Macht oder Ohnmacht, das ist hier die Frage

Trump-Drama, fünfter Akt: Heute entscheiden sich im US-Südstaat Georgia zwei Dinge. Erstens: ob Joe Biden richtig regieren kann. Und zweitens: die Zukunft der Republikaner.

Von Constantin Seibt, 05.01.2021

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Die Frau, die Georgia drehte: Stacey Abrams. Ethan James Green / Trunk Archive

Georgia
Georgia
The whole day through
Just an old sweet song
Keeps Georgia on my mind

Vergiss es. Nicht ein altes Lied hält am heutigen Tag Georgia im Kopf. Sondern ein politischer Kampf. Gut möglich, dass sich diese Nacht die Zukunft Amerikas entscheidet.

Die grosse Frage ist: Wer gewinnt die Nachwahl für den Senat? Um wie viel es geht, sieht man an folgender Geschichte:

Über Nacht, für Feind und Freund überraschend, verlangte der amerikanische Präsident Donald Trump statt 600 Dollar Covid-Hilfe für Amerikaner mit kleinem Budget plötzlich 2000 Dollar. Die Demokraten waren sofort an Bord, die Republikaner gespalten.

Im Repräsentanten­haus ging die Abstimmung schnell durch, auch im Senat zeichnete sich eine Mehrheit dafür ab. Trotzdem passierte: nichts.

Der Mehrheitsführer des Senats, Mitch McConnell, weigerte sich, die Abstimmung anzusetzen. Stattdessen machte er sich daran, die Zahlung zu vergiften. Indem er den Plan äusserte, den 2000-Dollar-Scheck zu einem Paket mit zwei anderen Vorlagen zu verknüpfen: mit einem Vorschlag Trumps, die rechtliche Haftung für Facebook und Twitter massiv zu erhöhen. Plus: der Gründung einer Betrugs-Untersuchungs­kommission zur Präsidenten­wahl 2020.

Was heisst: Quasi alle sind dafür – die grosse Mehrheit der Amerikanerinnen, beide Kammern des Parlaments, beide Präsidenten (der amtierende und der künftige) – aber trotzdem können sie alle die 2000 Dollar vergessen.

Und man wird auch in Zukunft vieles vergessen können. Mitch McConnell fuhr in seiner langen Karriere einen fadengeraden Kurs: Keinen. Einzigen. Kompromiss. Als Obama 2008 Präsident wurde, gab es für McConnell nur ein Ziel: ihn zu einem gescheiterten Präsidenten zu machen. Die Senats­fraktion der Republikaner lehnte schlicht jede von Obamas Vorlagen ab, egal, ob populär oder nicht, ob gut oder schlecht.

Und dazu demokratische Richter. Einer der stolzesten Augenblicke seiner Karriere, so McConnell, sei der Moment gewesen, wo er Barack Obama in die Augen geblickt und ihm gesagt habe: «Nein, Mister President, Sie werden die Lücke im Obersten Gericht nicht füllen.»

Kurz: Behalten die Republikaner die Mehrheit im Senat, wird der neue Präsident Biden von der ersten Minute an mit totaler Sabotage rechnen müssen. Seinen Geldgebern versprach McConnell bereits 2019 für den Fall eines demokratischen Siegs: «Solange ich weiterhin Mehrheits­führer bin, seht mich als Schnitter Tod. Nichts von dem Zeug der Gegen­seite wird durchkommen. Nichts.»

Was bedeutet: Wirtschafts­ankurbelungen, Infrastruktur­ausbau, Arbeitslosen­gelder, Umwelt­technologie, Mindest­löhne, Reichen­steuer, Streichung der Studien­schulden – alle auch nur halb ehrgeizigen Pläne: Biden kann sie vergessen.

Das kann im Grunde genommen nur jemand verhindern: heute Nacht die Wähler von Georgia in der Senats-Nachwahl.

Denn bis jetzt steht es im Senat 50:48 für die Republikaner. Die Demokraten müssen beide Sitze gewinnen – in einem Staat, wo der letzte demokratische Senator vor 20 Jahren gewählt wurde.

Unter normalen Umständen hätte McConnell beste Chancen, in den nächsten Jahren der zwar meistgehasste, aber zweit­mächtigste Mann in Washington zu sein.

