Serie: «Im digitalen Rausch» – Teil 2

Ich habe mit meinem Smartphone in der Hand die vermeintliche Kontrolle über alles. Über die Liebe, über Freundschaft, über meinen Körper; Kontrolle über die Zeit und das Wetter, meine Fruchtbarkeit.

Kontrollverlust

Das Smartphone gibt uns Kontrolle über uns selbst, unseren Körper, die anderen, das Wetter, den Kühlschrank. Und je unkontrollierbarer uns die Welt um uns herum erscheint, desto mehr klammern wir uns daran. Das Handy lässt kein Verloren­gehen mehr zu. Verlieren wir uns gerade deshalb so total darin? Serie «Im digitalen Rausch», Teil 2.

Von Anna Miller (Text) und Peter Hauser (Bilder), 15.06.2021

März 2020. Ein Dienstag, 11.22 Uhr, 34. Entsperrung, 20 Minuten über der wöchentlichen Bildschirm­zeit. Irgendwie kein guter Tag, irgendwie emotional leer. Ich glaube, die Welt wird verrückt.

Ich liege im Bett und habe den ganzen Tag vor mir, draussen ist es still geworden, die Bäume wachsen, die Sonne scheint, ein paar Menschen gehen spazieren, sie halten ihre kleinen Kinder an der Hand und laufen an meinem Fenster vorbei und haben es gar nicht eilig, sie nehmen sich plötzlich ganz viel Zeit.

Seit zwei Wochen stecken wir alle fest in einer Pandemie. Die Corona-Krise ist da, sie tobt mitten unter uns, nicht mehr als fünf Menschen dürfen zusammen die eigenen vier Wände verlassen. Viele Menschen beginnen wieder damit, Brett­spiele zu spielen und Brot zu backen. Häusliche Gewalt nimmt dramatisch zu, weil die Frauen nirgends hinkönnen, wenn er anfängt zu toben.

Die Schulen und Unternehmen und Firmen verlagern ihre Dienste in den digitalen Raum, die Ältesten wissen plötzlich, wie Zoom funktioniert, wir schauen uns Konzerte und Elektro-Partys über unseren Bildschirm an und sind so dankbar für die digitale Transformation. Für ein paar Wochen flutet Liebe und Solidarität die sozialen Netzwerke, alle sind nett zueinander, alle fürsorglich, der raue Umgangston, den wir sonst von Twitter kennen, weg. Die Ersten sagen vorsichtig, sie wünschten, es bliebe für immer so.

Wir stellen uns auf unsere Balkone und klatschen für das Spital­personal, wir singen gemeinsam Lieder und rufen einander im Innenhof zu, gute Nacht. Wir legen frische Blumen vor die Haustür und bringen einander Tomaten nach Hause, verpacken Geschenke in schönes Papier und schreiben Karten. Wir scheinen in der Krise bewusst zu spüren, was sich digitalisieren lässt und was nicht, wo wir Nähe brauchen und was uns fehlt, wir merken, dass wir nicht ewig online sein wollen und dass ein Gespräch, bei dem wir den Arm des anderen nicht berühren dürfen, irgendwie nicht gleich wärmt. Ich beginne zu hoffen. Darauf, dass die Prozesse, die sich digitalisieren lassen, um dem Menschen eine Hilfe zu sein, digitalisiert werden. Und solche, die uns krank machen, abhängig und dumm, ausgebremst. Und dass die Menschheit anfängt, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Serie: «Im digitalen Rausch»

Ständig vibriert, klingelt, pingt und leuchtet es. Smartphones ziehen uns in ihren Bann, von ihren Bildschirmen kommen wir nicht mehr los. Was macht die Always-on-Kultur mit uns? Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 2

Kon­troll­ver­lust

Teil 3

Tausendmal berührt, tausendmal nichts gespürt

Teil 4

Und nie ein Ende in Sicht

Teil 5

Das ewige Rauschen

Interview

«Je mehr Zeit wir vor Bild­schir­men verbringen, desto psychisch instabiler werden wir»

