Aufstand mit Ankündigung: Trump-Anhänger haben das Kapitol in Washington gestürmt. Roberto Schmidt/AFP/Getty Images

Der Putsch des Präsidenten

War es das? Endlich? Das Ende? Von Trump?

Von Constantin Seibt, 07.01.2021

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«Wir werden das nicht schlucken – und darum geht es hier», sagte der Präsident, der in Mantel und Hand­schuhen auf der Bühne hinter kugelsicherem Glas stand. «Wenn ihr nicht wie der Teufel kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben.»

Dann rief er seine Anhängerinnen dazu auf, zum Kapitol zu marschieren. Um die Abgeordneten aufzufordern, das Richtige zu tun – und die betrügerischen Stimmen rauszuwerfen. «Ich werde dort mit euch sein!», versprach er. Und ergänzte: «Aber ihr werdet euer Land nie mit Schwäche zurückerobern – also zeigt Stärke und seid stark!»

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Sie taten es. Gegen zwei Uhr nachmittags wurde die überraschend harmlose Polizei überrannt, und die Menge ergoss sich ins Kapitol mit den Rufen «USA! USA!», «Verräter!», «Stoppt den Diebstahl!», «Wir wollen unser Land zurück!».

Sie stürmte auf der Senatsseite die Treppen hoch: fast ausschliesslich weisse Männer und ein paar weisse Frauen mit MAKE-AMERICA-GREAT-AGAIN-Kappen und teils in fantastischen Kostümen: Superhelden, Fantasy­uniformen, Helme mit Hörnern, mit Trump-Flaggen oder mit beschrifteten T-Shirts – ein greiser Herr etwa mit «Camp Auschwitz».

Dort eroberten sie den Senat, aber auch die Bürotrakte. Ein kleiner Mob besetzte das hastig verlassene Büro der demokratischen Sprecherin des Repräsentanten­hauses Nancy Pelosi und verwüstete es. Mit dabei war auch ein Investigativjournalist einer rechten Internetseite, der amüsiert feststellte, dass die E-Mails noch offen waren. Auf dem Bildschirm ist die Warnung zu sehen, dass Eindringlinge im Parlament seien.

Einige berichteten von beinahe spirituellen Erfahrungen. Der 25-jährige Rick Crosby wurde von einem Mann mit Megafon in eine kleine Privat­kapelle gerufen, wo die Eindringlinge die Bibel des Vizepräsidenten Mike Pence entdeckten. Sie beschlossen, sich mit ihr fotografieren zu lassen. «Es fühlte sich sehr historisch an», sagte Crosby später. «Egal, wie die Sache ausgeht, das war ein Augenblick, der in den Geschichts­büchern landen wird.»

Gefragt, ob er nicht ein schlechtes Gewissen habe, das Parlament gestürmt zu haben, sagte Crosby: Nein, die Sache gehe in Ordnung. Man habe nur getan, was der Präsident verlangt habe, als er im Wahl­kampf zu den rechtsradikalen Proud Boys gesagt habe: «Haltet euch zurück, aber haltet euch bereit!»

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Die Abgeordneten sahen es weniger entspannt.

Einige verschanzten sich in ihren Büros. Im Repräsentanten­haus blockierten die Abgeordneten die Tür mit einem klaviergrossen Möbel, dahinter standen Sicherheits­leute mit gezogener Pistole, während die Parlamentarierinnen auf die Besucher­empore flüchteten. Ein paarmal wurde – unklar, von wem – geschossen. Eine Frau mit Trump-Schärpe wurde getroffen – sie starb ein paar Stunden später im Spital. Mehrere Polizisten wurden verletzt. Andere waren erstaunlich galant. Im Senat posierten Leute in Hoodie und Kampfuniform und ein in Fellen gekleideter Teufel im Sessel des Vizepräsidenten. Andere organisierten sich Souvenirs: Namens­schilder, Aktenstapel und das Rednerpult.