Doch gibt es eine Frau und einen Mann, die ihm die Rechnung vermasseln können: Sie heisst Stacey Abrams. Und er heisst Donald J. Trump.

Das blaue Wunder

Am Abend des 3. November, kurz nach Schliessung der Wahlbüros, brach ein Wasserrohr mitten in Atlanta. Das – und die bürokratische Infrastruktur – sorgte für ein mehrtägiges Drama.

Noch am Wahlabend schien die Sache klar: Zuerst wurden die am Wahltag abgegebenen Stimmen gezählt, dann die der kleineren, ländlichen Bezirke. Der Vorsprung Trumps war zeitweise erdrückend.

In den nächsten vier Tagen, als die Brief­stimmen und der Grossraum Atlanta ausgezählt wurden, schmolz der Vorsprung von Stunde zu Stunde. Am Freitagmorgen übernahm Joe Biden mit ein paar tausend Stimmen die Führung.

Trump sprach von Betrug; die beiden republikanischen Senatoren verlangten ohne weitere Begründung den Rücktritt des Innen­ministers und Wahl­leiters Brad Raffensperger. Das Ergebnis wurde zwei Mal nachgezählt – einmal von Hand, einmal per Computer. Doch das Resultat blieb: Biden hatte den Staat gewonnen – mit einem Vorsprung von 11’779 bei rund 5 Millionen abgegebenen Stimmen.

Trump verlangte Sonder­sitzungen des Parlaments, den Ausschluss mehrerer demokratischer Wahl­bezirke und den Rücktritt des republikanischen Gouverneurs Brian Kemp.

Wie verzweifelt es der Präsident noch immer versucht, zeigte sich an einem Telefonmitschnitt zwischen Trump und Raffensperger vom 2. Januar, den jemand der «Washington Post» zugespielt hatte. Trump sagte mehrmals: «Es ist unmöglich, dass ich Georgia verloren habe!», er drohte mit «rechtlichen Konsequenzen» und dem Nicht­erscheinen der republikanischen Wähler an der Urne und verlangte, dass Raffensperger das Ergebnis ändere mit der Begründung, dass er sich verkalkuliert habe: «Also. Im Grunde will ich von Ihnen nur eine Sache: Sie müssen nur 11’780 Stimmen finden.»

Das Gespräch dauerte eine Stunde und war ein fast ununterbrochener Monolog – ein wilder Zahlen­salat, garniert mit Schmeicheleien, Beleidigungen und Herum­geschubse. Unterbrochen nur durch trockene Korrekturen von Raffensperger. Etwa wie folgt:

Trump: «… über 5000 Tote haben gewählt!»
Raffensperger: «Die wirkliche Zahl ist zwei. Zwei. Zwei Tote haben gewählt.»

Doch so unterschiedlich die Positionen von Trump, Raffensperger und Demokraten sind, in einem waren sich von Anfang an alle einig: Dass es so weit kam, war das Werk einer einzigen Frau: Stacey Abrams.

Donald Trump sagte das so: «Stacey Abrams lacht über Sie! Sie läuft herum und sagt: Die Typen sind dümmer als ein Stein … Was sie unserer Partei angetan hat, ist unglaublich!»

Ehrgeiz

Stacey Abrams wurde als zweite Tochter einer maus­armen Prediger­familie geboren. Sie war ziemlich begabt – und wurde in ein College für schwarze Mädchen geschickt, das von Missionaren gegründet worden war mit dem Ziel, die Fesseln der Sklaverei zu brechen.

Ambitionen waren dort erwünscht. Und Stacey Abrams verwandelte sich in eine Künstlerin des Ehrgeizes. Die sich, wie sie in ihrem Buch «Minority Leader» beschreibt, immer wieder fragte, ob sie ihre Ziele auch hoch genug gesteckt hatte.

Den Plan ihres Lebens machte sie mit achtzehn. Ihr Freund hatte sie verlassen mit der Bemerkung, sie interessiere sich nur für das Lernen und sei unfähig in der Liebe. Sie machte eine Excel-Liste mit den Zielen

  • mit 24 Bestseller­autorin von Thrillern;

  • mit 30 Millionärin und Firmen­chefin (Branche noch unklar);

  • mit 35 Bürger­meisterin von Atlanta.