Und wenn dann doch die Angst kommt, vor dem Tod, vor dem Corona­virus, vor einem Welt­untergang, kann ich das tun, was ich schon seit dreizehn Jahren tue, ich kann meinen unsicheren Arm in die Dunkelheit strecken, und irgendwer kann mich halten, auch wenn ich Tausende Kilometer weit weg bin, auch wenn ich auf dem Klo bin oder im Bett liege und vielleicht nie wieder das Haus verlasse. Einer von 2569 Leuten, in Foren, in Chats, in Apps, in sozialen Netzwerken, auf Insta, per Mail, am Telefon wird mir eine Echo­kammer sein, wird mir helfen, meine tiefsten Ängste und meine schmerz­hafteste Ohnmacht wieder für einen kleinen Moment zu verdrängen, es werden sich einfach ein paar Sekunden Ablenkung über das Gefühl legen, haha, ja, ich auch, wie gehts dir, Foto, schau mal! Skype-Call heute? Wird 5 Min. später, kann nicht, kommst du? Herz-Emoji, Kusskuss, xoxo, ich melde mich!!!

Das Digitale entpuppt sich in vielen Bereichen auch als Heils­bringer, als Möglichkeit, kleine Cafés vor dem Unter­gang zu retten, lokal hergestellte Kleider nach Hause zu bestellen, mit Freunden und Verwandten in Kontakt zu bleiben. Alles super.

Haha, ja, ich auch, wie gehts dir, Foto, schau mal! Skype-Call heute? Wird 5 Min. später, kann nicht, kommst du? Herz-Emoji, Kusskuss, xoxo, ich melde mich!!!

2005, ich kaufe mir ein besseres Handy, ich mache einen neuen Vertrag, mehr SMS, länger telefonieren, eine Flatrate, sie kostet mich ein Vermögen, aber das ist es mir wert, so viel kommunizieren, wie ich will. Und dieses sichere Gefühl, mit der Zeit zu gehen, ihr davon­zurennen, sagen zu können: Klar, schau mal, hab das Gleiche wie du, in Blau, wusstest du nicht, dass es das jetzt in Blau gibt? Klar, in Zürich gekauft, an der Löwen­strasse, im grössten Handy­shop der Schweiz, und du so, noch immer nicht mit der Welt verbunden?

Melanie macht das erste Bild von mir, in einem Wald, wie ich mit Manuel knutsche. Danke fürs Schicken, hdl.

Die Leute im Ferien­lager sagen, wir dürfen keine Geräte dabeihaben, ich schmuggle mein Handy trotzdem mit rein. Ich nehme es mit aufs Klo und schreibe dort weiter, und wenn irgendwo ein Ton erklingt, zucke ich innerlich zusammen, jedes Mal, o Gott, fliege ich grad auf? Der Akku hält die ganze Woche. Manchmal dürfen die anderen Mädchen von meinem Gerät aus Nachrichten an ihre Freunde schicken, Fabienne, Laura, Alexandra.

April 2020. Ein Freitag, 13.12 Uhr, 34. Entsperrung, 1 Stunde 40 Minuten über der durchschnittlichen Bildschirm­zeit, gab es heute Tote?

Mein Mitbewohner sagt, er habe aufgehört, die Nachrichten zu konsumieren, das mache ihn nur krank, Corona komme und bringe einen um, ob man nun die Push-Nachrichten aktiviert habe oder nicht. Rolf Dobelli hat einen neuen Bestseller geschrieben und rät darin auf über 250 Seiten, man solle die Finger von kurzen News lassen, das mache einem das Gehirn zu Brei. Während­dessen fragen mich ein paar Berufs­kollegen, ob ich auf Tiktok sei, es ist wichtig, auf Tiktok zu sein! Das wissen schon die ältesten, langweiligsten Unternehmen, man muss jetzt alle Kräfte bündeln, das ganze Marketing, die Jungen erreichen! Sonst kauft bald niemand mehr, was wir hier alle machen, und dann verhungerst auch du.