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Dabei ging es eigentlich nur um eine Zeremonie: Der Kongress zählt (die schon Mitte Dezember abgegebenen) Stimmen der Wahlleute. Und bestimmt offiziell den neuen Präsidenten. 306 für Biden. 232 für Trump.

Doch je näher der Termin rückte, desto mehr wurde aus der Zeremonie ein Loyalitätstest: Wer in der Republikanischen Partei steht für, wer gegen Trump? Wer würde es wagen, die Stimmen aus sechs Biden-Staaten als betrügerisch zurückzuweisen?

Die Frage war umso absurder, weil der Kongress eigentlich gar nichts zu sagen hatte: Die Wählerinnen hatten abgestimmt, die Stimmen­zähler gezählt, die Gerichte alle Einwände abgelehnt, die 50 Einzelstaaten hatten die Wahl besiegelt, die Wahlleute getagt.

Das Trump-Lager hatte wegen flächen­deckenden Betrugs geklagt. Und ist 60-mal vor Gerichten abgeblitzt. Und hatte es nicht geschafft, auch nur einen Beweis zu finden.

Und trotzdem hatte Trump es fertiggebracht, den 6. Januar zum Krimi zu machen: Mit der Behauptung, dass der Kongress die Sache noch drehen könnte. (Was schon deshalb unmöglich war, weil dazu auch Stimmen der Demokraten nötig gewesen wären.)

In den Tagen vor der Wahl elektrisierte die Trump-Anhänger plötzlich eine andere Neuigkeit: die nirgends in der Verfassung aufgeschriebene These, dass Vizepräsident Pence im Alleingang die Stimmen jedes beliebigen Bundesstaats für ungültig erklären könnte – das heisst also: den nächsten Präsidenten bestimmen könnte.

«Der Vizepräsident hat das Recht, betrügerisch bestimmte Wahlleute zu entfernen», twitterte Trump, obwohl sein Vize ihm das Gegenteil erklärt hatte. Und: «Wenn Mike Pence zu uns hält, gewinnen wir die Präsidentschaft!»

Der Abgeordnete Louie Gohmert, ein Ex-Richter, strengte den 61. Prozess gegen die Wahl an, paradoxerweise gegen Pence, um dem Vizepräsidenten diese Macht zu verschaffen.

Als Pences Anwälte Einspruch erhoben, twitterte der Trump-Anwalt Lin Wood, Vizepräsident Pence werde in naher Zukunft «wegen Verrats vor dem Erschiessungs­kommando stehen». (Unterdessen hat ihn Twitter gesperrt.)

Und als der republikanische Richter auf die Klage nicht einging, bemerkte Gohmert: «Unter dem Strich sagt das Gericht: ‹Ihr habt keine Chance.› Was zusammen­gefasst heisst, dass ihr auf die Strasse gehen und dort so gewalttätig sein müsst wie die Antifa oder Black Lives Matter.»

Wenn der Mob mit dem Schutzschild eines Polizisten posiert. Jim Lo Scalzo/EPA/Keystone

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Weiss der Teufel, warum – die prominentesten Verfechter der Wir-können-die-Wahl-noch-kippen-Strategie waren alles Juristen, die eigentlich die Verfassung kennen müssten: Neben 140 Haus-Abgeordneten waren das vor allem die Senatoren Josh Hawley und Ted Cruz, die beide in Universitäten wie Harvard und Yale studiert und ein Praktikum beim Obersten Gerichtshof absolviert hatten.

Sie sammelten ein Team von 14 Senatoren, um Einspruch zu erheben. Während Präsident Trump für den Druck sorgte: Auch Republikanerinnen, die ihm gegenüber vier Jahre lang loyal waren, wurden öffentlich als Abtrünnige bezeichnet, sobald sie nicht das Wahlergebnis kippen wollten.

Der prominenteste darunter war Vizepräsident Pence, der vier Jahre lang Trump mit Kompliment­kaskaden gehuldigt hatte. Etwa: «Ich fühle mich tief geehrt, als Ihr Vizepräsident dabei sein zu dürfen.»

