Auf lange Sicht

Zufall, Götter und Dämonen

Was sagen Sie, wenn Sie einfach, ohne gross nachzudenken, eine Zahl sagen sollen? Vermutlich was die meisten sagen.

Von Marie-José Kolly, 14.06.2021

Zahlen, Balken, Pfeile: Jeden Montag schärfen wir Ihren Blick für die ganz grossen Zusammenhänge.

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Es ist die Zahl, die auf Lottoscheinen am häufigsten angekreuzt wird. Die Zahl der Zwerge, die Schneewittchen besuchte, und die der Geisslein, die der Wolf frass. Es ist die Zahl der Todsünden im Christentum und der Chakren in hinduistischen Schriften.

Wenn man Leute nach der ersten Zahl zwischen 0 und 9 fragt, die ihnen in den Sinn kommt, ist es die meistgenannte Zahl:

Sieben.

Die beliebtesten Zufallszahlen

Verteilung der Antworten (Durchschnitt aus verschiedenen Experimenten)

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Antworten von insgesamt 1770 Probandinnen. Quelle: Kubovy, M., und Psotka, J. (1976): «The Predominance of Seven and the Apparent Spontaneity of Numerical Choices». Journal of Experimental Psychology (Human Perception and Performance) 2/2: 291–294.

Die Daten für diese Grafik haben wir bei dem Wissenschaftler angefragt, der sie zusammen mit seinen Studierenden in Yale erhoben hatte: Michael Kubovy, dem mittlerweile emeritierten Professor für kognitive Psychologie.

Er habe sie nicht, schrieb er postwendend zurück: «In den 1970er-Jahren existierten sie nur auf Papier, und das ist bei all meinen akademischen Umzügen nicht erhalten geblieben.» Wir haben deshalb ausnahmsweise nicht die Originaldaten visualisiert, sondern Daten, die eine Software aus der Originalgrafik herausgelesen hat. Darin enthalten sind die Antworten von 1770 Probanden.

Es sei ein «pandemisches Phänomen», schreiben Kubovy und sein Co-Autor Joseph Psotka: Wir halten die Zahl 7 offensichtlich für ein besonders gutes Beispiel einer zufällig gewählten Zahl. Ein grosser Teil der Daten, die das nachweisen, wurde an der Universität Yale erhoben, aber Experimente aus verschiedenen Ländern zeigen immer wieder dasselbe Muster. Das Ergebnis ist so solide, dass es auch angebliche Zauberer und Gedanken­leserinnen gerne nutzen. So stabil, dass es ein eigenes Wort dafür gibt: Heptaphilie, die Neigung zur Sieben.

Fragt man dagegen eine Maschine nach 1770 zufälligen Zahlen zwischen 0 und 9, kommt ein ganz anderes Muster zustande. (Und fragte man sie ein weiteres Mal nach 1770 Zufalls­zahlen, sähe das Muster leicht anders aus – vielleicht stünde in der nächsten Stich­probe der etwas längere Balken nicht mehr bei der 9, sondern bei der 0 oder der 4).

Die beliebtesten Zufallszahlen eines Zufallsgenerators

Verteilung der 1770 Antworten

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Quelle: Zufällige Stichprobe von 1770 ganzen Zahlen zwischen 0 und 9, generiert mit der Programmiersprache R.

Für einen Computer ist die 7 nicht eine beliebtere oder bessere spontane Antwort, als es beispielsweise die 0 ist. Alle ganzen Zahlen zwischen 0 und 9 sind gleich gute Exemplare.

Warum wir die Sieben mögen

Menschen, die man nach der ersten Zahl fragt, die ihnen einfällt, gehen offensichtlich anders vor als die Maschine. Sie gehen dabei auch anders vor, als wenn sie einen Zettel aus einem Hut zögen, der neun nummerierte Zettel enthielte. Sie tun nämlich das, was sie tun, bewusst.

Menschen können sich nicht wirklich zufällig verhalten, weil ihnen dieses Bewusstsein dabei in den Weg kommt. Sie geben auf die Frage «Was ist die erste Zahl, die Ihnen einfällt?» eben gerade keine spontane Antwort. Sie sagen vielmehr das, was ihnen als möglichst spontan und zufällig erscheint. Ihre Intuition, ein blitz­schnelles Nach­denken, sagt ihnen: Manche Zahlen sind bessere Beispiele für den Zufall als andere.

Das wird offensichtlich, wenn man sich ein paar weitere Experimente von Psychologen ansieht.

  • Als Probanden nach demselben Prinzip eine Zahl zwischen 0 und 9 nennen sollten, aber nur ganze Zahlen wie zum Beispiel 7, wählten sie die 7 ebenfalls am häufigsten – aber viel weniger häufig als wenn sie nicht in der Frage enthalten war.