Auf der Redaktion werden wir dazu angehalten, mehr über Corona zu schreiben, die Leute fragten das nach, das zeigten die Zahlen. Information suggeriert Kontrolle, Kontrolle suggeriert Sicherheit, Sicherheit ist zwar langweilig, aber immerhin suggeriert sie uns, dass wir das Böse abwenden können. Und so kaufen wir SUV, die so gross sind wie ein kleines Haus, montieren unsichtbare Zahnkorrektur­schienen und schliessen Versicherungen gegen Cyber­mobbing ab. Sicherheit ist wichtig für unser Überleben, da macht es nichts, dass wir immer weniger empfinden, das Leben nicht mehr spüren und den Wind nicht mehr spüren, in all dieser safety, wir fühlen uns nicht lebendig, aber auch nicht machtlos und klein und beliebig.

Zur Debatte: Könnten Sie ohne Ihr Smartphone leben?

Wie stark prägt das Smartphone Ihren Alltag? Könnten Sie ohne leben? Und wenn Sie häufig online sind: Was macht das mit Ihnen? Hier gehts zur Debatte.

Wir können der Welt zeigen, dass wir die Dinge im Griff haben und uns Wohlstand leisten können und grösser sind als Natur, Chaos und Viren, und vor allem können wir so tun, als wären wir was Besonderes. Verdrängen, dass wir am Ende des Tages eben doch alle die gleichen Dinge tun, die gar nicht so grossartig sind. Beispiels­weise Kot ausscheiden. Wasser kochen. Den Typen aus der Kantine heiraten, weil wir ihn halt schon lange kennen. Zwei Wochen Ferien auf Mallorca machen, wie immer im gleichen Hotel, die Cocktails nicht super, aber billig.

Wir wollen uns nicht damit auseinander­setzen, dass gewisse Dinge grösser sind als wir selbst, in einer Welt, in der es keinen Gott mehr gibt und wir selbst schuld sind, wenn aus uns keine Instagram-Stars werden, hast dich halt nicht gut genug verkauft.

Da kommt uns gelegen, dass unser kleines Gerät in unseren Händen uns Sicherheit und Kontrolle suggeriert.

Ich habe mit meinem Smartphone in der Hand die vermeintliche Kontrolle über alles. Über die Liebe, über Freundschaft, über meinen Körper; Kontrolle über die Zeit und das Wetter, meine Fruchtbarkeit, über den Inhalt meines Kühlschranks und darüber, wie warm es mein Schlaf­zimmer aufheizt, obwohl ich da grad gar nicht bin. Ich kann mit meinem Gerät alles vermessen und bewerten und auswerten, und das hilft mir, nicht in dieses Loch zu fallen, das sich Zufall nennt. Leben. Schicksal. Das alles so unendlich lebendig macht, wenn man es machen lässt, aber so bedrohlich wirkt, wenn man nichts hat, woran man sich festhalten kann.

Ich behalte die Kontrolle über Nähe und Distanz, über meinen Wert und über deinen. Ich kann, wenn ich will, jederzeit in die virtuelle Welt abtauchen, wenn ein Gespräch langweilig wird oder zu intim, lasse mein Gegenüber plötzlich ins Leere reden, während ich in meinen Bildschirm starre und hmhm sage, jaja, ich bin schon irgendwo da, aber ehrlicher­weise: Halt die Fresse, ich hab grad Besseres zu tun. Ich lasse dich warten, bis ich meinen Blick wieder vom Bildschirm hebe, das ist dann das Zeichen dafür, dass du weiter­sprechen darfst, die Fachwelt nennt das Phubbing, zusammen­gesetzt aus phone und snubbing, den Menschen für das Gerät links liegen lassen.

Ich behalte damit die Kontrolle über meine Gefühle, es ist so viel einfacher, als Pillen zu schlucken, Anti­depressiva oder Drogen. Mein Smartphone sediert mich umsonst. Es lenkt mich so sehr ab, dass ich die Welt um mich herum vergesse, oder erregt mich, bis meine Beine unter dem Tisch nicht mehr aufhören zu zittern. Ich brauche kein Vertrauen in die Menschheit mehr, es reicht, dass ich dir vertraue, wenn ich auf der Fahrt nach Hause die Route sekunden­genau nachverfolge, auf der mich dieser Unbekannte gerade nach Hause fährt.