Kein Wunder, war die grosse Frage: Wie würde sich Pence im Dilemma zwischen Trumps Forderung und der rein repräsentativen Rolle verhalten?

Das wurde schnell klar: Pence sagte gleich zu Anfang der Zeremonie, dass er «die Verfassung liebe» und dass er persönlich keine Resultate ändern könne, wolle und werde.

Danach hielt der kühle Mehrheits­führer im Senat, Mitch McConnell, eine verblüffend leidenschaftliche Rede: «Wenn diese Wahl durch völlig haltlose Anschuldigungen der Verlierer gekippt würde, wäre das der Tod unserer Demokratie. Nie wieder könnte das ganze Land das Ergebnis einer Wahl akzeptieren.» Ausserdem habe man schlicht keine Beweise für einen Betrug gefunden. «Wir würden diese Republik für immer ruinieren.»

Beides war ein klarer Bruch mit Trump. Damit war die Sache gelaufen. Umso mehr, als der Hauptredner des Einspruchs, Ted Cruz, eine betont schleimige Rede hielt, in der er keinen Beweis für Betrug lieferte. Sein einziges Argument für die Zurück­weisung der Wahlresultate war, dass laut Umfragen 39 Prozent der Amerikanerinnen glaubten, dass die Wahl nicht fair gelaufen sei. Und dass man diesen Leuten doch entgegen­kommen müsse.

Was erstens auf die tägliche Propaganda von Trump, Cruz und Co. zurück­zuführen war. Und zweitens noch einen Widerspruch in sich enthielt, weil Cruz ausgerechnet eine Umfrage als Hauptzeugin für die Plausibilität einer Schiebung aufführte – wobei gerade Umfragen die Plausibilität des Ergebnisses bestätigten: In allen hatte Biden vorn gelegen.

Der grosse Showdown glich einem geplatzten Ballon. Dann stürmten Trumps Zuhörer das Kapitol.

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Eigentlich war das keine Überraschung.

Erstens, weil es die logische Konsequenz von Trumps Präsidentschaft war: von vier Jahren Spaltung. Zweitens hatte einer der Redner auf Trumps Bühne unweit des Kapitols, Trumps Anwalt Rudy Giuliani, schon gleich zu Anfang der Veranstaltung gesagt, heute gehe es darum, einen «Prozess durch Kampf zu machen». Drittens hatten die Demonstrantinnen über Social Media seit Tagen über Schwächen im Polizei­dispositiv und die Stürmung des Kapitols geredet.

Und nicht zuletzt passte ein wütender Mob vollkommen harmonisch zu Trumps Strategie. Zum Plan, die Republikanische Partei mithilfe der republikanischen Basis auch nach der Abwahl unter Kontrolle zu halten. Und der Strategie seiner Familie.

Das hatten Trumps Söhne am Morgen glasklar gemacht. Donald Trump Jr. sagte: «Die Republikanische Partei hat nichts getan!» Und fuhr fort: «Damit zu den Republikanern, die bald abstimmen. Ihr habt heute eine Chance: hero oder zero. Es ist eure Wahl. Aber wir beobachten euch. Und ihr kämpft besser für Trump! Wollt ihr wissen, warum? Wenn nicht, werde ich in einem halben Jahr in eurem Vorgarten stehen!»

Und er endete: «Das ist nicht mehr die alte Republikanische Partei, sondern das ist jetzt Donald Trumps Partei!»

Sein Bruder Eric sagte es poetischer: «Mein Vater hat eine Bewegung geschaffen, die nie, niemals enden wird.» Und: «Die Bewegung transzendiert Donald Trump, und Donald Trump transzendiert uns!» Und tweetete später: «Ich werde persönlich dafür sorgen, dass jeder einzelne Kongress­abgeordnete/Senator die nächste Wahl verliert, wenn er sich nicht gegen diesen Betrug wehrt!»

