Pandemie «erst am Anfang», bedrohte Arten- und Medienvielfalt – und Leben auf der Venus?
Woche 38/2020 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Ronja Beck, Dennis Bühler, Oliver Fuchs, Olivia Kühni und Cinzia Venafro, 15.09.2020
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Covid-19: Ein langer Weg, ein neuer Hotspot
Darum geht es: Die Welt steht noch immer «am Anfang» der Pandemie, wir «sind noch nicht einmal im Mittelteil» angekommen. So schätzte diese Woche ein Sondergesandter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die weltweite Lage ein. Besonders in Indien jagen sich die Negativrekorde: Diese Woche wurden innert 24 Stunden beinahe 100’000 neue Positivbefunde gemeldet. Die Weltbank rechnet nun damit, dass es bis zu fünf Jahre dauern wird, bis sich die Weltwirtschaft von der Krise erholt hat.
Warum das wichtig ist: Bald sind die ersten Impfungen da, und die Pandemie ist vorbei – dieser zweifellos tröstliche Gedanke dürfte sich als gefährliche Illusion entpuppen. Selbst wenn sich die aussichtsreichsten Impfstoffkandidaten in den klinischen Studien bewähren, werden sie erst im nächsten Jahr breit verfügbar sein. Anthony Fauci, der einflussreiche US-Immunologe, rechnet unterdessen damit, dass dies für die USA erst im dritten Quartal 2021 realistisch ist (mehr zum Stand der Impfungen und darüber hinaus lesen Sie im neuesten Corona-Erklärtext der Republik). Indien dürfte die USA in einigen Wochen als das weltweit am schwersten betroffene Land ablösen. Seit das Land im Mai seinen Lockdown schrittweise gelockert hat, steigen die Fallzahlen. Die Lage sei nicht unter Kontrolle, heisst es aus dem indischen Gesundheitsministerium, aber es gebe auch gute Nachrichten: «Unsere Sterberate sinkt kontinuierlich.»
Was als Nächstes geschieht: In der nördlichen Hemisphäre beginnt kommende Woche der Herbst – und in vielen Ländern hat das Infektionsgeschehen unterdessen wieder an Fahrt aufgenommen. Mit ersten Resultaten aus klinischen Wirksamkeitsstudien von Impfstoffen rechnen Expertinnen und Branchenvertreter frühestens gegen Ende Oktober.
Um- und Abbau bei der NZZ, Qualität und inhaltliche Vielfalt der Schweizer Medien nimmt weiter ab
Darum geht es: Die 1780 gegründete «Neue Zürcher Zeitung» gilt nicht zuletzt wegen ihrer so ausführlichen wie aufwendigen Wirtschafts- und Auslandsberichterstattung als Qualitätszeitung. Just diese beiden Ressorts legt sie nun mit der «NZZ am Sonntag» zusammen. Verkündet wurde dies gestern bei einer internen Mitarbeiterinformation. Im Zuge der Neustrukturierung wird der langjährige NZZ-Wirtschaftschef Peter Fischer in die neu geschaffene Position des «Chefökonomen» wegbefördert, seine bisherige Rolle übernimmt, wie zuvor von «Inside Paradeplatz» kolportiert, Chanchal Biswas. In den vergangenen Tagen wurden zudem bei beiden Zeitungen erste Redaktorinnen und Redaktoren entlassen, wie die Republik aus mehreren Quellen erfahren hat.
Warum das wichtig ist: Erst am Montag waren die NZZ und die «NZZ am Sonntag» vom Verein Medienqualität Schweiz noch ausgezeichnet worden – als beste Tages- und Onlinezeitung respektive beste Sonntagszeitung des Landes. Allerdings war schon da Kritik laut geworden: «Die Qualität der Sonntagszeitungen und Wochenmagazine, die viele Jahre die Königsgattung im Print-Journalismus darstellte, geht zurück», schrieben die Autoren des alle zwei Jahre erscheinenden Medienqualitätsratings. Sorge bereitet den Wissenschaftlern zudem die schrumpfende Vielfalt: Die inhaltliche Medienkonzentration habe signifikant zugenommen, vor allem wegen der Mantelredaktionen von CH Media und Tamedia; in der Deutschschweiz erscheine inzwischen mehr als jeder fünfte redaktionelle Beitrag in mindestens zwei verschiedenen Medientiteln. «Dieser Verlust an Vielfalt ist für die demokratische Meinungsbildung besorgniserregend», bilanzierten die Autoren. In der Rubrik «Radio- und TV-Sendungen» zeichneten die Forscher das «Echo der Zeit» von SRF aus. Die Republik zählt nicht zu den insgesamt 49 begutachteten Medien.