Du suggerierst mir, dass du die Menschen, die ich über Airbnb in mein Haus lasse, kennst, ihre Bonität geprüft hast, ihren Lichtbild­ausweis gesehen und sie durch irgendwelche Sicherheits­algorithmen gepeitscht hast, und das kann jetzt ruhig mein Bauch­gefühl ersetzen, weil Zahlen doch so viel genauer sind als Gefühle.

Ich kann jede erdenkliche Unsicherheit googeln und bekomme Seiten angezeigt, auf denen andere Menschen die gleichen Probleme schildern wie ich, für einen kurzen Moment gibt mir das Halt.

Ich habe vermeintlich Kontrolle über mich selbst, das Wetter, die anderen. Über meine Probleme, mein Bankkonto, darüber, was andere von mir sehen sollen. Derweil etabliert die chinesische Regierung den Chinese Citizen Score, die digitale Total­überwachung der Bürgerinnen, während wir uns auf Netflix «Black Mirror»-Folgen anschauen und uns wundern über derart fantasie­volle Dystopie.

Ich bekomme Seiten angezeigt, auf denen andere Menschen die gleichen Probleme schildern wie ich, für einen kurzen Moment gibt mir das Halt.

Wir sind eben gutgläubig. Wir dachten, Facebook sei ein lustiges Freunde-Netzwerk, wir dachten, auf Twitter könnten wir uns engagieren, wir dachten, online einkaufen sei einfach bequemer. Wir dachten uns nichts weiter dabei, als Unternehmen uns anboten, unseren Menstruations­zyklus zu tracken und unseren Schlaf zu überprüfen. Als sie anfingen, uns zu sagen, wie lange wir meditieren sollen, und uns daran erinnerten, sechs Mal am Tag ein Glas Wasser zu trinken.

Wir ahnten nicht, dass das etwas mit Profit zu tun hat, mit Markt­mechanismen und damit, dass Alphabet, der Mutter­konzern von Google, 2019 einen Umsatz von 162 Milliarden Dollar erwirtschaftete. Wir haben lange nicht gewusst, dass Unternehmen in den Unweiten der Welt Klick­farmen eröffnen und dort Menschen zu einem Hunger­lohn nichts anderes tun, als den ganzen Tag auf Tausenden von Smart­phones Dinge zu liken, damit der Algorithmus, der heraus­finden soll, ob Likes industriell gekauft sind, nicht merkt, dass sie das sind.

Wir verkünden stolz, dass wir nun ein papierloses Büro haben und alles digital funktioniert, weil wir meinen, damit die Regen­wälder retten zu können, dabei realisieren wir nicht, dass die Digitalisierung, das Kühlen der Millionen Server, gigantisch viel Strom verbraucht. CO2 erzeugt. Dass wir niemals auch nur ansatz­weise eine 2000-Watt-Gesellschaft haben werden, solange jeder meint, er müsse seine fünf digitalen Endgeräte dreimal am Tag aufladen.

Wir bewerten mit dem Drücken auf einen Knopf, wie gut andere Menschen das Klo am Flughafen geputzt haben, und richten im Anschluss an unseren Restaurant­besuch mit Sternchen darüber, wie nett der Kellner war, und geben Hotels ein Like, weil uns gesagt wurde, wir könnten damit helfen, die Dienst­leistung zu verbessern, und glauben, wir tun damit niemandem weh.

Das Internet hat mir beigebracht, ständig über Dinge und Menschen und Zustände zu urteilen, es hat mir beigebracht, zu zelebrieren, dass ich Dinge liebe oder sie hasse, es hat mir beigebracht, mich zu empören, wütend zu werden, ein Recht auf Meinungs­äusserung zu haben, es hat mir beigebracht, dass ich Macht habe, dass ich stark bin, dass meine Meinung zählt, dass ich damit drohen kann, jemanden zu diskreditieren, dass ich jemanden über Nacht berühmt machen kann oder ihn canceln, ihn hochjubeln oder ihn kaputt­machen. Die Industrie liebt meine Emotionen. Wut generiert mehr Aufmerksamkeit und höhere engagement rates, wütende User bringen mehr Geld als friedliche. Und mir ist nichts lieber, als gesehen, gefeiert, gelobt zu werden.