Wonach seine Frau Lara Trump erklärte: «Unsere Familie ist nicht einfach nur für vier Jahre in den Kampf gezogen – wir kämpfen bis zum bitteren Ende!»

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So gesehen war der Sturm aufs Kapitol wirklich nicht überraschend.

Trotzdem schienen mehrere Reporter und Experten nahe der Fassungslosigkeit. Der Journalist Ezra Klein twitterte: «Die Profis in Washington haben Donald Trumps Aussagen immer metaphorisch genommen, die Leute aber nehmen ihn wörtlich.» Der rechte Polit­experte Rick Santorum sagte im Fernsehsender CNN: «Ich glaube nicht, dass Präsident Trump das gewollt hat.» Und der CNN-Live-Reporter fragte sich mehrmals irritiert: «Wann endlich sagt der Präsident etwas?»

Man hört die Frage so oder ähnlich am Anfang jedes Putsches. Und dann später bei jeder politischen Brutalität. Selbst wenn diese öffentlich angekündigt wird.

Die zivile Vorstellungskraft setzt dann aus. Sogar im Dritten Reich sagten die Leute noch mitten im Krieg: «Wenn das der Führer wüsste!»

Nun, der Präsident meldete sich erst nach ein paar Stunden. Und twitterte zur Beendigung des Parlaments­sturms Folgendes: «So läuft es halt, wenn ein geheiligter Erdrutsch­wahlsieg willkürlich und brutal den grossartigen Patrioten entrissen wird, die so übel und unfair behandelt wurden. Geht heim in Liebe und Frieden! Und erinnert euch ewig an diesen Tag!»

Ausserdem ein kurzes Video des Präsidenten, aufgenommen im Garten des Weissen Hauses: «Ich verstehe euren Schmerz. Wir hatten eine Wahl. Sie wurde uns gestohlen. Es war ein grosser Sieg – jeder weiss es. Vor allem unsere Gegner. Aber ihr müsst jetzt heimgehen. Wir brauchen Frieden. Recht und Ordnung. Wir haben grossen Respekt vor Recht und Ordnung. Es war eine harte Zeit. Nie zuvor hat man uns so bestohlen – mich, euch, das ganze Land. Es war Betrug – aber wir dürfen nicht in die Hände der Betrüger spielen. Also seid friedlich. Geht heim. Wir lieben euch. Ihr seid besondere Leute. Ihr versteht, was passiert. Ihr versteht, was anderen angetan wird. Ich weiss, wie ihr euch fühlt. Aber geht heim in Frieden.»

Später wurde klar, warum es vier Stunden dauerte, bis das Parlament geräumt wurde. Trump sass, fast unansprechbar, vor dem Fernseher. Und weigerte sich lange, die National­garde zu rufen. Und war danach nicht mehr erreichbar.

Die Entscheidungen zur Räumung des Kapitols liefen so über seine Minister und seinen Vize Mike Pence.

Demokratie unter Beschuss: Kongressabgeordnete suchen Schutz. Andrew Harnik/AP Photo/Keystone

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Wie hat es Trump geschafft, Millionen von Amerikanern und fast alle hartgesottenen konservativen Politikerinnen mit einem Wahlsieg ohne Grundlage lahmzulegen?

Die Historikerin Anne Applebaum schrieb Anfang Jahr, dass lange unklar war, was zum Teufel Trumpismus eigentlich genau bedeute. Anti-Immigration? Protektionismus? Bringt unsere Truppen heim? White Supremacy? Steuergeschenke? Sie kam zum Schluss, dass die einzelnen politischen Massnahmen kaum eine Rolle spielen. Auch nicht, wenn sie seinen Anhängern schaden.

Und das sogar unter den Profipolitikern, die bei Trump auf sehr wenig Konkretes zählen können. Nicht nur nicht auf Konsequenz. Sondern auf fast gar nichts. Denn Loyalität ist bei Trump eine Einbahnstrasse – er wirft auch treueste Speichel­lecker ohne Zögern unter den Bus.

