Wie die Menschheit Viren und Bakterien zurückgedrängt hat
Seit dem 19. Jahrhundert ist die Lebenserwartung drastisch angestiegen. Das liegt nicht nur an den Segnungen der Medizin – sondern auch an entschlossenem Handeln der Politik.
Von Olivia Kühni, 24.05.2021
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Eine der erstaunlichsten Entwicklungen der jüngeren Menschheitsgeschichte ist: Wir leben länger. Sehr viel länger.
Noch um 1800 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung kaum mehr als 30 Jahre. Heute werden wir im weltweiten Durchschnitt 73 Jahre alt, und selbst in den ärmsten Ländern sind es inzwischen rund 60 Jahre. In der Schweiz werden Frauen durchschnittlich 86, Männer 82 Jahre alt.
Um zu verstehen, wie es zu dieser Entwicklung kam, sollten wir uns diese Zahlen nicht als Durchschnitt vorstellen – so, als wären im 19. Jahrhundert alle Menschen mit knapp 30 Jahren gestorben. Sondern wir müssen uns die Lebensläufe und Schicksale der Menschen anschauen.
Immer geringeres Risiko für frühen Tod
Wie viele Menschen schaffen es, in einem bestimmten Lebensalter – mit 10, 45 oder 80 Jahren – das nächste Lebensjahr zu erreichen? Und wie viele ihrer Schulfreunde, Berufskolleginnen und Altersheim-Mitbewohner erreichen dieses nächste Lebensjahr nicht? Diese Fragen helfen, den Ursachen für die Sterblichkeit auf die Spur zu kommen.
Die folgende Grafik macht die Veränderungen deutlich. Sie zeigt am Beispiel von England und Wales, wie sich das Sterberisiko der dortigen Bevölkerung vom 19. Jahrhundert bis heute immer weiter ins hohe Alter verschoben hat.
Das Sterben setzt später ein
Überlebenskurve der Engländerinnen und Waliser
Quelle: Office for National Statistics.
Die Kurven zur Abbildung der Verhältnisse im 19. Jahrhundert fallen gleich zu Beginn stark ab. Das heisst: Viele Menschen starben 1851 und 1891 bereits in den ersten fünf Lebensjahren. Aber auch danach starben kontinuierlich mehr Menschen als heute – mit 45 Jahren war nur noch etwa die Hälfte am Leben. Die Kurve von 2011 beginnt dagegen erst beim 60. Lebensjahr stärker zu fallen. Erst in diesem Alter fängt es heute in der Regel an, dass wir um Gleichaltrige trauern müssen.
In England begannen Gemeinden früher als anderswo in Europa, demografische Daten zu sammeln. Mithilfe regional aufgeschlüsselter Kurven lassen sich dort auch die Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung ablesen, wie etwa der Historiker Leigh Shaw-Taylor festhält. Mitte des 18. Jahrhunderts überlebte etwa im schmutzigen, von Armut geprägten London nur jeder Fünfte bis zum Alter von 45 Jahren.
Was also sorgte dafür, dass das Leben im anbrechenden Industriezeitalter noch immer so «hässlich, brutal und kurz» war, wie es der Philosoph Thomas Hobbes schon einige Jahrzehnte zuvor formuliert hatte?
Pocken, Masern, Typhus
Die Antwort ist glasklar und liegt angesichts der Covid-Pandemie näher als auch schon: Infektionskrankheiten. 1850 starb fast jeder zweite Mensch an einer übertragbaren Krankheit wie Pocken, Masern, Keuchhusten oder Typhus. 2012 gingen nur noch 6 Prozent der Todesfälle darauf zurück.
Typhus und Co. verlieren ihren Schrecken
Anteil der Infektionskrankheiten an den Todesfällen
Quelle: Shaw-Taylor (2020).
Die Gefahr, die von Infektionskrankheiten ausgeht, hat über die letzten rund 150 Jahre also drastisch abgenommen. Ein wichtiger Grund dafür ist eine Errungenschaft, über die im Moment viel gesprochen wird: Impfungen.
Diese Technik, sich über den Kontakt mit bestimmten Giften oder Erregern gegen Krankheiten zu immunisieren, wurde in verschiedenen Zivilisationen angewandt. Bekannt ist etwa, dass buddhistische Mönche bereits vor hunderten von Jahren Schlangengift tranken, um Immunschutz gegen Bisse aufzubauen. In England gab bereits 1718 Lady Mary Wortley Montagu, Gattin des britischen Botschafters in Konstantinopel, zur Immunisierung winzige Mengen von Pockenviren auf die geritzte Haut – eine Technik, die im Osmanischen Reich bekannt war.
Mitte des 19. Jahrhunderts brach in England dann das Zeitalter der modernen Impfkampagnen an. Die erste solche Impfung, ebenfalls gegen Pocken, entwickelte der Landarzt Edward Jenner Ende des 18. Jahrhunderts. Sie war ab 1853 landesweit erhältlich und rettete jährlich Zehntausenden Kindern das Leben.