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2007 stellt sich ein grosser, dünner Mann mit schwarzem Rollkragen­pullover auf eine ebenso schwarze Bühne und hält eine sehr gute Präsentation. Ich bin 20 Jahre alt, ich habe Abitur gemacht, habe die erste eigene Wohnung bezogen, ich habe selten getrunken, bis ich kotzen musste, und habe seit fünf Jahren Sex. Wenn ich etwas kaufen will, dann gehe ich in einen Laden, wenn ich ausgehen will, in eine Bar. Ich bezahle mit dem Geld, das in meiner Tasche liegt, und sehe den Menschen, der gerade physisch vor mir steht. Manchmal hören wir einander zu, manchmal warten wir auch nur, bis der andere fertig gesprochen hat, um selbst reden zu können.

Zehn Jahre später steigt in mir eine unerklärliche Wut auf, wenn die Seite nicht sofort lädt. Zehn Jahre später wird der CEO von Netflix in einem Artikel des «Guardian» sagen, die grösste Konkurrenz für das Unternehmen sei nicht HBO oder Youtube, sondern Schlaf.

Plötzlich staut sich in mir eine Wut, wenn die Dame vor mir länger braucht, um aus dem Zug zu steigen, ich ertrage meine Mitmenschen nicht mehr, unnötige Geräusche und unnötige Verspätungen, ich halte es nicht mehr aus, drei Stunden am Stück Zug zu fahren, ohne mich davon ablenken zu müssen, dass ich Zug fahre. Freundinnen fragen mich am Telefon, warum sie nach zwei Wochen Dating immer noch nicht verliebt sind und nach drei Tagen Diät noch nicht schlank.

Wir halten es plötzlich nicht mehr aus, dass wir nach drei Monaten Studium noch keinen Master gemacht haben und nach drei Blog­einträgen noch kein gefeierter Autor sind, dass wir nach drei Wochen Youtube-Filmen noch nicht so viele Follower­zahlen haben wie die anderen. Wir wundern uns, warum wir im Berufs­leben die Karriere­leiter nicht erklimmen. Und bald denken wir uns, irgendwas stimmt nicht mit mir, ich bin nicht schnell genug, nicht klug genug, alles dauert so lange, ich dauere zu lange. Ich muss alles beherrschen, bevor ich es kann, ich muss Dinge können, ohne sie jemals gelernt zu haben. Für Lernen und Fehler­machen und Dranbleiben ist keine Zeit mehr, verstehst du!

Das ständige Online-Sein macht mich zu einem fahrigen, hyperaktiven, unkonzentrierten Trottel, der nicht mehr in der Lage ist, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Statt eine halbe Stunde konzentriert zu lesen, schmeisse ich alles hin, wenn ich nach drei Minuten noch nicht im Text versinke oder er mich geistig ein bisschen mehr heraus­fordert als eine Zusammen­fassung auf Blinkist. Das Scrollen am Handy ist so viel einfacher, als sich damit auseinander­setzen zu müssen, dass nicht jeder Erfolg so einfach vom Himmel fällt wie ein Päckchen von Zalando.

Dann wundere ich mich, wo meine Kreativität hin ist, nach all den Jahren im Internet.

Ein Drittel aller Arbeit­nehmenden legt mittler­weile das Smart­phone zwischen sich und die Tastatur des Computers, um für alle Chefs und alle Freunde und alle Nachrichten auf sieben Kanälen konstant in Reichweite zu sein, dann fragen wir uns, warum wir am Abend so erschöpft sind, nachdem wir den ganzen Tag physisch, mental und digital bombardiert wurden.

Zermürbt von shallow work, wie die Ikone des Digitalen Minimalismus, Cal Newport, sagen würde. Nach zwei Masters of Science dazu angestellt, E-Mails zu beantworten und auf der Plattform Teams die Nachrichten der Kollegen zu liken, statt ein paar Stunden ungestört Gedanken nachgehen zu können, die potenziell Innovation hervor­bringen würden.

