Serie: «Im digitalen Rausch» – Teil 1

Verbindung ist alles, wonach sich der Mensch sehnt, sobald es ihn gibt.

Verheissung

War nicht Freiheit das Versprechen? Was daraus geworden ist: ständige Kontrolle, Getriebenheit, Erschöpfung. Und wir verbringen immer noch mehr Zeit an Bildschirmen. Waren wir naiv, als wir uns von der Euphorie einer neuen Zeit haben mitreissen lassen? Serie «Im digitalen Rausch», Teil 1.

Von Anna Miller (Text) und Peter Hauser (Bilder), 14.06.2021

Januar 2020. Ein Montag, 6.45 Uhr, 1. Entsperrung, Zeit am Handy: 3 Minuten, 45 Minuten unter dem Tages­schnitt, ich möchte vergessen, doch das Erinnern fällt mir nicht leicht.

Du kennst mich.

Du weisst, wie viel Schlaf ich brauche und wann ich traurig bin, du weisst, wen ich am liebsten mag und wo ich mein Essen bestelle. Wenn ich schlafe, liegst du neben mir und schläfst auch. Ich würde dich nie ganz ausschalten, das würde mich beunruhigen. Also lege ich dich schlafen, im Flugmodus, du liegst dann neben mir und weckst mich, wenn genug geschlafen ist. Du bist das Erste, was ich morgens, noch dämmernd, in meiner Hand halte, und das Letzte, bevor ich das Licht abends lösche.

Du weisst, welche Musik ich gerne höre, und versuchst trotz allem, mir ab und an was Neues vorzuschlagen. Manchmal rufst du mich, wenn ich gar nicht damit rechne, und manchmal bleibst du stumm, wenn ich dich am dringendsten bräuchte. Du hast mir so vieles von der Welt gezeigt, ohne dass ich einen Raum verlassen musste, du hast mir Möglichkeiten geschenkt, mir eine Stimme gegeben, Liebe, Aufmerksamkeit und eine Aufgabe.

Wenn ich kurz vergesse, dass du nur ein Smart­phone bist, das ich mit mir herum­tragen kann, fühlst du dich fast an wie ein Mensch.

Was krass ist, weil die Materie, aus der du geschaffen bist, gibt im Grunde nicht viel her. Du bist ein bisschen wie Geld, ein Schein, sonst nicht viel. Aber so viele Ideen und Träume projizieren sich auf deine Oberfläche, und ein so breiter Konsens herrscht darüber, dass du real bist, wichtig, unausweichlich, die Basis von allem Fortschritt, dass du tatsächlich dazu wirst. Und so kursieren Milliarden Smart­phones auf der Erde. Kaum ein Flüchtling, der ohne das Meer überquert, und ein amerikanischer Präsident, der bis vor kurzem damit regierte.

Serie: «Im digitalen Rausch»

Ständig vibriert, klingelt, pingt und leuchtet es. Smartphones ziehen uns in ihren Bann, von ihren Bildschirmen kommen wir nicht mehr los. Was macht die Always-on-Kultur mit uns? Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 1

Ver­heis­sung

Teil 2

Kon­troll­ver­lust

Teil 3

Tausendmal berührt, tausendmal nichts gespürt

Teil 4

Und nie ein Ende in Sicht

Teil 5

Das ewige Rauschen

Interview

«Je mehr Zeit wir vor Bild­schir­men verbringen, desto psychisch instabiler werden wir»

Du bist mehr als ein beliebiges Teilchen meines Lebens, wie ein Kugel­schreiber oder ein Schlüssel­bund. Du öffnest Millionen Türen. Speicherst Millionen Daten. Zeigst Millionen neue Wege auf, hast auf alles eine Antwort, für jedes Gefühl ein Emoji.

Du bringst mir die Welt, du bringst mir frohe Nachrichten über andere Menschen, über neue Aufträge und darüber, was mit der Welt, dieser verrückten Welt, gerade wieder los ist.