Was als Nächstes geschieht: Der grosse Personalabbau dürfte bei NZZ und «NZZ am Sonntag» noch bevorstehen. Im Juni jedenfalls hatte die NZZ-Mediengruppe bekannt gegeben, die Kosten unternehmensweit um knapp 10 Prozent (rund 13 Millionen Franken) senken zu wollen. Wie es für die Medienbranche typisch ist, bezeichnete dies die Kommunikationsabteilung als «Strategieschärfung im Zeichen der Transformation». Ende August hatte mit der TX Group auch der grösste Schweizer Medienkonzern ein massives Sparprogramm angekündigt. Hiobsbotschaften kommen auch aus Deutschland: Bei der «Süddeutschen Zeitung» sollen in der Redaktion bis zu 50 Stellen abgebaut werden – das ist ein Zehntel der Belegschaft.
Arabische Staaten normalisieren ihre diplomatischen Beziehungen mit Israel
Darum geht es: Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain haben sich mit Israel auf die vollständige Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen geeinigt. Die Aussenminister der VAE und Bahrains sowie der israelische Ministerpräsident unterzeichneten im Garten des Weissen Hauses in Washington in Anwesenheit des US-Präsidenten entsprechende Abkommen. Das Weisse Haus bezeichnet die Verträge in Anlehnung an den «gemeinsamen Vorfahren» der «arabischen und jüdischen Völker» als «Abraham-Abkommen», Donald Trump nennt sie «Grundlage für umfassenden Frieden in der gesamten Region».
Warum das wichtig ist: Seit Jahrzehnten prägen Spannungen und immer wieder Kriege den Nahen Osten; Israel und mehrere arabische Staaten pflegten bislang keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Die VAE und Bahrain sind nach Ägypten (1979) und Jordanien (1994) zwei weitere Staaten, die diese Beziehungen normalisieren. Die beiden früheren Abkommen kamen ebenfalls unter Vermittlung der USA zustande. Sie waren jedoch offizielle Friedensabkommen nach früheren Kriegshandlungen. Weder die VAE noch Bahrain führten je Krieg gegen Israel; beide Staaten erkannten den Staat jedoch bislang offiziell nicht an. Die neuesten Verträge wecken bei vielen Menschen die Hoffnung auf mehr Stabilität in der Region – möglicherweise bedeuten sie das Gegenteil. Verschiedene Kommentatoren werten die Abkommen nicht als Friedensbotschaft, sondern als Zeichen, dass die sunnitisch dominierten arabischen Staaten – dazu gehört neben den VAE und Bahrain auch Saudiarabien – inzwischen den schiitisch dominierten Iran als wichtigeren Feind ansehen als Israel. Darum ist jetzt vor allem wichtig, wie Saudiarabien reagieren wird: US-Präsident Trump kündigte an, es würden «noch mehr arabische und muslimische Länder» dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate folgen.
Was als Nächstes geschieht: Die Verträge klammern einen der wichtigsten Streitpunkte aus: die Zukunft der palästinensischen Bevölkerung. In der Vergangenheit hatten mehrere arabische Staaten im Rahmen der Arabischen Friedensinitiative Israel eine Normalisierung nur unter der Bedingung angeboten, dass es die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates akzeptiert. Die arabische Nachrichtenseite «al-Jazeera» berichtete denn auch von sofortigen Protesten verschiedener palästinensischer Organisationen und Raketenangriffen als Reaktion auf die Abkommen. Auch die israelische Armee flog bereits wieder Angriffe im Gazastreifen.
Biodiversität – who cares?
Darum geht es: Es ist eine veritable Hiobsbotschaft der Vereinten Nationen: Mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit sind Arten vom Aussterben bedroht. Keines der 20 sogenannten «Aichi-Ziele» zur Erhaltung biologischer Vielfalt auf der Erde wurde gänzlich erreicht.
Warum Sie das wissen müssen: Vor sechs Jahren veröffentlichte die Uno den letzten «Global Biodiversity Outlook». Er fasst die neuesten Daten zur biologischen Vielfalt zusammen. Diese Daten sind Grundlage für politische Entscheidungen und Uno-Konventionen.
Wie es weitergeht: Biodiversität ist ein wichtiger Bestandteil der Agenda 2030 und des Pariser Klimaabkommens. Der Weltbevölkerung ist es nicht gelungen, den Verlust der Arten und Lebensräume zu stoppen. In sechs Jahren wird die Uno erneut präsentieren, inwiefern sich bis dahin ein neuer Trend abzeichnet.
Zum Schluss: Wir haben Alternativen!