Dann frage ich mich, warum es mir nicht mehr so viel Spass macht, einfach mal dazuliegen, und ich es nicht mehr aushalte, den Abspann eines Films durchlaufen zu lassen. Ich wundere mich, warum ich wieder zu nichts gekommen bin, eigentlich nicht wirklich viel gemacht, aber doch 16 Stunden wach war und immer was zu tun hatte, ich fühle mich leer gesaugt und ausgelaugt, und mein Gehirn ist fahl und tot und matt.

Ich feiere plötzlich den Minimalismus ab und möchte so wenig besitzen wie möglich, vielleicht, weil ich nach 150 Mal App öffnen wohl unterbewusst einfach Lust darauf habe, eine weisse Wand anzustarren, und so hocke ich an einem alten Holztisch, der total viel Boden­ständigkeit und Ruhe ausstrahlt, und surfe weiter im Netz.

Manchmal, wenn ich in dieser Art von dystopischer Leere hocke und mich frage, warum mich das Grün der Blätter nicht mehr interessiert, obwohl ich doch extra raus an die frische Luft bin, um mal fünf Minuten zu detoxen, erinnere ich mich vage daran, dass ich mich früher lebendiger fühlte, irgendwie mehr in Verbindung mit dem Moment, wie er ist, und nicht, wie er sein muss, damit ich ihn für meine soziale Belohnungs­schleife missbrauchen kann.

Alles, was ich sehe, ist automatisch schon ein Selfie-Motiv, ein Hashtag. Ich habe alles schon mal im Netz gesehen, habe überall schon gegessen, alles schon gefühlt.

Wir suchen dann den nächsten Kick, das nächste Abenteuer, wir wollen was erleben und es mit der Welt teilen, wir fahren dann in ein Riesen­aquarium und drücken unsere Smart­phones an die Scheiben. Und schauen uns die Tiere, die darin schwimmen, gar nicht mehr an, obwohl wir sie extra für unser Vergnügen weggesperrt haben. Wir drücken einfach ab und laufen ein Becken weiter und drücken wieder ab und laufen weiter, um am Ende 50 digitale Bilder zu haben von einem Ort, für den wir Eintritt bezahlt haben, den wir aber mental gar nie betreten haben. Scheissegal, wie einsam wir uns vor diesem Aquarium fühlten, scheissegal, ob wir uns auch nur an ein Tier noch erinnern mögen, daran, wie es heisst oder wo es lebt oder ob es bedroht ist. Hauptsache, wir zeigen der Welt, dass wir etwas erlebt haben, auch wenn wir nichts empfunden haben dabei.

Wann habe ich mich das letzte Mal wirklich verloren im Moment? Bin ich abgetaucht, habe ich die Welt um mich herum vergessen? 15 Minuten dauert es, bis der Mensch in einen Flow-Zustand kommen kann, in diesen Zustand, in dem die Zeit stehen bleibt, wir aufgehen in dem, was wir tun. Wir brauchen diesen Zustand, sagt die Psychologie, um etwas zu erschaffen. Um glücklich zu sein. Zehn Minuten dauert es im Schnitt, bis mich das Handy wieder ruft. Damit radiere ich den Flow-Zustand aus meinem Leben. Er ist so selten geworden wie ein Sommer­regen, der auf meinen Kopf prasselt, weil ich vergessen habe, den Wetter­bericht aufzurufen und daheim zu bleiben.

Wer wird noch Grosses erschaffen, wenn er sich nicht mehr konzentrieren kann? Wozu machen wir jahre­lange Ausbildungen, wenn wir die Gedanken nicht mehr aneinander­reihen können? Was erschaffe ich noch, wenn ich es nicht mehr hinkriege, in meine tiefsten Tiefen vorzudringen, weil ich mich alle paar Minuten selbst unterbreche? Wie kreativ und bunt wird diese Welt sein, was wird sie an Neuem gebären? Wer spielt in ein paar Jahren noch heraus­ragend Cello, löst die krassesten Mathe­aufgaben, entdeckt neue Galaxien? Artificial Intelligence wahrscheinlich.