Du sagst mir, hey, du kannst mich alles fragen, du kannst alles nachschauen, ich merke mir alles für dich. Ich nehme dich an die Hand und führe dich durch das Labyrinth des Lebens, vertraue mir deine tiefsten Sorgen und Ängste an, gib sie in die Such­maske ein, sag mir, wie es dir geht, oder schick deiner besten Freundin einen Screenshot mit all den Nachrichten, die er dir schickte, die du aber alleine nicht entziffern magst.

Auf dir sind all die Fotos von mir gespeichert. Wie ich glücklich lache, wie ich Geburts­tage feiere und wie ich Menschen umarme. Mit dir halte ich die Vergangenheit fest, als sei sie gar nicht vergangen, obwohl ich ahne, dass das gar nicht geht.

Mit dir kann ich immer wieder überprüfen, ob das, was ich denke und fühle, auch andere denken und fühlen. Ob das, was ich zu sein denke, ein Abbild findet in dieser Welt. Oder ob ich was ändern muss, an mir, um mich anzugleichen.

Ich habe kürzlich ausgerechnet, wie viele Stunden ich mit dir verbracht habe. Es werden immer mehr. Es sind heute im Schnitt 3,5 Stunden am Tag, teilweise, je nachdem, 40 Stunden die Woche, das ist die Stunden­anzahl einer Vollzeit­beschäftigung in der Schweiz, nur die 5 Wochen Ferien, die gibst du mir nicht, und einen Lohn, den kriege ich auch nicht. Ich habe zusammen­gerechnet bereits über 20’000 Stunden meines Lebens mit dir verbracht, die ganzen Stunden am PC, am Laptop gar nicht mit­eingerechnet. All diese glatten Flächen, in denen ich mich ständig spiegle, der Bildschirm auf dem Klo, der Bildschirm beim Busfahren, der Bildschirm in der Umkleide­kabine, der Bildschirm im Restaurant.

Ich gebe dich nicht aus den Händen, und ich lasse dich nicht allein, ich lasse dich nicht liegen und ich vergesse dich nicht, ich halte dich ja sowieso die ganze Zeit in meiner Hand oder habe dich in einer Mantel­tasche platziert, weil du so noch schneller greifbar bist, ich und du, wir interagieren andauernd.

Dabei fühlst du dich gar nicht mehr gut an. Manchmal machst du mir sogar Angst. Angst, weil ich mich verändert habe in unserer Beziehung. Schleichend. Über die Jahre. So unscheinbar langsam, dass mir das lange gar nicht auffiel. Es sind kleine erste Anzeichen, erst dachte ich, sie hätten nicht viel mit dir zu tun.

Dass ich nicht mehr so fröhlich und unbeschwert bin wie früher. Irgendwie abgestumpfter. Dass ich so müde bin, abends, und doch eigentlich nichts erreicht habe. Dass ich mich einsamer fühle, im öffentlichen Raum. Müde ob der ganzen Geräusche und doch sehnsüchtig nach neuen Klängen. Dass ich dich immer öfter brauche, obwohl ich immer weniger weiss, ob ich dich noch will. Ich fühle mich in einer Beziehung gefangen, die mich schon länger nicht mehr wachsen lässt, doch trotzdem so gewohnt ist, dass es besser ist, dich als nichts zu haben. Lieber mit dir als dich zu verlieren, lieber mit dir und mich dabei selbst verlieren.

Ich habe vor kurzem ausgerechnet, wie viele Stunden ich mit dir verbracht habe. Es werden immer mehr.

Und während du immer bunter wirst und immer schneller in mein Gehirn eindringst, weisses Rauschen, werde ich selbst immer fahler in deinem Licht. Dabei war doch alles schön, am Anfang. So viel Leidenschaft. So viel Zukunft. So viele Chancen.

Was ist nur passiert, mit mir in dir?

Alles beginnt 1999, ich drücke erstmals den Knopf, den kleinen Knopf am oberen Ende des Geräts, Nokia 3210, manchmal spiele ich Snake, bis meine Augen müde werden, ich verliebe mich in einen Jungen, er schreibt mir auf einen Zettel, dass er mich mag, Deutsch­unterricht, ich bin 12 Jahre alt. Wir küssen uns im warmen Wasser des Schwimm­bads meiner Schule, draussen fällt der erste Schnee, und manchmal, wenn der Schnee so richtig fällt und vor dem Klassen­zimmer einen meter­hohen Berg bildet, öffnen die Schüler die Fenster und springen in den Schnee, kein Mädchen springt mit. Sonntags hört man die Kirchen­glocken durch das Tal schallen, wir laufen alle in die Kirche und beten das Vaterunser, und manchmal, wenn ich schlechte Laune habe und mich auflehnen will, bete ich nicht mit.