Die Politik lernte sie 1992 kennen, nachdem in Los Angeles der schwarze Autofahrer Rodney King von vier Polizisten verprügelt worden war. Als die freigesprochen wurden, brachen überall im Land Aufstände los.

Gerade die cleversten schwarzen Schüler waren anfangs desinteressiert – die Randale war Sache der Jugendlichen aus den Sozial­siedlungen. Sie selber hatten anderes im Kopf. Dann allerdings verprügelte die Polizei auch College-Schüler. Das in Atlanta, der einzigen Stadt des Südens mit einer schwarzen Regierung und schwarzem Bürgermeister.

Die brillante Schülerin Stacey Abrams war wütend, rief die Fernseh­stationen an. Ein Sender lud sie zu einer Talkshow, wo sie den Bürger­meister angriff. Dieser antwortete stinksauer – und stellte sie ein Jahr später als Praktikantin ein. Sie lernte, wie die politische Verwaltung läuft.

Währenddessen schrieb sie – ein Fan von James Bond – unter dem Pseudonym Selena Montgomery den ersten ihrer Thriller: Weil man ihr sagte, dass Action­bücher von einer Frau nicht verkäuflich seien, wurden es Liebes-Action-Romane. Ihre Helden und Heldinnen – Diebe, Ärzte, Sheriffs, Anwältinnen, Abenteurerinnen, Ermittlerinnen – waren alle schwarz – und so smart und sexy wie die Hölle.

Ihr Ex-Freund bekam eine prominente Neben­rolle in ihrem ersten Roman: als der Kerl, der am Ende im Gefängnis landet.

Sie studierte Jura in Yale und spezialisierte sich auf Steuer­recht. Sie wurde Partnerin in einer Kanzlei und gründete zwei Firmen. Dazu kandidierte sie für das Repräsentanten­haus in Georgia. 2010 wurde sie als erste schwarze Frau Minderheitsführerin der Demokraten. Geschätzt für ihren Pragmatismus, ihre partei­übergreifende Arbeit und ihre fotografische Aktenkenntnis.

Berühmt wurde sie 2018 mit dem Duell um das Gouverneursamt in Georgia. (Sie hatte eingesehen, dass Bürger­meisterin ein zu kleines Ziel war.) Abrams war die erste schwarze Frau, die sich in den USA darum bewarb. Und das auch im Süden. Man gab ihr keine Chance.

Nicht zuletzt, weil ihr Gegner Brian Kemp war – ein Karriere­politiker, der wie mit einer Kartoffel im Mund sprach und sich mit Gewehr, Kettensäge und Pick-up bewarb («um illegale Immigranten zu deportieren»). Sein Slogan: «Wenn Sie einen unkorrekten Konservativen wollen, bin ich das.»

Und auch, weil Brian Kemp damals Innen­minister (und damit Wahl­leiter) war – gleichzeitig Bewerber und Schieds­richter. Als solcher strich er vor der Wahl 700’000 mögliche Wähler von der Liste, schloss Dutzende Wahl­büros (vor allem in armen Gegenden) und führte strenge bürokratische Hürden «gegen Betrug» ein: etwa, dass die Schreib­weise eines Namens bis auf jeden Buchstaben oder Apostroph auf allen Formularen überein­stimmen musste. (Der Trick dabei: Bei traditionellen Namen passiert dieser Fehler weit seltener als bei Namen aus einer anderen Sprache.)

Kurz, Trump hatte später nicht ganz unrecht, von Raffensperger und Kemp enttäuscht zu sein: Georgia galt bis 2020 als die erste Adresse für Tricks in der Wählerbehinderung.

Nur hatte Stacey Abrams genau das gleiche Thema: Sie arbeitete seit Beginn ihrer Karriere daran, Wählerinnen zu registrieren, die sonst nicht wählten: Schwarze, Junge, Arme. Sie hatte das New Georgia Project gegründet, das ab 2014 systematisch farbige Wähler registrierte. Mit der Begründung: «Entweder sitzt du am Tisch, oder du bist Teil der Mahlzeit.»