Dann googeln wir Prokrastination, schauen ein Video dazu und schreiben unserer Freundin, dass wir, mann!!!, einfach nichts hinkriegen, und sie sagt, ach, scheisse, ich auch!!! versteh ich voll!!!, so fühlen wir uns ein bisschen besser, klicken weiter und versuchen, den günstigsten Flug zu finden und das schönste, eierschalen­weisse, fair produzierte, in Europa genähte und ewig haltbare Geschirrtuch.

Wir bleiben einfach auf dem Sofa liegen und verlassen die Wohnung nicht mehr, weil die Angst so gross ist, etwas falsch zu entscheiden. Und wir kaum Energie haben, überhaupt noch zu entscheiden. Jeden Tag muss ein Mensch 35’000 Entscheidungen treffen, sowieso schon, unbewusst und bewusst, und dann ballert uns Galaxus mit 3558 schwarzen Tennis­schuhen voll.

Dabei gäbe es doch so viel zu tun. In diesem ganzen globalisierten Wahnsinn, in dem wir uns gerade befinden. So viele Minder­heiten diskriminiert, so viele Wälder brennen, so viele korrupte Politiker, Pandemien, die die Börsen zusammen­krachen lassen.

Aber oft, Leute, reicht die Kraft nicht für mehr als einen repost. Den Freiwilligen­einsatz verschieben wir auf nächstes Jahr. Ich zerbreche grade an den 367 Möglichkeiten von Flügen nach Mallorca, Self-Check-in, Etikette selber ausdrucken, keine Rück­erstattung, Hotline tot.

Dann googeln wir Prokrastination, schauen ein Video dazu und schreiben unserer Freundin, dass wir, mann!!!, einfach nichts hinkriegen.

2008, ich lasse meinen Blick durch die Bar streifen und bleibe manchmal hängen, ich lächle rüber oder geh gleich hin und sage, hey, und du so, dann reden wir miteinander und finden uns gut oder lassen es bleiben. Manchmal sagt einer, ich bin öfter hier, du auch, lass uns wieder treffen, genau hier, in ein paar Tagen, und ich sage, ist gut. Dann gehe ich nach ein paar Tagen wieder hin, und manchmal ist der andere auch da und manchmal ist er es nicht, dann bin ich kurz enttäuscht und bleibe einen Moment lang sitzen und fühle mich töricht und leer.

2009 kaufe ich mein erstes Smart­phone, ein iPhone, von Beginn weg ein iPhone, ich will mich auf der sicheren Seite der Geschichte wähnen, auf der guten, auf der magischen, ich will teilhaben am Mythos Apple, am Mythos Steve Jobs. Das Gerät in meiner Tasche wird zu meinem Türöffner in eine neue Welt, zum stummen Erkennungs­merkmal der jungen Generation, der Menschen, die verstehen, was Wandel ist, und ihn mitgestalten wollen. Ich höre Musik damit, ich schreibe Notizen, ich stelle die ersten Bilder auf Facebook, ich markiere die ersten Leute, bald wird mir klar, dass die besseren Bilder mehr Likes bekommen, und lade deshalb nur noch diese hoch.

Ich bekomme die ersten Komplimente, erste mir fremde Männer, die über die Plattform fragen, wie viel eine Nacht mit mir kostet, vielleicht, weil ich roten Lippen­stift trage auf meinem Profilbild, vielleicht, weil ich einen Allerwelts­nachnamen trage oder genau den gleichen Namen wie eine amerikanische Porno­darstellerin. Ich lerne, dass ich gut aussehen soll, aber nicht zu provokativ. Ich lasse die Leute auf Social Media daran teilhaben, dass ich ins Ausland studieren gehe, wow, krass, wow, schau, ich beginne, darauf zu achten, dass ich zur richtigen Zeit in den richtigen Clubs bin und viele Menschen darauf aufmerksam mache, wie gut mein Leben gerade ist, auch wenn es sich innerlich ganz anders anfühlt.

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