Zur Debatte: Könnten Sie ohne Ihr Smartphone leben?

Wie stark prägt das Smartphone Ihren Alltag? Könnten Sie ohne leben? Und wenn Sie häufig online sind: Was macht das mit Ihnen? Hier gehts zur Debatte.

Ab und zu stehle ich mich in mein Zimmer und krame das Gerät unter meinem Kopf­kissen hervor und schaue, ob eine Nachricht gekommen ist, manchmal ist da eine, und wenn sie von einem Jungen ist, den ich während der Ferien kennen­gelernt habe, schlägt mein Herz kurz etwas schneller. Ich bange, ich bange auf die nächste Nachricht, mag er mich noch?

2001, meine Mutter kauft mir zu meinem 14. Geburts­tag einen Macintosh, wir sind eine der ersten Familien mit so einem Gerät im Dorf, sie kauft einen zweiten Bildschirm im A4-Format, vertikal, damit sie die ganze Seite Word-Dokument vor sich sieht, ohne zu scrollen. Die Festplatte fasst 100 Megabyte, wir können nicht ins Internet, irgend­einer gibt mir eine AOL-CD und sagt, damit kommst du rein, ich installiere die CD auf dem Computer und lösche meiner Mutter dabei alle Dateien vom PC, und noch immer kann ich nicht ins Internet.

Ein paar Monate später kommt dann der Elektriker, er verlegt eine Leitung, es macht dieses Geräusch, das Einwähl­geräusch, ewiges Rauschen, verbunden, nun, mit der Welt, ich logge mich in einem Online-Chat ein und lege mir ein Pseudonym zu, ich schreibe meine ersten Worte in einen Messenger, meine Mutter heizt den Raum, in dem der PC steht, nicht auf.

Vielleicht ist es Absicht, damit ich nicht zu lange bleibe, vielleicht lohnt es sich nicht, diesen Raum auch noch zu heizen, es ist ja nicht so, als wäre dieser Raum zum Wohnen da. Darin steht ja nur ein PC, kein Grund, sich hier länger aufzuhalten, wer würde den Grossteil seines Lebens zwischen einem PC und einem Drucker verbringen wollen, es gibt ja noch die Küche und das Wohn­zimmer und das Schlaf­zimmer und den Garten und die Nachbarschaft und eine Welt, da draussen, ein Leben, da heizen wir doch den PC-Raum nicht auf.

Ich werde angewiesen, den PC runterzufahren, wenn ich fertig bin, und dann ein Stück braunen Stoff über den Bildschirm und die Tastatur zu legen, damit der Staub sich nicht fängt. Ich darf vor dem Gerät nicht essen und nichts trinken, ich muss schauen, dass die Tastatur sauber bleibt, und wenn ich fertig bin, soll ich die Leitung wieder freigeben, und sowieso, bleib nicht lange, zehn Minuten vielleicht.

Ich lege mir eine E-Mail-Adresse zu. morganechez_toi@hotmail.com, es gäbe auch Bluewin, doch ich will gross raus, amerikanisch sein, zur grossen weiten Welt gehören, zum world wide web.

Lustigerweise kam irgendwer drauf, die Internet­verbindung gleich zu nennen wie das, was wir unter Menschen die ganze Zeit tun, uns verbinden, connection, internet connection, 24/7 verbunden, für immer, überall, hohe Kosten, keine Gebühr. Jede Schranke, die in der realen Welt existierte, plötzlich ausradiert, keine Zeitzone, keine Uhrzeit, kein Bildungs­status mehr gültig, kein Verloren­gehen mehr möglich. Wir können zu jedem Menschen, der virtuell existiert, theoretisch eine Bindung aufbauen. Wir müssen nie wieder jemanden verlassen. Sogar die Toten bleiben im Internet am Leben, solange man ihren Account nicht löscht.

