mein Handy ausschalten und es nie wieder anmachen. All die Apps löschen, die irgendwas mit Kommunikation zu tun haben. Ich könnte meine E-Mails auf meinem Computer lesen und auf meinem iPhone einfach den Taschenrechner lassen, die Wetter-App, die App für die Bahnfahrten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich sechs Stunden meiner täglichen Wachzeit mit einem Taschenrechner aufhalte, ist doch vergleichsweise gering. Oder ich bin krank im pathologischen Sinne.
Doch ich habe so viel Angst.
Davor, den Stecker zu ziehen. Und zu erkennen, wie unwichtig ich dieser Welt bin. Wie unwichtig ich dieser Welt schon immer war. Und dass die Art von Verbindung, die ich mir ersehne, für mich vielleicht tatsächlich gar nicht existiert.
Dass ich den Stecker ziehe und niemand mit mir zieht. Dass ich alleine auf einem verwaisten Platz die Vögel beobachte, und niemand da, es mir gleichzutun. Dass ich einem alten Mann zusehe, wie er von einer Brücke aus dem Fluss zusieht, wie er fliesst, und niemand mehr von seinem Gerät hochschaut und ihn auch sieht. Wenn niemand diesen Menschen sieht und keiner sich die Zeit nimmt, ihn zu betrachten, ist er dann noch existent?
Ich habe Angst davor, dass niemand fühlt, was ich fühle. Und niemand will, was ich will. Und niemand braucht, was ich brauche.
Und so schwimmen wir weiter, im ewigen Rauschen des Internets.