Der Wahlkampf drehte sich dann auch vor allem um die Frage: Wer gehört dazu? (Und Abrams machte selbst mit ihren Problemen Punkte: Dass sie von der Ausbildung her noch 200’000 Dollar Schulden hatte, machte sie zum Argument, dass ein Politiker eine Ahnung vom Leben der Armen haben müsse, «die die wirklich harten Entscheidungen treffen müssen».)

Es wurde sensationell knapp. Am Ende gewann, bei einer Rekord­wahl­beteiligung, Kemp mit nur 55’000 Stimmen. Stacey Abrams beendete den Wahl­kampf mit einer vor Wut vibrierenden Rede: «Lasst uns klar sein – das ist keine Ich-gestehe-meine-Niederlage-ein-Rede. Weil das bedeuten würde, dass alles sauber gelaufen ist. Und als Frau von Gewissen kann ich das nicht zugestehen. Aber das Gouverneurs­amt ist nicht im Mindesten so wichtig wie unser gemeinsamer Titel … Wähler! Deshalb geht der Kampf weiter!»

Sie lag zehn Tage flach. Dann gründete sie eine weitere Organisation: Fair Fight. Bis 2020 hatte sie 800’000 neue Wählerinnen registriert. Und reiste mit einer Mappe voller Statistiken allen demokratischen Präsidentschafts­kandidaten hinterher: um sie zu überzeugen, dass Georgia bei der nächsten Wahl kippen könnte.

Dies, weil Atlanta boomte. Ursprünglich nur für Coca-Cola berühmt, hatten sich Autobauer, die Film­industrie und ein grosser Schwarm Firmen dort angesiedelt, für die New York oder San Francisco zu teuer waren. Und mit dem Boom waren Liberale und junge Leute aus dem Norden gekommen, Kreative, gut Erzogene, Farbige, die alle Stadtluft atmen wollten.

In der Tat ist Georgia ein seltsamer Staat: Fährt man quer hindurch, gibt es Atlanta – nachts fantastisch beleuchtet – und Savannah, eine der poetischsten Städte überhaupt. Aber dazwischen fehlt etwas. Man braucht ein paar Tage, bis einem klar wird, was: Es gibt keinen öffentlichen Raum. Alles ist privat, die Wege, die Wälder, die Strassen. Es gibt nur die Parkplätze vor den aus Ziegel­steinen gebauten Malls und vor den Kirchen. Auf Hunderten Kilometern sieht man keinen einzigen kleinen Laden und keine einzige Fabrik.

Und das wuchernde Grün riecht nach Schuld. Über dem Land liegt das Erstickende, der Geruch nach Rache, Verzweiflung und Abstieg, den Sklaven­gesellschaften hinterlassen: Zu lang war die Arbeits­kraft zu billig, als dass jemand etwas hätte aufbauen, entwickeln, erfinden müssen.

Kein Wunder, dass die Leute dort Trump wählen.

Stacey Abrams überzeugte die Biden-Kampagne, Zeit, Ideen und Geld in Georgia zu investieren. Wegen ihrer Statistiken – und weil sie nur auf dem Papier nicht funktionieren. Einer ihrer Lieblings­sätze ist: «Demografie ist nicht Schicksal.» Es braucht auch Energie.

Zwei Jahre nachdem sie die Wahl zur Gouverneurin verloren hatte, wünschten sich viele Republikaner, sie hätte gewonnen. Vielleicht wäre dann das Desaster bei der Präsidentschaft nicht passiert.

Der Wahnsinn …

Nach seiner Niederlage sei Trump, wie der Shakespeare-Kenner Jeffrey Wilson sagte, in die «klassische Akt-V-Phase» eingetreten: «Seine Macht zerfällt, und der Tyrann verschanzt sich in seiner Burg, immer ängstlicher, immer unsicherer beginnt er über sein legitimes Herrschafts­recht zu prahlen und überall Verrat zu wittern.»

Und in der Tat bewies Trump zum ersten Mal fast Grösse – in der Konsequenz seiner Zerstörung. Er zeigte sich kaum mehr in der Öffentlichkeit, hing bis spät in der Nacht im Oval Office und am Telefon, feuerte Salven auf Twitter ab – und entliess mehrere Mitarbeiter.