Ich weiss um die Jahrtausend­wende herum, als Teenager, noch nicht, wie sehr diese Verbindung, die jetzt noch über ein Kabel läuft, meine intimsten Wünsche triggern wird. Wie gewaltvoll sie sich ihren Weg bahnen wird, sobald sie sich vom Kabel befreit hat. Dass Leute 2020 in Tirana, der Hauptstadt von Albanien, an eine Strassen­wand sprayen werden: When phones had a wire, humans were free.

Wie sehr ein kleines Gerät das Glänzen in den Augen meiner Mutter simuliert, und wie sehr ich anfange, meinem Handy mehr anzuvertrauen als den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wie ich damit beginne, ihm mehr zu vertrauen als mir selbst.

Hier und da schnappe ich kurze Meldungen auf, Wissen­schaftler warnen davor, dass Angst­störungen bei Kindern zunehmen, oder einer sagt, man solle den Smartphone­bildschirm rechtzeitig dimmen, bevor man schlafen geht, weil sonst die Schläfrig­keit nicht kommt. Dass man digital Spuren hinterlässt, die einen später vielleicht den Job kosten.

Ab und an sagt ein Hirn­forscher, wir seien vergesslicher geworden, und eine Psycho­login moniert, dass unser Online-Dating-Verhalten unsere echten Beziehungen sabotiert, da gedeiht nichts, immer auf dem Abstell­gleis, immer mit einem Fuss im nächsten Teich. Dass der permanente Pornokonsum über Platt­formen wie Youporn sexuelle Übergriffe im echten Leben ansteigen lässt, das iPad im Bett die sexuelle Lust hemmt, weil das Gehirn beim Liken die gleichen Hormone ausschüttet wie beim Streicheln der partnerlichen Haut, und Ersteres einfacher und schneller funktioniert als Letzteres. Dass wir mittlerweile herum­laufen wie Zombies, immer fixierter auf ein kleines Gerät, wir laufen dann die Strassen lang und die Treppen runter und können nicht mal mehr zwei Minuten einen Gehweg entlang­spazieren.

Die Polizei rückt aus, weil Leute nicht mehr von ihren Geräten aufschauen, wenn sie die Strasse überqueren, die Polizei rückt aus und schirmt Leichen auf Autobahnen ab und versucht die Leute davon abzuhalten, Videos vom Toten zu machen, die Polizei rückt aus und versucht Kinder­schänder im Netz zu fangen, die Polizei rückt aus und versucht die Täterin zu belangen, die die 13-jährige Céline aus Spreiten­bach im Netz gemobbt hat, bis sie sich das Leben nahm. An einem spanischen Strand erstickt ein Baby­delfin in den Händen einer Meute Touristen, weil sie ihn so lange rumtragen, um Selfies mit ihm zu machen, bis er stirbt. Manchmal fragt sich jemand kurz, wie es sein kann, dass wir immer mehr Stunden am Tag im Internet verbringen, am PC, vor dem Bildschirm, dass das Digitale in unseren Leben immer mehr davon einnimmt, was wir tun, was wir sehen, was wir lesen, was wir denken und welche Konsequenzen das hat für unsere Entwicklung.

Dann reden ein paar Eltern beim Eltern­abend davon, dass ihre 10-jährigen Kinder über Mittag mehr als 200 Whatsapp-Nachrichten erhalten haben, in denen nicht viel mehr als ein paar Emojis stehen, und suchen in den Augen der Lehrer nach Antworten, dann zucken alle hilflos mit den Schultern und einige sagen, bitte, tun Sie was, und die anderen sagen, ach, hören Sie auf, das ist die Zukunft, dagegen kann man nichts tun. Keiner, der bei Sinnen ist, hat was gegen die Digitalisierung, und wenn Sie damit nicht umgehen können, ist das Ihr Problem.

Derweil führen Schulen landesweit digitalen Unterricht ein, iPads für alle, Videos für alle, einige Schulen lassen sich von Microsoft sponsern, oft ist man froh drum, endlich mal einer, der sich um den Fortschritt unserer Jüngsten kümmert! Studien, die darauf hinweisen, dass das Schreiben von Hand und das Lesen auf Papier das Hirn ganz anders stimulieren und emotionale Verarbeitungs­prozesse ermöglichen, werden da nicht so gern herbei­gezogen, die digitalen Vorteile überwiegen doch ganz klar.