Die erste moderne Impfkampagne
Pocken-Todesfälle im 19. Jahrhundert in England
Quelle: Our World in Data.
Im Lauf des 20. Jahrhunderts kamen schliesslich viele weitere Impfungen gegen potenziell tödliche Krankheiten dazu: Diphterie, Masern, Röteln, Starrkrampf, Polio («Kinderlähmung») oder Mumps. Seit rund 30 Jahren sind diese vermehrt auch für Menschen in ärmeren Ländern erhältlich.
Der Erfolg ist durchschlagend. Die Zahl der Kinder, die an einer mit Impfung vermeidbaren Krankheit sterben, ist seither weltweit auf etwa ein Drittel zurückgegangen. Heute bewahren Impfungen nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO jedes Jahr 4 bis 5 Millionen Menschen vor einem vorzeitigen Tod. Sie sind tatsächlich, wie die WHO schreibt, «eine der grössten Erfolgsgeschichten der modernen Medizin».
Doch wer den Blick nur auf Impfungen richtet, der vergisst, dass es nie nur eine einzelne Technologie ist, die das Leben von Menschen verbessert. Dazu gehört zuerst immer auch eine Revolution im Denken.
Im Fall von Infektionskrankheiten war dies eine mit der Aufklärung erstarkte Denkhaltung, die sich unter dem Stichwort public health zusammenfassen lässt: die Überzeugung, dass das Überleben und die Gesundheit der Menschen nicht einfach unabänderliches Schicksal sind, sondern sich verbessern lassen – mit wissenschaftlicher Neugierde, Lernen und entschlossenen Massnahmen.
Im Einsatz gegen die «schlechte Luft»
Bis weit ins 19. Jahrhundert hingen Mediziner und Wissenschaftler der sogenannten «Miasma»-Theorie an: Sie glaubten, Krankheiten wie Pest, Cholera oder Pocken würden durch schlechte Luft und Ausdünstungen übertragen. (Der Name Malaria – «schlechte Luft» – zeugt bis heute davon.)
Auch wenn diese Theorie später widerlegt und Viren und Bakterien als Ursachen identifiziert wurden, legte sie den Grundstein für politisches Handeln: weil sie den Blick auf die Umgebung der Menschen, auf Lebensbedingungen und auf die Umwelt richtete. «Schlechte Luft» ist schliesslich kein Schicksal, das man tatenlos hinnehmen muss.
Bereits im 18. Jahrhundert nutzten Mediziner und Sozialreformerinnen die neuen Methoden der wissenschaftlichen Revolution – Beobachtungen, geografische, topografische, meteorologische und epidemiologische Datenerhebung –, um herauszufinden, was die Ausbreitung von Krankheiten begünstigte, wie unter anderen der Historiker James C. Riley in seiner Forschung aufzeigt.
Aus ihren Resultaten leiteten sie eine Reihe von Vorschlägen ab:
Sümpfe und anderes stehendes Wasser trockenlegen;
Wasser in Kanälen mithilfe von Pumpen in Bewegung halten;
Abwässer aus Wohngebieten ableiten (Kanalisation);
Wohnungen gut lüften;
Schwefelhölzer anzünden, um Insekten aus Häusern, Spitälern, Gefängnissen und öffentlichen Gebäuden fernzuhalten.
Insbesondere in England, aber auch in Frankreich, Deutschland oder Österreich setzten sich die Vorschläge ab dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert durch. In der Folge begann die Sterblichkeit stark zu sinken.
Wie wichtig eine gute öffentliche Infrastruktur ist, zeigt auch ein Beispiel aus den USA. Dort begannen die Behörden kurz nach 1900, in den Städten das Trinkwasser zu filtern und mit Chlor zu versetzen. Daraufhin sank die Anzahl von an Typhus Verstorbenen in allen Städten. In Cincinnati beispielsweise ging sie von etwa 60 Menschen pro 100’000 auf weniger als 10 zurück.
Auch andere Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Keuchhusten wurden in dieser Zeit in den Vereinigten Staaten stark zurückgedrängt.
Erfolge im Kampf gegen Krankheiten
Rückgang der Todesfälle aufgrund von Infektionskrankheiten zwischen 1900 und 1936 in den USA
Lesebeispiel: Der Anteil der Todesfälle, die auf Typhus zurückzuführen sind, hat sich zwischen 1900 und 1936 um 96 Prozent verringert. Quelle: Cutler & Miller (2004).
Ähnlich war es in anderen Ländern. Die Ökonomen David Cutler und Grant Miller, die diese Zahlen 2004 aufgearbeitet haben, betonen in ihrer Arbeit ausdrücklich, wie sehr sich solche öffentlichen Investitionen für eine Gesellschaft auch finanziell lohnen: Sie rechnen vor, dass es nur rund 500 Dollar gekostet habe, auf diese Weise ein Menschenleben zu retten.
Mit anderen Worten: Oft ist wirksame Politik gar nicht so teuer. Aber es braucht einen klaren Plan und die Entschlossenheit, ihn umzusetzen.