Nach und nach wurden auch ergebene Vasallen als Verräter ausgesondert: Die prominentesten waren der Justiz­minister Bill Barr und der Fernseh­sender Fox News. Seit neuestem steht sogar sein Vize Mike Pence auf Trumps Abschussliste, er, der ihn vier Jahre so loyal begleitete wie ein Hund.

Im Kampf um den Job als Präsident stellte Trump den Job als Präsident fast völlig ein: keine Termine, keine Interviews, keine Corona-Massnahmen. In den zwei Monaten nach der Wahl stieg die Zahl der Toten von etwas über 200’000 auf jetzt über 350’000. Trumps einsame Reaktion war ein Tweet Anfang Jahr: «Die Zahlen sind übertrieben. Fake News!»

Dafür führte die Trump-Kampagne Dutzende Prozesse – und verlor sie 1:59.

Mit dem Herrscher wurde das Gefolge immer verrückter. Seine Anwälte steigerten sich zu immer neuen Blüten des Irrsinns:

  • Trumps persönlicher Anwalt Rudolph Giuliani hielt eine wilde Rede vor dem Four Seasons Total Landscaping, schwitzte danach bei einer anderen Presse­konferenz schwarzes Haarfärbemittel, erhielt – zum ersten Mal seit Jahren wieder persönlich im Gerichts­saal – von republikanischen Richtern einen Vortrag über Inkompetenz, präsentierte eine komplett betrunkene Kronzeugin an einem republikanischen Hearing, fing sich ohne Maske Covid-19 ein – und ist beinah noch der seriöseste.

  • Seine Mitarbeiterin Sidney Powell verkündete, dass die Wahlmaschinen Millionen von Stimmen von Trump zu Biden verschoben hätten, dass das der Plan des toten Kommunisten Hugo Chávez gewesen sei, dass Kemp und Raffensperger von den Kommunisten gekauft worden seien und kündigte einen Prozess «von biblischen Ausmassen» an – ohne irgend­einen Beweis zu liefern. Sie musste gefeuert werden.

Dies, weil die Anwälte von Pence nicht auf eine Klage des republikanischen Abgeordneten Louis Gohmert eingegangen waren. Diese hätte Pence dazu verpflichten wollen, dass der Vize­präsident am 6. Januar bei der Zählung der Wahl­stimmen das Recht hat, Stimmen abzulehnen. Was geheissen hätte: im Alleingang den Präsidenten zu bestimmen.

Beide, Powell wie Wood, riefen die republikanischen Wähler dazu auf, die Senatswahl aus Protest gegen das betrügerische System zu boykottieren. Worauf das Trump-treue Publikum begeistert schrie: «Zerstört die GOP! Zerstört die GOP!» (Gemeint ist die Grand Old Party der Republikaner.)

… und die Methode hinter dem Wahnsinn

Kurz, der Irrsinn tobte nackt, wie der Teufel ihn geschaffen hatte, durch Gerichts­säle, Strassen und Facebook-Posts.

Wirklich?

Das wahrscheinlich Unheimlichste dazu sagte der Literatur­professor und ehemalige Redneck Jared Yates Sexton, als er mit einer Tasse Kaffee vor seinem Haus den Fall von Michael Flynn besprach.

(Zur Erinnerung: Flynn ist Ex-General. Er war einer der frühen Unterstützer Trumps, später sogar einige Wochen sein Sicherheits­berater – und landete wie fast alle Kader von Trumps erster Wahl­kampagne im Gefängnis: Er hatte das FBI unter Eid über seine Kontakte zu Putins Russland belogen. Der Präsident hat ihn inzwischen wie fast alle andern seines Teams begnadigt.)

Flynn schlug vor, dass der Präsident das Kriegsrecht ausrufen sollte – und die Wahl unter Aufsicht des Militärs wiederholen sollte.

Warum?, fragte sich Sexton.

Nun, nicht deshalb, weil Flynn den Unfug tatsächlich glaubte. Sondern weil der Verschwörungs­markt ein Milliarden­geschäft ist – und ein für den Rest der Welt diskreditierter General im Parallel­universum wieder ein Star ist.

Der Faschismus, so Sexton, ist marketing­getrieben: Die einzelnen, scheinbar irrsinnigen Behauptungen einzelner durchgeknallter Figuren dienen quasi als A/B-Test für die grösseren Player: Kommen sie an, werden sie weiter­entwickelt, wenn nicht, war es nur ein Witz.