Ich ahne noch nicht, wie sehr diese ganzen Mechanismen in mir diese Sehnsucht danach entfachen werden, gesehen und geliebt zu werden, von hundert­tausend Menschen auf der Welt gleichzeitig. Gehört und gehalten. Ich ahne nicht, dass du, Smart­phone, dich zu mir legen wirst wie ein Kuschel­teddy in mein Kinderbett, dem ich alle meine Träume anvertraue, all meine Sorgen, und den ich ganz fest an mein Herz presse, wenn ich Angst bekomme vor dem, was im Dunkeln auf mich wartet.

Verbindung ist alles, wonach sich der Mensch sehnt, sobald es ihn gibt. Wir stammen von einer Verbindung ab, Ei und Spermium, wir werden zu einem Zellhaufen, wir binden uns über eine Nabel­schnur an eine Mutter, wir kommen auf die Welt und weinen und schreien uns die Lunge aus dem Leib, weil wir diese erste Trennung erfahren, wir holen dann Luft und sehen unsere Mutter lächeln, unser Vater streichelt uns das erste Mal über den Kopf.

Wir hängen an einer Brust, wir hängen daran, egal, ob Mama schimpft, wir hängen so sehr an unseren Schul­freunden, dass wir uns mit ihnen zusammen blaue Strähnen in die Haare machen lassen oder tagelang nicht essen, wenn sie uns hänseln. Wir würden alles dafür tun, geliebt zu werden, wir tun alles, um verbunden zu bleiben.

Manchmal sagt meine Mutter, ich hänge zu lange an den Geräten rum, doch ich sage ihr, dass das nicht stimmt.

Manchmal fragt mich meine Mutter, was ich da alles tue, was daran so interessant sein soll, und ich rolle mit den Augen und sage, Mama, das verstehst du nicht, du bist halt alt.

Wir laufen mittlerweile herum wie Zombies, immer fixierter auf ein kleines Gerät, wir laufen dann die Strassen entlang und die Treppen runter und können nicht mal mehr zwei Minuten einen Gehweg entlangspazieren.

Manchmal fragt mich meine Mutter, ob ich zum Essen komme, und ich sage dann, gleich, gleich, und dann komme ich lange nicht, und das Essen wird kalt, und alle sind schon fertig, aber mir macht das nichts aus, weil, ich hatte jemandem zu antworten. Vielleicht wird das Liebe, er hat mich nach meinem Namen gefragt und ob ich bald wieder online komme, und dann haben wir uns verabredet, vielleicht treffen wir uns sogar mal, und wenn nicht, macht das nichts, weil, miteinander schreiben ist schon aufregend genug, und ich habe etwas, wovon ich nachts träumen kann, sein Name ist Jan.

Manchmal möchte ich etwas mit einem Nachbars­mädchen unternehmen, ich stelle mich dann an den Tisch neben der Küchen­tür und wähle ihre Telefon­nummer, und meine Mutter sagt, nicht über Mittag, nicht nach 20 Uhr, doch nicht an einem Sonntag, sag mal, seit wann stören wir die Leute?

Wenn ich Zug fahre, fahre ich Zug, wenn ich lese, lese ich, wenn ich nicht einschlafen kann, kann ich lange nicht einschlafen. Wenn ich denke, denke ich, wenn ich zeichne, zeichne ich, und oft bin ich ungeduldig und zeichne nicht lange, dann stehe ich auf und laufe zum Klavier rüber und spiele eine Melodie, die mir grad einfällt, an die ich mich danach nicht mehr so genau erinnern mag.

Nadine und ich überlegen uns Klopf­zeichen und ziehen eine kleine Schnur hinter dem Haus durch, wir ziehen daran und überlegen uns eine Zauber­sprache, die nur wir allein kennen. Einmal lang, zweimal kurz heisst: Die Luft ist rein.