Applebaum meint, dass die Attraktivität Trumps auf etwas Psychologischem beruht: Trump verschafft seinen Leuten die Gewissheit, in einem schlackenlosen, ewigen Reich des Sieges zu leben. Völlig egal, ob die Wirtschaft zusammen­bricht, die Corona-Seuche über 350’000 Menschen­leben kostet, die Wahl verloren wird – Trump hat seinen Job genial gemacht.

Trump verkauft das Gefühl, auf der sicheren Seite der Gewinnerinnen zu stehen – mal materiell, mal moralisch, weil man betrogen wurde.

Wo Trump nie log: Er ist tatsächlich das genaue Gegenteil eines Politikers. Oder vielleicht – so wie etwa Boris Johnson – ein sehr neuer Typ: Es geht nie um die Sache, sondern nur um das Als-ob. Also um das Foto, die Presse­konferenz, die Schlagzeile, die Behauptung. Typisch ist der Fall, der zu seinem Impeachment führte. Trump forderte, als er den ukrainischen Präsidenten erpresste, nicht, dass dieser eine Untersuchung gegen Joe und Hunter Biden einleiten solle. Sondern dass er eine solche Untersuchung ankündige – in einer möglichst spektakulären Pressekonferenz.

Die Fakten sind in Trumps Welt der wahre Feind – und ihre Leugnung der eigentliche Inhalt seiner Politik. Und die Ursache seines Charismas: seiner Ungebundenheit, seiner Unfassbarkeit, seiner Schamlosigkeit – die Quelle seiner Siege.

Applebaums These ist deshalb: Selbst wenn Trump im Altersheim, im Exil, im Gefängnis verschwinden sollte – die Republikanische Partei ist siegessüchtig geworden. Sein Nachfolger braucht keine politischen Ideen, schon gar kein Programm – er muss die Illusion der täglichen Gewinne fortsetzen können.

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Sieht man jedoch auf die Fakten, lieferte Trump nicht Siege. Sondern das Gegenteil.

Während der republikanische Senats-Mehrheitsführer Mitch McConnell vor Anhängern seines Präsidenten flüchtete, bestätigten die Fernseh­sender den Sieg des Demokraten Jon Ossoff gegen den Republikaner David Perdue in den Nachwahlen zum Senat in Georgia.

Damit kippt der Senat – und McConnell ist nur noch Minderheiten­führer. Und Trump wird zum ersten Präsidenten seit Herbert Hoover 1932, der in seiner Amtszeit alles verlor: die Mehrheit im Repräsentanten­haus, im Senat und die Wieder­wahl zum Präsident.

Sieht man, wer Trump besiegte, waren es zwei klassische No-Bullshit-Politiker. Stacey Abrams, eine eiserne Aktivistin, die zäh und ohne Ablenkung über zehn Jahre eine Wählerregistrations-Maschine in Georgia aufbaute – und schaffte, was niemand für möglich hielt: den stockkonservativen Südstaat 2020 gleich dreimal zu drehen.

Der andere, Joe Biden, ist seit fünfzig Jahren ein Profi, ein Mann des Kompromisses, des Deals, der Paragrafen, der Beziehungen – ein charmanter, wandelbarer, knallharter Handwerker.

Und ein Mann, der mehr Instinkt hat, als man ihm zutraut: Bei der Kandidatur traten ein Dutzend weit frischere Kandidatinnen an, zum Teil mit blendenden Ideen. Niemand von ihnen redete viel über Trump – man hielt das für die falsche Strategie. Biden war der einzige Kandidat, der den Verfall der Demokratie ins Zentrum seines Wahlkampfs stellte. Und den «Kampf um die Seele Amerikas» aufnahm.

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Diesen Instinkt bewies er auch, als das Kapitol überrannt wurde. Das war nicht ganz leicht: Denn das Biden-Team hatte eigentlich den Plan gefasst, bei den Wahlstreitigkeiten gelassen im Hinter­grund zu bleiben. Weil das Ergebnis auch so feststand.