Trumps Niederlage hinterlässt Millionen seiner Anhänger am Boden zerstört. Das Wichtigste, was diese Konsumentinnen nun brauchen, ist Hoffnung. Das liefern ihnen Trump, Flynn, Sidney Powell und Co.

In der Tat ist Trumps Nicht­akzeptanz der Niederlage vielleicht das erfolgreichste Geschäftsmodell, das er je aufbaute: Schon jetzt spendeten seine Anhänger mehr als 250 Millionen Dollar – von denen der Löwen­anteil Trump und seiner Familie zur freien Verfügung steht. Und das ohne viel Risiko. Die Spender sehen das als Ehre.

Was läuft, ist also ein Betrug und ein Putsch gleichzeitig – das Marketing treibt den politischen Radikalismus voran, der politische Radikalismus das Marketing.

Kein Wunder, treibt Trump das Spiel immer weiter. Und seine verbündeten Parasiten ebenfalls.

Showdown

Im neuen Jahr ist das Geschäfts­modell eskaliert. Die zwei nächsten Tage haben es in sich:

  • Am 5. Januar die Senats­nachwahl in Georgia.

  • Am 6. Januar die offizielle Zählung der Wahlmänner­stimmen im Kongress.

In Georgia treten zwei Paare gegeneinander an:

  1. Herausforderer Jon Ossoff, ein sehr junger Politstar, gegen den republikanischen Senator David Perdue, den einsamen Rekord­halter für Börsen­transaktionen im Parlament.

  2. Herausforderer Raphael Warnock, Priester der Kirche, in der schon Martin Luther King predigte, gegen Kelly Loeffler, die reichste Frau des Senats, stolz darauf, als einzige Senatorin zu 100 Prozent loyal mit Trump abgestimmt zu haben.

Die bisherigen Höhe­punkte der beiden Rennen waren:

  1. In der ersten Fernseh­debatte von Ossoff gegen Perdue eine vernichtende Attacke: «Vielleicht hätten Sie, Senator Perdue, etwas mehr Aufmerksamkeit auf die Covid-19-Pandemie richten können, wenn Sie nicht mehrere Verfahren wegen Insider­handels am Hals gehabt hätten. Sie sind nicht nur ein Gauner, Senator. Sondern auch ein Gesundheits­risiko für die Leute, die Sie vertreten. Sie sagten, Covid-19 sei nicht schlimmer als die Grippe. Sie sagten, es würde nie viele Fälle geben. All das, während Sie Ihre Aktien und Ihr Portfolio betreuten.» (Danach sagte Perdue alle weiteren geplanten Debatten mit Ossoff ab.)

  2. Der Fernsehspot von Kelly Loeffler, in dem sie sich rühmte, «konservativer als Attila der Hunne» zu sein.

Beide Rennen stehen auf Messers Schneide. Im ersten Wahlgang hatten die Republikaner die Nase etwas vorn. Die Tradition spricht ebenfalls für sie. Allerdings haben die Demokraten bei der Briefwahl noch einmal den Rekord der Präsidentschaftswahl geknackt.

Dazu haben sowohl Loeffler wie Perdue das erste, im Januar hinter verschlossenen Türen gehaltene Senats­briefing über das Coronavirus dazu genutzt, im grossen Stil Aktien abzustossen.

Und niemandem ist klar, was es bedeutet, dass Präsident Trump den Rücktritt des republikanischen Gouverneurs forderte, die Senats­wahl auf Twitter für illegal erklärte und an den Veranstaltungen in Georgia nur von einem sprach: von sich.

Am Tag vor der Wahl stehen die Umfragen einen winzigen Tick in Richtung Demokraten: Beide führen 49 zu 47 Prozent.

Aber das bedeutet noch gar nichts.

Der Bürgerkrieg

Die andere Art, wie Mitch McConnell scheitern könnte, ist die, dass seine Strategie nicht aufgeht, Trumps Verzweiflung kühl auszusitzen.

Dies, weil am 6. Januar eigentlich ein harmloses Ritual stattfindet: Die Wahlmänner aller Staaten geben ihre Stimme ab, der Vizepräsident zählt sie.