2003, Fredi tritt mir beim Tanz­abend ständig auf die Füsse, ich versuche zu lächeln, dabei hat er Mund­geruch, und wenn er ins Schwitzen kommt, werden seine Hände feucht, er hält mich dann noch ein bisschen fester und hofft, dass ich mit ihm gehen will, aber ich will nicht. Ich verliebe mich in Manuel, vier Jahre älter, er trägt rote Ferrari-Turnschuhe und hat einen krassen Blick, und wenn ihm einer zu nahe kommt, dann droht er damit, ihm eine reinzuhauen, und oft wirkt das ziemlich schnell.

Wenn grad nicht Schule ist, telefonieren Manuel und ich stunden­lang. Er klebt sich sein Telefon mit Klebeband an seinen Kopf, damit er es nicht ständig halten muss. Mir tun die Arme weh. Manchmal auch der Kopf. Ich lasse nachts das Handy an, und wenn es vibriert, dann richte ich mich schlaf­trunken auf und antworte, ich antworte auf Nachrichten, die er mir schickt, er schreibt, schlaf gut, Meitli, schlaf gut. Und ich antworte und schreibe, du auch, ich denk an dich, ich küsse dich, träum süss, träum von mir.

An der Schule gehen Gerüchte um, Leonie und Timm sollen Sex in der Duschkabine gehabt haben, auch anal, die Mädchen sagen, sie sei eine Schlampe. Tim habe kotzen müssen, als er seinen Penis rauszog und dieser nach Scheisse roch, er habe ihr vor die Füsse gekotzt, und sie habe zu weinen angefangen, doch niemand weiss das so genau, weil: keine Bilder.

Februar 2020. Ein Donnerstag, 8.18 Uhr, 14. Entsperrung, Zeit am Handy 35 Minuten, 10 Minuten unter dem täglichen Durchschnitt, guten Morgen, Anna, möchtest du deine Benachrichtigungen nicht aktivieren?

Wo man auch hinschaut, noch immer die grosse Party, wenn ein Mobilfunk­anbieter das schnellste Netz des Landes noch billiger anbietet als sowieso schon. Wir lassen uns Waren und Essen und Taxis vor die Haustür liefern und feiern, dass Musik und News und Unterhaltung endlich für alle gratis sind, auch wenn irgendeiner draufzahlt, aber wir sind es nicht.

Die Politikerinnen und CEOs sagen uns dann an ihren Redner­pulten und an ihren Digitalisierungs­konferenzen, dass ganze Volks­wirtschaften im Westen bachab gehen werden, wenn wir den Anschluss verpassen. So viele Arbeits­plätze, die vor die Hunde gehen, so viele Leben, die von der Digitalisierung abhängig sind!

Der nationale Digitaltag wird zum rauschenden Volksfest mit Ständen und Panels und Kinder­programm, der Bundes­präsident stellt sich in Bern auf die Haupt­bühne, zieht sein Smart­phone aus der Tasche und sagt: Niemand hätte sich vor ein paar Jahren vorstellen können, wie viel dieses Gerät heute kann, wie vernetzt wir alle damit sind. Um anzufügen: Freut euch auf die Möglichkeiten der Digitalisierung. Denn wir haben keine Alternative.

Dann applaudieren alle, für die VIP-Gäste gibt es Häppchen, Weisswein und einen Sonderzug nach Zürich, man klopft sich gegenseitig auf die Schultern und tauscht Visiten­karten aus und versichert sich, ich, ich werde sicher nicht abgehängt, ich bin dick im Geschäft.

Digitale Fahrkarte, digitale Steuer­rechnung, digitale Abstimmung über die Zukunft der Demokratie, Vermittlung einer Wohnung, Vermittlung der ewigen Liebe, juristische Hilfe und ärztliche Vordiagnosen, alles die gleichen Prozesse, rein numerisch betrachtet nichts weiter als eine andere Abfolge des immergleichen Codes, 010101101010010101, null oder eins. Das macht uns wettbewerbs­fähig, was wichtig ist, denn wir haben keine Zeit, China ist auf dem Vormarsch, in Amerika entscheidet Facebook Wahlen, wir brauchen schnelle Netze, mehr Glasfaser, mehr Wi-Fi, 5G, die Konkurrenz schläft nicht.