  • Als andere Probandinnen eine Zahl zwischen 20 und 29 angeben sollten, war 27 bei weitem die meistgenannte Zahl.

  • Als man sie aber nach einer Zahl zwischen 70 und 77 fragte, gaben sie 77 ähnlich häufig an wie 73.

Warum wirken die 7 und die 27 auf unsere Intuition besonders zufällig?

«Spontaneität ist die Freiheit von offen­sichtlicher Kausalität», schreiben Michael Kubovy und sein Co-Autor. Ein Zufall ist ein Ereignis, für das es keine Ursache gibt. Und eine möglichst spontan wirkende Antwort ist nach unserem menschlichen Ermessen eine, die nicht aussieht, als wäre sie bei einem Vorgang entstanden, in dem Muster oder Regel­mässigkeiten eine Rolle spielen.

Sehen wir uns die Eigenschaften der Zahlen aus den Experimenten an. Die 3 etwa ist ein Teiler von 6, die wiederum eine gerade Zahl ist – ebenso wie 2, 4 und 8. Die 0 und die 9 sind die Endpunkte der vorgegebenen Skala. Zusätzlich ist die 9 ein Vielfaches von 3. Die 5 ist ein traditioneller Mittel­punkt, und die 1 ist ein traditioneller Start­punkt. Die 7 aber hat zwischen 0 und 9 keine Vielfache, und Teiler hat sie als Primzahl sowieso keine.

Die Zahl sticht gerade dadurch hervor, dass sie kaum Eigenschaften hat – es sei denn, sie tritt gleich doppelt auf, als 77. Die 7 allein ist frei von Regel­mässigkeiten oder Mustern, die wir Menschen typischerweise als unzufällig wahrnehmen. So ist sie ein besonders gutes Beispiel für eine Antwort, die wirkt, als wäre sie spontan, also zufällig zustande gekommen. (In Wahrheit kommt sie natürlich alles andere als spontan zustande.)

Heptaphilie auf lange Sicht

Als unsere Vorfahren vor der schwierigen Aufgabe standen, mehr über ihre Umgebung zu lernen, lag ihr Fokus nicht auf dem Zufall – zufällige Ereignisse als solche zu erkennen, war nicht besonders nützlich. Wichtiger war es, wieder­kehrende Regel­mässigkeiten als solche zu erkennen. Und damit kausale Zusammen­hänge zu finden, um künftig clevere Entscheidungen treffen und informiert handeln zu können. Das heisst: Unser Hirn ist darauf geeicht, nach Regel­mässigkeit zu suchen.

Kinder lernen ihre Umwelt auf diese Weise verstehen – indem sie nach wieder­kehrenden Mustern suchen. Auch Wissenschaftlerinnen suchen nach Kausalitäten. So stellte etwa im 19. Jahr­hundert der Mediziner Ignaz Semmelweis fest, dass es Patienten auf einer Station, vor deren Eingang sich Ärzte die Hände wuschen, besser ging als jenen auf der anderen Station. Und kam so darauf, dass manche Krankheiten durch Krankheitserreger an den Händen übertragen werden und nicht einfach von schlechter Luft stammen. (Nach über einem Jahr Pandemie wissen wir natürlich, dass manche Krankheits­erreger auch via Aerosole, also über Kleinst­tröpfchen in der Luft, in den Menschen gelangen.)

Dieses menschliche Talent zur Muster­suche hat aber eine Neben­wirkung: Wir neigen dazu, hinter jeder Regel­mässigkeit eine Kausalität zu wittern – obwohl auch das Regel­mässige natürlich durch Zufall entstehen kann. Zufällig scheint uns nur, was unregelmässig ist. Und weil der Zufall ausserdem unangenehm, weil unberechenbar ist, fanden wir im Lauf der Menschheits­geschichte auch dafür eine Erklärung: über­sinnliche Kräfte, Götter, Dämonen.

So geht auch die Neigung zur 7 weit zurück. Wir finden sie in Märchen und Mythen, in der religiösen und der esoterischen Praxis sowie im Aberglauben. Manchmal ist die 7 eine Unglücks­zahl: Ein zerbrochener Spiegel steht für 7 Jahre Pech. Und manchmal soll sie Glück bringen: Etwa wenn 7 Punkte auf den Flügeln eines Marien­käfers sind.

Sieben: Es ist die Zahl der Sakramente in der katholischen Kirche und die Zahl der Arme der Menora, einem der wichtigsten Symbole im Judentum. Es ist die Zahl der Fliegen, die das tapfere Schneiderlein auf einen Streich erlegte. Und die der Himmels­körper, die man schon im Altertum kannte – weil man sie mit blossem Auge sehen konnte.

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