Eigentlich ist der Keks gegessen. Die Wähler haben gesprochen. Die Gerichte haben gesprochen. Die Wahl­männer sind delegiert. Es steht 306 zu 232.

Nur haben sich erst wenige, dann immer mehr republikanische Repräsentantenhaus-Abgeordnete dafür ausgesprochen, die Ergebnisse anzufechten. Das wäre nichts Bedeutendes, da mindestens ein Senator mitziehen müsste, bevor es zu einer Debatte, dann einer Abstimmung kommt. (Die völlig sinnlos wäre, weil sowohl Haus wie Senat zustimmen müssten, damit Stimmen nicht gezählt werden.)

Was aber Mitch McConnell mit allen Tricks zu verhindern versuchte.

Weil eine Abstimmung hiesse, dass sich jede einzelne verdammte Republikanerin entscheiden müsste: Stimmt sie für Trump – oder für die Demokratie? Was sich so oder so bei der nächsten Wahl rächen könnte.

Nur eben: Trumps Beharren auf seinem Sieg setzte die republikanischen Senatoren in ein klassisches Gefangenen­dilemma. Solange alle nichts taten, genossen sie den Schutz der Herde. Aber der erste, der sich bewegte, würde den Helden­status der Basis bekommen: Es war Josh Hawley, ein frisch gewählter Senator mit Ohrfeigen­gesicht aus Missouri. Kaum hatte er angekündigt, Einspruch einzulegen, waren elf weitere an Bord.

Seitdem herrscht Krieg in der Fraktion. Wobei das vielleicht noch zu harmlos gesagt ist.

Präsident Trump jedenfalls bemerkte vorsorglich zur Frage der Abtrünnigen: «Die ‹Kapitulations-Versammlung› der Republikanischen Partei wird in Schande im Gedächtnis bleiben, als schwache ‹Wächter› unserer Nation, die willentlich einen Betrug bei den Präsidentschafts­wahlen hinnahmen!»

Und er setzt auf das Volk: Auf einen Marsch für Trump, ebenfalls am 6. Januar: «Das könnte das grösste Ereignis in der Geschichte Washington D. C.s werden. Sei dabei, wenn Geschichte geschrieben wird!»

Kurz, es ist ein Tag, den Trump wie auch seine Feinde genauso historisch sehen. Der abtrünnige Ex-Republikaner Steve Schmidt beschrieb es so:

«Das ist das Ende der Republikanischen Partei. Sie wird am 6. Januar zerstört werden. So wie die Whig-Partei 1854 zerstört wurde – als sie Missouri die Sklaverei gestattete. Sie zerbrach in zwei Lager. Es konnte keinen Kompromiss mehr geben zwischen den Pro- und den Anti-Sklaverei-Whigs. Eine neue Partei entstand: die Republikaner. Die jetzt zerfällt. Denn mit dem 6. Januar beginnt der Bürger­krieg innerhalb der GOP. Die autokratische Fraktion wird die prodemokratische überrollen wie die Wehrmacht die belgische Armee 1940. Die Vorwahlen ’22 werden zum Blutbad werden. Denn der 6. Januar dient als Loyalitäts­test. Die Säuberungen werden folgen. Und hat jemand Zweifel, wie es ausgeht? Kennedy hatte recht: Das Problem, wenn du einen Tiger reitest, ist, nicht in seinem Rachen zu landen. Die vergiftete Frucht von vier Jahren Komplizentum mit Trumps Irrsinn, Illiberalismus und Inkompetenz ist reif zur Ernte. Es wird die Partei zerreissen: Freiheitliche gehen nicht zusammen mit den Sklaven­treibern. Es gibt keine konservative Partei mehr in den USA. Der Faschismus hat Amerika erreicht – und wie einst voraus­gesagt wurde, trägt er Fahne und Kreuz. Diese Bewegung muss bekämpft werden. Es gibt keinen Frieden, keinen Kompromiss, keine Verhandlung mit ihr. Wir müssen uns im Klaren sein, was da entstand und dass in der amerikanischen Politik ein neues Zeitalter anbricht. Wir müssen uns neu ausrichten. Es gibt nun zwei Lager: das amerikanische und das autokratische. Helfe uns Gott, wenn wir diesen Kampf nicht gewinnen.»

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