Und wenn einer dann mal kommt und ein paar Fragen stellt, Fragen danach, ob das alles so klug ist und ob wir alles digitalisieren sollen und wem das nützt und was wir eigentlich psychologisch und sozial und gesundheitlich darüber wissen, was das ständige Online­sein, die Strahlung und das In-Bildschirme-Starren mit uns macht, lachen die Verantwortlichen und sagen: Ach, das dachte man doch immer! Bei jeder technologischen Revolution! 1900 drehten die Leute auch durch, und das nur, weil ein Zug schneller fuhr, als ein Pferd rennen konnte! Stell dir das mal vor!

Dann lachen sie alle und legen den Kopf ein bisschen schief und fragen, ob ich auch Angst hätte vor den Strahlen der Mikrowelle? Und mich nicht mehr röntgen lasse? Und überhaupt jemals auf die Strasse gehe? Weil, gefährlich ist das Leben überall, sterben kannst du sogar beim Sex.

Während Fragen nach den Schatten­seiten von technologischem Fortschritt in etwa so en vogue sind wie Karotten­saft in einer Fussball­kneipe, wächst gerade die erste Generation heran, die nie eine Welt ohne Internet kannte.

Vielleicht passiert mit der Mensch­heit ein paar Jahre nach Einführung des Internets und dem ganzen Social-Media-Wahnsinn neuronal und psychologisch genau das Gleiche wie nach dem Buchdruck, der Einführung des Radios oder des Fernsehens, nämlich: nicht viel. Oder aber, die Always-on-Gesellschaft verändert uns massiv, zu schnell, als dass unser System damit klarkäme.

Ein paar Anzeichen dafür gibt es inzwischen, auch wenn die Forschung hinterher­hinkt, weil für eine Langzeit­studie noch nicht genug Zeit vergangen ist. Und doch mehren sich die Anzeichen, dass uns das digitale Dauer­rauschen kaputt­macht, wenn wir nicht lernen, in eine digitale Balance zu kommen, den Überkonsum herunter­zufahren, bewusster damit umzugehen.

Nie waren Depressionen und Angst­störungen so verbreitet wie heute. Gab es unter Jugend­lichen so viele mit Selbstmord­gedanken. So viele junge Mädchen, die sich operieren lassen wollen, weil ihr wirkliches Gesicht und ihr echter Körper im Spiegel nicht mehr mithalten können mit dem, was sie online stellen, nachdem sie ein halbes Dutzend Filter darüber­gejagt haben.

Sogar Studien, die von Schweizer Telekommunikations­riesen mitfinanziert sind, sagen mittlerweile: Jeder zweite Jugendliche ist müde und erschöpft, jede fünfte hat Konzentrations­probleme, ist gereizt und wütend. Internationale Studien bestätigen Haltungs­schäden, Smartphone­nacken, Daddel­daumen, Kopf­schmerzen, Schlaf­störungen und verstärkte Angst- und Depressions­symptome aufgrund von übermässigem Bildschirm­konsum bis hin zu Risiken, früher an Demenz zu erkranken. Die gleichen Studien sagen dann, soziale Interaktion, Familien­zeit ohne Screen, Ausspannen und Gesellschafts­spiele würden sich positiv auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirken, eigentlich logisch, haben wir alle einfach kurz vergessen.

Weil der technologische Fortschritt sich ungern bremsen lässt von Abwägungen und Unsicherheiten oder Fragen nach Sinn und Gefühl. Er fährt lieber durch wie ein ICE, ohne Halt bis zur nächsten Katastrophe. Wenn sie dann da ist, überlegen wir uns vielleicht was, bis dahin wird einfach mal an die Idee geglaubt, komme, was wolle.

Und so kannst du bald auch im Flieger surfen, in der Bahn, no limits, immer erreichbar, wie geil ist das denn? So viel Spass, so viel Ernst, willst du etwa abgehängt werden, aus der Gesellschaft fallen, willst du Opfer sein?

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Tausendmal berührt, tausendmal nichts gespürt

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Teil 5

Das ewige Rauschen

Interview

«Je mehr Zeit wir vor Bild­schir­men verbringen, desto psychisch instabiler werden wir»