Haben Sie in den letzten Tagen die horrenden Bilder von der US-Westküste gesehen? Der Himmel über San Francisco tiefrot von all den Waldbränden. Weiter nördlich brennt die Arktis – wie noch nie, seit es Messungen gibt, vermeldet «Nature». Sie können aufatmen (ausser natürlich, Sie befinden sich gerade an der US-Westküste): Wir haben Ausweichoptionen, sollten wir unseren Planeten ungebremst in die Klima-Apokalypse steuern. Ein internationales Forschungsteam hat auf unserem Nachbarplaneten Venus ein Gas nachgewiesen, das gemeinhin mit Leben in Verbindung gebracht wird. Besser noch: Auf der Venus braucht uns der Klimawandel nicht zu kümmern: Sie hat ihn längst hinter sich! Die Atmosphäre besteht fast komplett aus CO2, in Bodennähe beträgt die Temperatur im Schnitt angenehme 464 Grad Celsius. Falls Ihnen das zu warm ist: Wir könnten auch auf den Mars ausweichen – dort sind die Pläne zur Besiedlung schon weiter fortgeschritten. Und an den roten Himmel gewöhnen wir uns ja gerade.
Was sonst noch wichtig war
Deutschland: In Nordrhein-Westfalen wurden fünf rechtsextreme Chatgruppen aufgedeckt, an denen 29 Polizisten beteiligt gewesen sein sollen. «Ich hatte lange gehofft, das seien Einzelfälle», sagte der Innenminister des Bundeslandes am Mittwoch, das tue er nun nicht mehr. Die Vorgänge seien eine «Schande» und das Ausmass noch nicht absehbar.
Brüssel: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ihre erste Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten. Sie forderte unter anderem eine deutlichere Senkung des CO2-Ausstosses bis 2030 und eine gemeinsame Migrationspolitik.
Griechenland: Noch immer sind etwa 11’000 Flüchtlinge auf Lesbos obdachlos. Erst rund 1200 Menschen hätten das neue Lager bezogen. Viele befürchten, dort wie zuvor im Camp Moria faktisch eingesperrt zu sein.
Schweiz: Die Stadt Zürich hat unter anderem aufgrund von Recherchen der Republik die Krippenbetreiberin Globegarden überprüft. Nun liegt der Bericht vor. Der Vorwurf systematischer Fälschungen von Belegungslisten habe «nicht erhärtet» werden können. Allerdings wurden Vorgaben zu Platzzahl, Betreuungsschlüssel und Personaleinsatz nicht eingehalten.
Belarus: «Ein Freund ist in Schwierigkeiten», eröffnete Präsident Alexander Lukaschenko am Montag ein Treffen mit Russlands Staatschef Wladimir Putin. Ergebnis: 1,5 Milliarden Dollar Staatshilfe an den wankenden Diktator.
Grossbritannien: Das Gesetz, welches internationales Recht bricht – namentlich das Austrittsabkommen mit der EU –, hat im britischen Unterhaus die erste Abstimmungshürde genommen.
Schweiz: Parteispenden in beliebiger Höhe bleiben in der Schweiz anonym. Der Nationalrat hat eine Gesetzesänderung dazu verworfen.
Die Top-Storys
Sie hat sich stets bemüht Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt, die Gesundheitsversorgung ist exzellent – und trotzdem hat uns Sars-CoV-2 auf dem falschen Fuss erwischt. Wie konnte das passieren? Die renommierte Reporterin Karin Bauer hat sich fürs SRF auf Spurensuche begeben. In ihrem Dokumentarfilm zeichnet sie ein System auf, durchkreuzt von mächtigen Einflussnehmern und politischem Kalkül.
Close the gates! Und wenn wir schon bei der Pandemie sind: Die «New York Times» hat sich im Rahmen eines Interaktiv-Stückes angeschaut, wie sich die Covid-19-Ausbrüche in verschiedenen Staaten gestalten und was die grössten Risikofaktoren sind. Und kommt zum (besonders aus europäischer Sicht schmerzhaften) Schluss: Wir müssen unsere Grenzen streng kontrollieren.
«Machen Sie die Beine breit!» Das Wunder der Geburt wird für gewisse Frauen zum Albtraum. Das Basler Onlinemagazin «Bajour» hat mit Frauen gesprochen, die während ihrer Geburt Gewalt erfahren haben – von abschätzigen Sprüchen bis hin zu totaler Vernachlässigung. Ihre Erfahrungsberichte und wieso wir die Art, wie wir mit Geburten umgehen, ganz grundsätzlich überdenken sollten, lesen Sie hier.
Illustration: Till Lauer