Biden machte etwas ziemlich Kluges: Er sprach über den Gründungsmythos Amerikas. Über Anstand, Fairness, die Verfassung. Und «den beispiellosen Anschlag auf die Zitadelle der Demokratie, das Kapitol.» Seine Einschätzung zur Lage war glasklar: «Das ist nicht Protest, das ist ein Mob. Das ist Chaos. Es grenzt an Umsturz. Und es muss jetzt beendet werden.»

Und er ergänzte: «Das sind nur wenige Extremisten. Das ist nicht Amerika. Wir sind weit besser.»

Und zu seinem Vorgänger sagte er: «Die Worte eines Präsidenten zählen. Sie können im besten Fall inspirieren, im schlimmsten niederreissen.» Trump solle seinem Amtseid folgen, endlich im Fernsehen erscheinen und diesen Wahnsinn beenden.

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Das Ergebnis des Putsches vom 6. Januar ist, wenn nicht alles täuscht: ein enormer Gewinn an Legitimität für Joe Biden. Und eine brutale Niederlage für Donald Trump.

In der Republikanischen Partei wurde Präsident Trump so hart angegriffen wie seit seiner Amtsübernahme nicht mehr. Als sie vor dem Mob flüchteten, sagte der Senator Mitt Romney zu seinen Partei­freunden: «Das ist, was ihr gerufen habt, Kollegen.» Und veröffentlichte ein Statement: «Was heute passierte, war ein Aufstand, angezettelt vom Präsident der Vereinigten Staaten.» Die Abgeordnete Liz Cheney sagte: «Der Präsident versammelte den Mob. Der Präsident heizte den Mob an. Der Präsident schickte den Mob los. Er entzündete das Feuer.»

Zwar waren Cheney und Romney auch schon vorher Trump-Gegner: Aber nun haben sie Munition. Und das Lager der Trump-Fanatiker halbierte sich am Abend nach dem Aufstand fast: Statt 14 stimmten nur 7 Senatorinnen, statt 140 nur rund 100 Haus-Abgeordnete gegen Bidens Wahl.

Die nun nicht mehr so freihändig anzweifelbar ist – Zweiflerinnen müssen sich plötzlich für alles Mögliche rechtfertigen: für Leute mit Hitlergruss bis zu dem Kerl, der mit Konföderiertenflagge in den Gängen herumspazierte – der allerersten mitten im Kapitol.

Das hatte Wirkung. Der stramm rechte ehemalige Bürochef von Ted Cruz, heute selbst Abgeordneter, zog seine Unterschrift unter dem Betrugsvorwurf-Einspruch zurück mit den Worten: «Vielleicht begehe ich damit gerade politischen Selbstmord. Aber sei’s drum.»

Demokraten forderten den Rauswurf der Rädels­führer Cruz und Hawley – die ihre ungerührte Coolness für eine zukünftige Präsidentschafts­kandidatur demonstrieren wollten. Und nun kaum mehr eine Chance haben werden. Cruz wegen seiner Rede, Hawley, weil von ihm ein Foto mit empor­gereckter Kampffaust in Richtung des späteren Mobs existiert.

Mehrere demokratische Abgeordnete bereiten für morgen ein zweites Impeachment Trumps vor. Diesmal in der Schnellvariante: am Morgen im Repräsentantenhaus, am Nachmittag im Senat.

Ihre Kolleginnen im Justiz­ausschuss schrieben Vizepräsident Mike Pence einen Brief, in dem sie die Absetzung Trumps nach Artikel 25 fordern – der Artikel für den Fall, dass der Präsident wegen Unfalls oder Geisteskrankheit amtsunfähig ist. Absetzbar ist er dann von der Mehrheit im eigenen Kabinett. Was sich – wie es hiess – einige Minister nun überlegen. Passiert das, wäre die restlichen zwei Wochen plötzlich Mike Pence Präsident.

Mehrere hochrangige Mitarbeiter der Regierung – darunter die Stabschefin von Melania Trump – kündigten per sofort. Republikanische Geldgeber äusserten sich entsetzt.

Kurz vor vier Uhr morgens bestätigte der vereinigte Kongress offiziell, dass der 46. Präsident Joseph Robinette Biden heissen wird.

Trump liess verschreckt Minuten später einen Tweet veröffentlichen: «Selbst wenn ich über das Ergebnis der Wahl völlig anderer Meinung bin – und die Fakten mich bestätigen –, wird trotzdem eine ordnungs­gemässe Übergabe der Macht stattfinden.»

Der Präsident musste dazu einen fremden Twitter-Account nutzen – weil ihm Twitter am Abend zuvor eine Zwangspause für 12 Stunden verordnet hatte: wegen der «Anstiftung zu Gewalt». Verbunden mit der Drohung, seinen Account im Wiederholungs­fall lebenslänglich zu eliminieren. Am Donnerstag kündigte dann Facebook an, Trump auf unbestimmte Zeit und «für mindestens die nächsten zwei Wochen» zu blockieren.

«Wir werden nicht zurückweichen»: Unmissverständliche Botschaft im Büro von Nancy Pelosi, Demokratin und Sprecherin des Repräsentantenhauses. Saul Loeb/AFP/Getty Images

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War es das? Endlich? Das Ende? Von Trump?

Zumindest einiges deutet darauf hin. Trump ist klar der Verlierer – in Georgia bei der Senatswahl. Und jetzt im Kapitol. Seine Feinde sind gestärkt. Und alle Ehrgeizigen, die zu nah an seiner Seite waren, haben einen ernsthaften Karriereschaden.

Dazu droht ihm die Ächtung: Nicht nur in der Partei, auch bei den Ex-Präsidenten, die alle klare Worte fanden, auch bei Geschäfts­leuten, Fernsehsendern – und, noch verheerender: bei den Social-Media-Diensten.

Andererseits: Sah man Fox News, wurden die Eindringlinge ins Kapitol sogar gelobt: Sie seien zwar eingebrochen, aber seien sonst nicht so gewalttätig wie die Antifa oder die Aktivisten von Black Lives Matter. Und auch nach dem Sturm auf das Kapitol beharrten über 100 Abgeordnete auf der Wahrheit von Trumps Klage über Wahlbetrug. Und selbst die Frage, wer für das Desaster verantwortlich ist, bleibt umstritten. Der republikanische Abgeordnete Matt Gaetz etwa sagte: Mit etwas Abstand werde man sehen, dass die Trump-Anhänger von getarnten Antifa-Aktivistinnen angestiftet worden seien. Was natürlich nichts entschuldige.

Auch bei den nun gegen Trump Klartext sprechenden Republikanern ist es alles andere als sicher, ob sie nun anders denken. Oder nur wie zuvor: opportunistisch. Was haben sie in den letzten vier Jahren gemacht?

Die Polizei, in den USA gefürchtet, zeigte sich bei der Verwüstung des Parlaments erstaunlich milde: Es gab keine 100 Verhaftungen. (Ein schwarzer Twitterer schrieb zu einem Foto eines Eindringlings auf dem Senats-Präsidentensessel: «So weit zu kommen und immer noch am Leben zu sein – das ist der Inbegriff von weissem Privileg.»)

In einer Umfrage noch in der Nacht befanden 45 Prozent der Republikaner die Stürmung des Kapitols für gerechtfertigt.

Das wirkliche Problem ist, dass das bedeutendste Ziel von Donald Trump mit dem Putsch so gut wie erreicht ist: Trotz des Sieges der Gegenseite ist die amerikanische Demokratie zum Teufel gegangen. Denn die Republikanische Partei ist auf unabsehbare Zeit für jemanden von Verstand völlig unwählbar geworden. Ausser man will das Ende der Demokratie riskieren.

Das heisst: Für demokratische Köpfe gibt es als einzige Alternative nur noch das, was sich auch die Autoritären vorstellen – eine Einparteienregierung.

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